Berliner Wochenkommentar I: Gericht korrigiert Schieflage
Die Urteile im Prozess gegen junge Geflüchtete, die neben einem schlafenden Obdachlosen Feuer entfacht hatten, finden manche zu mild – zu Unrecht.
Zwei Jahre und neun Monate Haft lautet das Urteil für den Hauptangeklagten. Am 25. Dezember hatte der 21-jährige Nour N. – begleitet von fünf weiteren jungen Männern – im U-Bahnhof Schönleinstraße ein brennendes Taschentuch neben einen schlafenden Obdachlosen gelegt. Möglicherweise blieb der Mann nur deshalb unverletzt, weil ihn Fahrgäste kurz danach weckten und das Feuer löschten.
Nach wochenlanger Verhandlung erging am Dienstag das Urteil. Die fünf Mitangeklagten wurden zu Bewährungsstrafen beziehungsweise Arrest verurteilt. Viel zu milde, finden die Boulevardzeitungen. Doch dem ist mitnichten so. Die 13. Jugendstrafkammer ließ keinen Zweifel daran, dass die Tat menschenverachtend ist. Dass Obdachlose zu den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft gehören, gebe niemandem das Recht, sich an ihnen abzureagieren, betonte die Vorsitzende Richterin.
Der Staatsanwalt hatte den Angeklagten einen Tötungsvorsatz unterstellt und auf versuchten Mord plädiert. Das Gericht indes ging von versuchter gefährlicher Körperverletzung aus. Korrigiert wurde damit eine Schieflage, in der sich das Verfahren von Anfang an befand. Die ermittelnde 4. Mordkommission war nach der Tat mit der Nachricht an die Öffentlichkeit gegangen, der Obdachlose sei „angezündet worden“. Die Presse griff das begierig auf – und das an Weihnachten und dann noch von jungen Flüchtlingen aus Syrien …
In Wirklichkeit war dem Schlafenden kein Härchen versengt worden. Spätestens zu Prozessbeginn konnte man das wissen. Aber selbst seriösere Medien hielten bis zum Urteil am Terminus „angezündet“ fest. Gleichzeitig wurden utopische Straferwartungen formuliert. Zündeln könnte man solche Berichterstattung auch nennen.
Wie das ankommt, zeigt eine E-Mail, die einen der Verteidiger kurz vor dem Urteil erreichte: „Ihr Mandant gehört an Syrien ausgeliefert, egal ob ihm dort die Todesstrafe droht“, schrieb darin ein Bürger: „Für solch ein Arschloch muss ich auch noch Steuern zahlen.“
Dem Gericht ist kein Vorwurf zu machen. Auch die Verteidiger lobten in ihren Plädoyers die unvoreingenommene Verfahrensführung – was man über die Mordkommission nicht sagen kann. Selten habe er so viel Belastungseifer erlebt, brachte es ein Verteidiger auf den Punkt. Keiner finde gut, was im U-Bahnhof gelaufen sei, „aber wir sind hier nicht in der Kirche, sondern im Strafgericht“. Besser kann man es nicht sagen.
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