Bernd M. Beyer über „Die Saison der Träumer“: „Sehnsucht nach den alten Zeiten“
Bernd M. Beyer erzählt, wie politische und fußballerische Entwicklungen sich verbinden und warum Rückschauen derzeit auf so großes Interesse stoßen.
taz: Herr Beyer, was war für Sie als politisch und sportlich interessierter Mensch das wichtigste Ereignis der Jahre 1971/72?
Bernd M. Beyer: Die Erfolge Willy Brandts. Seine Ostpolitik, das Überstehen des Misstrauensvotums und die breite Unterstützung in der Bevölkerung für seine Reformen.
Vergleichen Sie das doch mit dem Fußball.
Es gibt ja die These vom Gleichklang der Entwicklungen. Ich bin da aber zurückhaltend. Für die These spricht, dass 1971/72 die Nationalelf offensiver und schöner spielte. Und dass es dann den Schwenk zur WM 1974 gab, wo eher Zweckfußball gespielt wurde, entsprechend der politischen Ernüchterung, die nach den Aufbruchjahren der Reformpolitik einsetzte.
Jahrgang 1950, Gründer und langjähriger Lektor des Werkstatt-Verlags. Von ihm ist gerade erschienen: „71/72. Die Saison der Träumer“ (Werkstatt 2021, 346 Seiten, 22 Euro)
Spiegelte sich diese gesellschaftliche Stimmung auch bei den Spielern?
Die jungen Spieler waren sicherlich beeinflusst von der Jugendbewegung, dem kulturellen Umbruch. Das zeigte sich in der Form, dass sie individueller auftraten, selbstbewusster, in gewisser Weise vielleicht auch antiautoritär.
So richtig globalisiert war der Fußball aber noch nicht?
Auch große Vereine wie Bayern München und Borussia Mönchengladbach waren regional verankert. Wichtige Spieler kamen aus der mittleren Umgebung ihrer Vereine.
In Ihrem Buch spielt Reinhard „Stan“ Libuda von Schalke 04 eine wichtige Rolle. Können Sie dessen politische Bedeutung beschreiben?
Libuda nimmt sich zu dieser neuen Fußballergeneration etwas untypisch aus. Er entstammte proletarischen Lebensverhältnissen und hat sich da Zeit seines Lebens am geborgensten gefühlt. Aber zugleich war das sein Problem. Mit den Mechanismen des modernen Profifußballs kam er nicht klar. Es ist menschlich tragisch, auf welche Art er sich in den Bestechungsskandal verstrickte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Und Günter Netzer?
Netzer hat sein Talent, das ja riesig war, erkannt und für sich geschäftlich nutzen können. Er hat sich so ein interessantes Image aufgebaut, und neben seinem Profigehalt hatte er immer noch hohe Nebeneinkünfte. Er führte nebenbei beispielsweise eine Werbeagentur und die berühmte Disco Lovers Lane. Das war damals revolutionär.
Beim Bundesligaskandal 1971 waren es ja oft sogenannte Honoratioren, die plötzlich kriminell handelten. Zeigt das auf eine uneingestandene Art die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs? Dass man in diesem Bereich unbedingt erfolgreich sein musste?
Ich glaube nicht. Es gab bei Vorständen vor allem eine enorm hohe Identifizierung mit dem Verein. Es war ja wirklich eine existenzielle Frage, ob man in der Bundesliga blieb. Wer abgestiegen ist, ist ökonomisch tief gefallen, in eine der fünf Regionalligen, denn eine zweite Bundesliga gab es noch nicht.
Dass Bestechung unter Strafe stand, war aber bekannt?
Ein Unrechtsbewusstsein hat nicht existiert. Solche Schwarzgeldzahlungen haben den Fußball schon immer begleitet. Schon in den zwanziger Jahren war Sepp Herberger gesperrt, 1930 auch Schalke. Und auch die Bundesliga war ja in den sechziger Jahren nicht voll professionalisiert. In diesem Umfeld blühte diese Praxis: um gute Spieler zu halten, zu holen oder eben um Spieler anderer Vereine dazu zu bringen, mal zu verlieren – damit der eigene Klub nicht absteigt.
Gehen wir doch die politische Geschichte des Fußballs entlang der Weltmeisterschaften durch. 1954 gilt ja als Ausdruck des „Wir sind wieder wer“.
Das ist eher eine Interpretation, die sich viel später durchgesetzt hat. Die Politik hielt sich aus der WM damals komplett raus, Konrad Adenauer wäre nie im Traum auf die Idee gekommen, zum Finale nach Bern ins Wankdorfstadion zu fahren.
Und 1974?
Helmut Schmidt hat sich auch nicht für Fußball interessiert. Der Fußball galt damals nicht als politisch bedeutend. Auch die Spieler haben sich nicht als Repräsentanten der Nation gefühlt. Niemand hat bei der Hymne mitgesungen. Und die Fußball-WM im eigenen Land war kein bundesrepublikanisches Projekt.
1990 hat sich das geändert?
Ja, der Teamchef Beckenbauer stand für eine Modernisierung, für eine Öffnung des Fußballs. In den achtziger Jahren hatte der Fußball ja wirklich ein schlechtes Image: Es wurde schlecht gespielt, und in den Stadien tummelten sich Nazis. Aber dann avancierte der Fußball zum nationalen Kulturgut und übernahm auch einen gesellschaftlichen Auftrag, etwa mit der Kampagne „Keine Macht den Drogen“.
Was lässt sich über 2014 sagen?
Das war der Höhepunkt der Entwicklung, die 1990 begonnen hatte. Mit Privatfernsehen, Öffnung gegenüber neuen Zuschauergruppen, aber auch mit systematischerem Training – so wurde der Fußball für viel mehr Menschen attraktiver. Erster Zwischenhöhepunkt war die WM 2006. Da bestand ja das ganze Volk aus einem Heer von Fußballfans. Diese Entwicklung wurde konsequent zur WM 2014 weiter getrieben, die ja unglaublich professionell vorbereitet wurde – bis hin zum eigens gebauten Mannschaftsquartier.
In Ihrem Buch haben Sie sich mit den Parallelen zwischen Politik, Fußball und Kultur beschäftigt. Gibt es eine andere Saison, die dafür auch Stoff böte?
Am ehesten die Saison 91/92, als erstmals zwei ostdeutsche Vereine in die Bundesliga integriert wurden. Das könnte ja ein Lehrstück werden, wie der westdeutsche Fußball mit seinem Geld die ostdeutschen Vereine leer gekauft hat.
Und? Wird es dieses Buch geben?
Nein, von mir wohl nicht. Allerdings bin ich schon sehr überrascht, wie viel Zuspruch mein 71/72-Buch erhält.
Woran könnte das liegen?
Momentan wird ja vieles als Stillstand empfunden, nicht zuletzt durch den Lockdown. Da gibt es natürlich Raum für einen Rückblick, als es in der Gesellschaft und auch im Fußball eine Aufbruchstimmung gab. Und vielleicht können viele den Fußball heute nicht mehr genießen, weil die Kommerzialisierung überdreht ist. Da besinnt man sich gern der „guten alten Zeiten“, als die Spieler noch um die Ecke wohnten und nicht nach zwei Saisons wieder verschwanden.
Ist das nicht ein bisschen zu viel der Romantisiererei?
Die ist in der Tat nur teilweise berechtigt: Man blickt einfach auf ein anderes Stadium der Entwicklung zurück. Auch damals regten sich viele über die „viel zu hohen Gehälter“ der Stars auf. Andererseits ist der Fußball momentan tatsächlich dabei, diverse rote Linien zu überschreiten, siehe die WM 2022 in Katar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind