Berlins Spielplatz der Subkultur: Auf goldenem Boden
Das RAW-Gelände zeugt noch von Berlins wilder nachwendischer Zeit. Jetzt werden die Interessen zwischen Partymeile und Investorentraum neu sortiert.
D as Areal, das in Berlin als RAW-Gelände bekannt ist, kann man nur als außergewöhnlich bezeichnen. Das ehemalige Industriegelände, auf dem bereits 1867 Eisenbahnwaggons gewartet wurden, ist von gewaltiger Größe, steht teilweise unter Denkmalschutz und breitet sich auf einer zusammenhängenden Fläche aus, auf der ungefähr zehn Fußballfelder mit Bundesligamaßen Platz hätten.
Es befindet sich im Stadtteil Friedrichshain, also mitten in der Stadt. Mit einem Auto kann man es trotzdem nicht befahren, das RAW ist eine einzige große Flaniermeile, eine Fußgängerzone für Kulturinteressierte und Ausgehwillige. Alles ist ziemlich ranzig, manche Gebäude sind halb verfallen, überall gibt es Graffiti. Es wirkt ein wenig so, als sei hier das alte, mythenumrankte Neunziger-Jahre-Berlin wie in einer Art Freiluftmuseum erhalten worden.
Doch nun soll alles anders werden. Man hatte sich eigentlich schon daran gewöhnt, dass um die Zukunft des RAW, dem ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks, zwar ständig gerungen wird, am Ende dann aber doch nichts passiert. Aber nun wurde vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg der Beschluss gefasst, das Gelände wirklich massiv umzukrempeln. Ein genauer Bebauungsplan wird bereits ausgearbeitet.
Viele der alten Gebäude werden demnach abgerissen. Stattdessen entstehen Bürokomplexe und an einer Stelle sogar ein Hochhaus.
Ein Abschied von der Subkultur
Aus einem Tummelplatz für die Berliner Subkultur wird ein schickes Quartier. Das verschleiert nicht einmal die Präsentation des Architekturbüros, das den Zuschlag für die Neugestaltung bekommen hat. Ein „kulturelles Wahrzeichen Berlins“, wie es Carsten Joost, Kritiker des massiven Bauvorhabens, nennt, wird dann kaum mehr wiederzuerkennen sein. Bis Ende 2023 soll der genaue Bebauungsplan stehen, kurz darauf werden wahrscheinlich schon die Bagger anrollen.
Ein einzigartiger Ort in Berlin wird ein ganzes Stück weniger einzigartig werden, das lässt sich jetzt schon sagen. Und Berlin wird erneut ein Stück weit normaler und langweiliger werden. Hätte man diese Entwicklung nicht verhindern können, jetzt, wo auch die Berliner Politik erkannt hat, dass sie kulturelle Freiräume erhalten muss, um die Attraktivität der Stadt zu erhalten, die sie ein ganzes Stück weit genau diesen verdankt?
Mit einer vorausschauenden Politik vielleicht. Aber an der hat es in den letzten drei Jahrzehnten bei stadtplanerischen Fragen arg gefehlt. Inzwischen haben alle kapiert, wie falsch es war, zum Beispiel massenhaft Wohnungen aus öffentlicher Hand an die private Immobilienwirtschaft zu verkaufen, genauso wie Grundstücke und die Brachen mitten in der Stadt. Man weiß jetzt: Steigende Mieten, Verdrängung, zunehmende Gentrifizierung, all diese Problemdauerbrenner im heutigen Berlin gehen auf diese Kurzsichtigkeit zurück. Aber kurz nach der Wende sah diese Entwicklung wohl niemand voraus. Oder man stellte sich einfach blind.
Zudem war Berlin auch notorisch klamm. Selbst wenn man gewollt hätte, wäre das Geld nicht da gewesen. Stattdessen war Sparen um fast jeden Preis angesagt. Mit Privatisierungen, die noch in den Nuller Jahren von einem rot-roten Senat vorangetrieben wurden, schuf man sich vermeintlich Probleme vom Hals und füllte gleichzeitig die leeren Kassen. Fand man damals gut, heute ist allen klar, dass das eher Murks war.
Auch mit dem RAW-Areal könnte man jetzt anders umgehen, wenn hier nicht schon vor Jahren immer wieder Fehler begangen worden wären. Dieses hat ja nach der Wiedervereinigung der Deutschen Bahn gehört und war somit in gewisser Weise im Besitz der öffentlichen Hand. Doch die Bahn hatte immer weniger Verwendung für dieses als Werkstattgelände für Züge und legte es schon bald still. Man übertrug es an ein Subunternehmen, das für den Verkauf von Liegenschaften im Besitz der Bahn zuständig war. Der Auftrag lautete: „wertoptimale Vermarktung“.
Damals interessierte das kaum jemanden. In den Neunzigern gab es noch genug an Freiflächen und Brachen in Berlin, das RAW war nur eines unter vielen Grundstücken ohne genaue Verwendung, die es damals gab. Niemand blickte in eine Glaskugel, in der zu erkennen gewesen wäre, dass aus diesem heruntergekommenen Stück Land einmal ein feuchter Investorentraum werden wird.
Der Freiraum der Brachen
Interessant wurde es erst nach und nach. Leerstehende Gebäude und Brachen im Ostteil der Stadt wurden nach der Wende im großen Stil von der Subkultur übernommen. Überall gab es temporäre Clubs und Bars. Zwischennutzungen wurden sogar gefördert, damit sich jemand um die Liegenschaften kümmerte, bis man genauer wusste, was mit diesen weiter passieren sollte.
Auch auf dem RAW-Gelände zogen die Zwischennutzer ein, unterstützt vom Bezirk, gründeten Clubs und Bars, richteten Ateliers ein und schlossen sich zu einem Verein zusammen. Nach und nach kamen eine Skate-Halle hinzu, ein Kletterturm und ein Kinderzirkus.
Die Zwischennutzer werteten das Gelände auf, wollten sich aber dann auch nicht mehr einfach so wegprivatisieren lassen. Mehrfach versuchten sie deshalb, einzelne Gebäude der Bahntochter abzukaufen. Doch die zeigte kein Interesse. Und die Politik, die in eine Vermittlerrolle hätte schlüpfen können, auch nicht.
2007 wird das Gelände dann an die private Immobilienfirma R.E.D. Berlin verkauft. Für die aus heutiger Sicht grotesk lächerliche Summe von 4 Millionen Euro. Die R.E.D. wollte dort im großen Stil Wohnungen bauen, doch ihre Pläne wurden abgelehnt. Wohnungsmangel war zu der Zeit noch nicht ein ganz so großes Thema in Berlin wie heute. Außerdem wollte man ausdrücklich den kulturellen Charakter des Ortes bewahren. Carsten Joost sagt: „R.E.D. Berlin wurde vom Bezirk kaltgestellt.“ 2015 wurde das Areal dann einfach mit ordentlichem Spekulationsgewinn weiterverscherbelt. Drei verschiedene Immobilienfirmen teilen es sich seitdem auf. Den weitaus größten Teil mit mehr als 50.000 Quadratmetern besitzt das Göttinger Unternehmen Kurth Immobilien.
Immer wieder weiter
Gemäß den Plänen für den Umbau des RAW-Geländes werden auch ein paar Clubs ihren Standort verlassen müssen: das Urban Spree, der Suicide Club und das Astra. Letzterer wird innerhalb des Geländes verpflanzt und in einen Neubau in der Nachbarschaft einziehen. Die Zukunft der beiden anderen Läden ist noch ungewiss. Mit Umzügen aber kennt sich zumindest der Suicide Club bereits aus, er ist schon mehrfach umgezogen, bevor er auf dem RAW-Gelände landete.
Zwischennutzer
Die Liste an Clubs, die nach der Wende, in den neunziger und frühen nuller Jahren, in Berlin irgendwohin als Zwischennutzer zogen und nach ein paar Jahren schon wieder schließen oder umziehen mussten, ist lang. Läden wie dem Bunker oder dem E-Werk wird auch heute noch nachgeweint. Und der Tresor, einst der bekannteste Club der Stadt, war an seinem Ursprungsort in der Nähe des Potsdamer Platzes einfach ein wilderer Laden als nach seinem erzwungenen Umzug ins Kraftwerk Mitte. Den Eindruck vermittelt jedenfalls eine Ausstellung zum 30-jährigen Jubiläum des Tresors, die gerade dort zu sehen ist. Und die legendäre Tresortür des Tresors ist als Teil der Stadtgeschichte im Humboldt Forum ausgestellt.
Neue Refugien
Umzüge von Clubs müssen aber nicht zwangsläufig am eigenen Mythos nagen. Das Ostgut war einmal ein sehr angesagter Club in Berlin. Dann musste er schließen, und man fand ums Eck eine neue Location. Aus dem Ostgut wurde dort das Berghain, und damit wäre bereits alles gesagt. So leicht mit den Umzügen ist es mittlerweile aber nicht mehr in Berlin. In den innerstädtischen Szenebezirken ist der Platz eng geworden. Richtung Stadtrand aber finden sich weiter Brachen und leer stehende Industriebauten. Es gibt auch schon Planungen, weit draußen im stillgelegten Flughafen Tegel eine Art Clubmeile zu eröffnen. Vielleicht wird das am Ende ein Refugium für aus der Innenstadt verdrängte Clubs.
Verschiedene Akteure wollten damals den Verkauf an die nächsten Investoren verhindern und versuchten, den Bezirk davon zu überzeugen, selbst zu kaufen. Man hätte dafür das Areal zu einem städtebaulichen Erhaltungsgebiet erklären müssen, um ein Vorkaufsrecht zu bekommen, das wäre auch damals schon möglich gewesen. Aber die Politik blieb untätig. Kurth zahlte für seinen Anteil am RAW-Gelände um die 25 Millionen Euro. Sieben Jahre später ist er ungefähr das Zehnfache wert.
Es gab also schon die Möglichkeiten für den Bezirk, die stadtplanerische Hohheit über das RAW-Gelände zu behalten. Aber sie wurden verpasst.
Vielleicht meinte man auch nur, dass weiterhin Investor auf Investor folgen werde, ohne wirklich zu bauen, und niemand das RAW-Gelände aus seinem Dornröschenschlaf wecken müsse, solange mit diesem einfach weiter spekuliert wird.
Aber die neuen Besitzer machten deutlich: wir würden gerne bleiben und etwas verändern. Und es kam auch eine Zeit, in der das RAW-Gelände als Hotspot für Kriminalität ins Gerede kam. An jeder Ecke standen Dealer, es gab einen Mord und obendrein beschwerten sich Anwohner über den Krach der Partytouristen. So wuchs beim Bezirk das Interesse, das Treiben auf dem Areal neu zu strukturieren, den Problemort zu befrieden. Weniger Partys auf diesem, sondern Spaß für die ganze Familie, das predigen Bezirk und Investor inzwischen unisono.
Gemeinsam am runden Tisch
Man setzte sich also gemeinsam an einen runden Tisch. Investor, Bezirk, Akteure auf dem RAW-Gelände und Vertreter der Anwohnerschaft. Ein aufwendiges Werkstattverfahren wurde initiiert, die Wünsche von allen Seiten entgegengenommen, und dann wurde mehr als fünf Jahre lang verhandelt.
Die Pole-Position bei den Verhandlungen sicherte sich Kurth Immobilien. Man hatte nichts zu verlieren. Würde man nicht zum Zuge kommen: einfach das Gelände mit Gewinn weiterverkaufen. Oder man würde massiv die Mieten erhöhen, beim Kinderzirkus und all den armen Künstlern mit ihren Ateliers, womit auch mehrfach gedroht wurde. Das aber hätte die massive Verdrängung dieser soziokulturellen Einrichtungen zur Folge, die sich in den letzten Jahren vornehmlich auf dem Kurth-Teil etabliert haben. Und das wollte der Bezirk ja ausdrücklich verhindern.
Nun soll Kurth bauen dürfen, um die Soziokultur zu erhalten, das ist der beschlossene Deal. Mehrere Clubs, etwa das Urban Spree, sollen dafür abgerissen und deren Gelände neu bebaut werden. Dort, wo derzeit noch der Technoladen Suicide Club residiert, soll ein Hochhaus hingestellt werden.
Im Gegenzug bekommen die soziokulturellen Einrichtungen Mietverträge zu besten Konditionen, die 30 Jahre lang gelten sollen. Mehr geht einfach nicht, das machte der Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg Florian Schmidt auf diversen öffentlichen Informationsveranstaltungen immer wieder klar.
Carsten Joost sieht das ganz anders. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem RAW. Beim Treffen mit ihm hat er eine riesige Mappe RAW-Geschichte mit dabei. Darin befinden sich Pläne des RAW-Geländes, die bis ins Jahr 1867 zurückgehen, Entwürfe für Bebauungen von der R.E.D. Berlin und alte Fotos, die zeigen, wie vergleichsweise gemütlich es vor ein paar Jahren hier noch zuging. Man merkt, dass sich hier wirklich einer mit der Sache beschäftigt hat.
Joost hat sich regelrecht aufgerieben in den letzten Jahren in seiner Funktion als Chefkritiker der RAW-Bebauungspläne. Nicht wenige Mitglieder der von ihm mitgegründeten Initiative RAW Kulturensemble haben sich inzwischen resigniert verabschiedet. Sie fühlten sich nie wirklich gehört bei den Verhandlungen mit Kurth Immobilien. Und diejenigen, bei denen Joost dachte, er setze sich auch für ihre Belange ein, reden nicht mehr mit ihm. Die soziokulturellen Akteure auf dem Gelände haben lange miteinander gerungen, ob sie den Zukunftsplänen für das RAW-Gelände zustimmen sollen. Nicht jedem war wohl dabei, Faustpfand in den Händen des Investors zu sein. Inzwischen sagen sie geschlossen Ja zu dem, was Joost einen unwürdigen „Kuhhandel“ nennt.
Die Soziokultur will sich so selbst retten, auch wenn ungewiss bleibt, welche Rolle sie überhaupt noch in einem völlig umgestalteten Quartier haben wird. Und sie will endlich die Sicherheit, die der in ihren Augen ewige Querulant Joost bedroht. Zwei Anfragen an unterschiedliche Akteure der Soziokultur seitens der taz wurden dementsprechend beide Male gleich beantwortet: Nach Rücksprache wurde beschlossen, sich nicht mehr weiter zu der Sache äußern zu wollen.
Joost hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass doch noch alles platzt. Vielleicht könnte ein Bürgerbegehren etwas bewirken, glaubt er. Aber so richtig zuversichtlich wirkt er nicht. Die Initiative hat nach dem Mitgliederschwund an Kraft verloren. Und diejenigen, die von der Neugestaltung des RAW-Areals am stärksten betroffen sind, halten die Füße still, um ihre eigene Haut zu retten.
Erinnerung an „Mediaspree versenken!“
Aber wenigstens kennt sich Joost mit Niederlagen bereits aus. Vor 15 Jahren war er Mitinitiator von „Mediaspree versenken!“, einer Initiative, die für einigen Wirbel in Berlin sorgte. Man richtete sich gegen die Bebauung des Spreeufers in Friedrichshain, das nur ein paar Meter vom RAW entfernt ist. Die Privatisierung des stillgelegten Osthafens wollte man verhindern und Investoren davon abhalten, rund um das Ufer angesiedelte Clubs zu verdrängen und alles mit Bürokomplexen und Luxuswohnungen zuzupflastern.
Genützt hat es wenig. Und es wurde alles sogar noch schlimmer als gedacht. Der unfassbar gesichtslose Mercedes-Benz-Platz wurde hier auf einem Gelände errichtet, das auch einmal der Bahn gehörte. Gleich ums Eck und gegenüber vom RAW-Areal wird gerade ein riesiges Hochhaus gebaut, der Amazon-Tower. Und die ganze Gegend bis hin zum Ostkreuz soll mit noch viel mehr Bürogebäuden zugestellt werden.
Auch das Kulturzentrum Zukunft am Ostkreuz, wie das RAW einer der letzten wirklich ungeleckten Orte in Berlin, bei denen man durchaus denken könnte, dass die Mauer eben erst gefallen sei, soll deswegen schon bald verschwinden. Man kann hier überall der Gentrifizierung der Stadt in Echtzeit beim Wachsen zusehen.
Und die Politik schaut mit und meint, nicht mehr viel machen zu können. Höchstens noch an die Investoren appellieren.
Die Berliner Clubcommission, der Lobbyverband der städtischen Clubs, kann sich deswegen schon mal darauf vorbereiten, ein paar der Läden, die sich auf dem RAW-Gelände befinden, in ihre neue App aufzunehmen, die verschwundene Clubs in Berlin dokumentiert. Und sich überlegen, ob sie nicht eine Idee aufgreifen sollte, die von Loveparade-Erfinder Dr. Motte stammt. Der möchte die Berliner Clubkultur als immaterielles Weltkulturerbe der Unesco schützen lassen.
Eine Spinnerei? Vielleicht, aber dann eine, die zumindest in der Berliner Technoszene immer lauter diskutiert wird.
Und wäre das RAW-Gelände bereits Weltkulturerbe, dann würde es nun mal auch niemand in dem jetzt angestrebten Maße neu bebauen dürfen.
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