Berliner „Weltrestaurant“ muss schließen: Herr Lehmann sitzt hier nicht mehr
Das Kreuzberger „Weltrestaurant“ war Romanvorlage für Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ und Treffpunkt der Boheme. Jetzt muss der Pächter gehen.
Diese Szenen aus Sven Regeners später von Leander Haußmann verfilmten Debütroman „Herr Lehmann“ dürften den meisten Lesern im Gedächtnis geblieben sein. Spätestens seit der Veröffentlichung des Buchs hat das Restaurant, in dem der Protagonist später die Köchin Katrin kennenlernt und sich in sie verguckt, einen festen Platz in den Reiseführern Berlins. Einmal den berühmten Schweinebraten und ein Foto bitte! Auch wenn der Großteil des amüsanten Streifens gar nicht hier gedreht wurde. Doch das „Weltrestaurant“ ist weit mehr als der Schweinebraten, das Buch und der Film. Oder besser gesagt: war weit mehr. Denn nun endet der Mietvertrag des Restaurants nach 25 Jahren, und die Zukunft scheint ungewiss.
Fünfundzwanzig Jahre vorher. Ich bin neun Jahre alt. Die Markthalle ist weit entfernt vom heutigen Streetfood-Markt oder den Instagram-Posts aufgeregter Blogger. In der Scheibe der Videothek hängen Plakate von Filmen, die ich auf unbestimmte Zeit nicht sehen werden darf. Es gibt einen Griechen, den Bioladen, die Thoben Bäckerei, den Fischverkäufer, den Lebensmittel-Heinrich, Inge mit ihrer Kaffeebar, den Eisen-Harry und einige weitere Geschäfte, über deren Sinn und Zweck man rätseln darf.
Da die Halle als Genossenschaft funktioniert, sind schlechte Verkaufstage leichter zu verkraften als an anderen Orten, die Mieten sind niedrig. Es herrscht Gemütlichkeit. Wenn ich mich auf der Einkaufstour mit meiner Mutter gut benehme, gibt es einen Pfannkuchen mit Zimt und Zucker als Belohnung. Man ging in die Markthalle, weil man einkaufen wollte oder musste, so einfach war das.
Zwar bin ich niemand, der in Vergangenheit hängt. Die beste Zeit ist immer jetzt, dessen bin ich mir sicher. Und wenn nicht, dann kommt sie wahrscheinlich morgen. Dass mit dem „Weltrestaurant“ der letzte Bestandteil der „alten“ Markthalle verschwindet, erfüllt mich dennoch mit Wehmut.
Aus der Frühzeit: Die Besitzer erzählen
Im Hier und Jetzt stehe ich vor einer monströsen Mehrzweckhalle in der Köpenicker Straße. Dimitri Hegemann und Regina Baer erwarten mich. Gemeinsam haben sie legendäre Läden wie den „Tresor“ gegründet, das Lokal zum „Schwarzenraben“ betrieben und eben auch das „Weltrestaurant“ eröffnet. Die wilden 90er, Loveparade, die goldenen Bankschließfächer des Tresor Clubs im Blitzlicht, der DJ Sven Väth. Man kennt diese Anekdoten. Die Geschichte hinter dem Lokal mit den enorm hohen Decken und dem abstrus großen Bild von den zwei düsteren Wächtern hingegen ist nicht so bekannt. „Die Idee war, etwas Zeit- und Trendloses zu schaffen. Und das mit schönen Materialien wie Holz und Eisen darzustellen. Dafür keine Musik, aber jeder Menge Presse“, beginnt Regina Baer. „Wir hatten ja gerade mit dem Club einen Trend gesetzt. Ziel war es also, etwas Gegenteiliges aufzubauen.“ Dimitri Hegemann holt ein Fotoalbum heraus und legt ein paar Schnappschüsse auf den Tisch. Er scheint sich an der Erinnerung zu erfreuen. Es sind Bilder einer leicht verwahrlosten Spelunke mit Hanuta-Fußballbildchen hinterm Tresen und mehr als fragwürdigen Gerätschaften. Der Betreiber war kurz zuvor verstorben. Bevor die Techno-Visionäre kamen, tranken hier die Vergessenen und Verlassenen. Und auch damals hat eventuell jemand wehmütig auf seine alte Kneipe geschaut und sich gefragt, wer da jetzt wohl reinkommt. Der Lauf der Dinge.
„Hier gab es fast nichts. Nicht mal ’nen Kühlraum“ sagt Regina Baer und lacht bei dem Gedanken daran, wie das Bier dort wohl geschmeckt hat. Hegemann und Baer rissen die Zwischendecke raus, ließen sich von Eisen-Harry den wunderschönen massiven Tresen bauen und entschieden sich dafür, deutsche Küche anzubieten. Da der Tresor-Club seine DJs stets mit großem Gefolge von bis zu 30 Personen zum Essen einlud, war es eine folgerichtige Entscheidung, ein eigenes Lokal zu eröffnen. „Den anderen Läden wurde das irgendwann zu viel mit uns“ schmunzelt Hegemann. Der Name „Weltrestaurant“ ist übrigens der Geisteshaltung und nicht etwa einer internationalen Küche zu verdanken. Christiane Rösinger von den Lassie Singers fiel er bei einem gemeinsamen Abend ein.
Im Gegensatz zu Herrn Lehmann empfand Herr Hegemann die Frühstücksphase stets als die schönste Zeit des Tages. Er favorisierte das leider nie besonders beliebte „Künstlerfrühstück“: eine filterlose Zigarette, schwarzer Kaffee und eine Tageszeitung. So in etwa hatten sie sich den Laden vorgestellt: Eine Mischung aus armen Kreativen und der Boheme. Ganz aufgegangen ist sein Traum sicherlich nicht, auch wenn das Publikum viele Jahre aus Menschen mit durchaus interessanten Biografien bestand. Heiner Müller saß hier oft, Edelpunks kamen vorbei, gestrandete Abenteurer holten sich eine Stärkung ab, bevor es wieder ins Nachtleben ging. Hegemann gab seine Anteile nach zwölf wilden Jahren schließlich an Regina Baer ab, und ein neuer Betreiber wurde engagiert. Der sorgte in den Folgejahren für ein gutes Schnitzel und bezahlbare Preise.
Stalingrad und ein Lokal aus Kinderaugen
Wenn ich als Kind in das „Weltrestaurant“ kam, dann hieß es oft warten. Die Erwachsenen trafen sich hier zum Reden, Trinken, Rauchen. Ich hoffte meist, dass irgendein wunderlicher Kauz mich unterhielt. Was nicht selten vorkam. Aus unerfindlichen Gründen hat sich ein Mann in mein Gedächtnis eingebrannt, der mir zeigte, wie man mit einer Hand ein Streichholz aus der Schachtel nehmen und anzünden kann. „Falls man in Stalingrad einen Arm verloren hat“, sagte er, und ich nickte, als verstünde ich, was er meint. Bis heute beherrsche ich den Trick nicht, war aber auch nie in Stalingrad. Jede Medaille hat eben zwei Seiten.
Meine Mutter und ich wohnten damals um die Ecke, in einer Wohngemeinschaft mit dem Autor Wiglaf Droste, der wiederum mit Sven Regener befreundet war und ebenfalls häufig die Markthalle frequentierte. In meinem Zimmer hing, ordentlich an einem Kleiderbügel drapiert, ein T-Shirt von Regeners Band Element of Crime. „Für Juri“ stand da drauf, samt Autogrammen der ganzen Kapelle. Darauf war ich merkwürdig stolz, stolzer noch als auf die Autogrammkarte von Pamela Anderson. Dass Regener die Markthalle als einen der Schauplätze für sein Buch wählte, war kein Zufall. Nicht nur, dass er hier Gast war, tatsächlich verguckte er sich damals ebenfalls in eine Angestellte, wenn auch nicht die Köchin. Ich verguckte mich lediglich in die Räumlichkeiten. Wenn sich keiner der Gäste meiner erbarmte, starrte ich das riesige Gemälde an und fragte mich, wie es möglich ist, ein derart großes Bild zu malen.
„Das Bild ist von David Boysen“, klärt Dimitri Hegemann mich über 25 Jahre später auf. „Der hat die Leinwand damals hier reingetragen und das Bild über Nacht vor Ort beendet. Als wir morgens aufschlossen, lag er in seinem eigenen Gemälde mit einer leeren Whiskeyflasche.“ Regina Baer erinnert sich an die angerührte Wachsfarbe in unzähligen Kochtöpfen. Romantische bis groteske Anekdoten dieser Art gibt es so einige. Im Keller etwa eröffneten Hegemann und Baer den Privatclub, wo hauptsächlich Acid-Jazz lief. „Der notwendige Fluchtweg war die Lieferluke für die Bierfässer.“ Ein perfektes Provisorium, so wie der ganze Bezirk kurz nach dem Mauerfall. Probleme gab es einige, aber Lösungen mindestens genauso viele. Als zwei Angestellte darüber klagten, dass sie in den Büroräumen des Labels Tresor Records über dem Speiseraum nicht atmen könnten, wusste eine Freundin ebenfalls Rat: „Ihr habt einen Geist.“ Gott sei Dank war ihr Freund ein Schamane und konnte sich telefonisch um den Spuk kümmern. Der nach einigen Stunden der Austreibung von ihr beschriebene Geist hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem vom später befragten Hausmeister spezifizierten Ex-Mieter. Auch einen Brand überlebte das Restaurant, die neuen Dielen am Ende des Tresens zeugen noch immer davon. Irgendwann übergab Regina Baer den Laden dann an Rainer Mennig, der ihn zusammen mit ihr weiterführte. So verstrichen die Jahre. Und nun ist auch dieses Kapitel vorbei.
Regina Baer über alte Zeiten
Es riecht gewaltig nach Immobilienspekulation
Nach über 300 Monaten hätten die Betreiber des inzwischen zur „Markthalle Neun“ umbenannten Gebäudes laut Mennig und Baer keine ernsthafte Bereitschaft gezeigt, den Mietvertrag zu verlängern. Knackpunkt soll das Verkaufsrecht des Mietvertrags sein, obwohl der „Markthalle Neun“-Fraktion immer ein Vorkaufsrecht eingeräumt wurde. Die Sache ist kompliziert. Der ursprüngliche Vertrag wurde nämlich mit einer Genossenschaft und Senatstochter geschlossen. Diese hat sich aufgelöst und an die „Markthalle Neun“ verkauft. Das „Weltrestaurant“ wurde somit sozusagen verschenkt – denn der Genossenschaftsvertrag ist nicht für Immobilienspekulation gemacht. Und es riecht gewaltig nach Immobilienspekulation in der neuen Markthalle.
Die neuen Vermieter sehen das natürlich anders. Nach ihren Angaben seien faire Angebote gemacht worden. Ein offener Brief wurde an die Tür gehängt, indem sich die Betreiber rechtfertigen. Auf Anfrage erklärt einer der neuen Betreiber, die offenen Fragen seien im Prinzip in ihrem Brief beantwortet worden. Dort heißt es unter anderem, die „Markthalle ist Heimat und Impulsgeber für eine ganze Generation von neuen Handwerksbetrieben“. Es sei „eine Revolution“, die hier stattfinde. Das Restaurant werde weitergeführt mit dem Ziel: „ein faires Preisniveau und ein für in der Nachbarschaft lebende und arbeitende Menschen leistbares Menü“. Eigentlich bleibe doch alles beim Alten oder würde sogar besser.
Die Vermieter über neue Zeiten
Gespräche mit den Beteiligten erwecken jedoch den Eindruck, dass es sich dabei um Nebelbomben handelt. „Was die sagen und was sie tun, sind zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe“, sagt Regina Baer. Die geplante Mieterhöhung von circa 45 Prozent ist nur eines der vielen Indizien dafür. Die Pläne für die Räumlichkeiten sind längst geschmiedet, man möchte nur nicht als Gentrifizierungsmotor wahrgenommen werden, selbst wenn man das ganz offensichtlich ist.
Die sich die Markthalle verändert hat
Keiner der alten Betreiber hat ein gesteigertes Interesse daran, jetzt nachzutreten, aber die Art und Weise, wie die Institution „Weltrestaurant“ nun ad acta gelegt werden soll, erscheint vielen respektlos. Kritikpunkte gibt es genug: Nach einer Bürgerversammlung, die sich gewünscht hatte, dass die Parteien, begleitet durch einen Mediator, erneut verhandeln, kam es zu erneuten Gesprächsversuchen. Regina Baer sagt, der erste Satz, der dort gesprochen wurde, war ein klares Nein zum erklärten Ziel, einen neuen Vertrag zu gestalten. Noch nicht einmal der Wunsch, den Vertrag bis Ende des Jahres laufen zu lassen, um das 25-jährige Jubiläum zu feiern, sei berücksichtigt worden.
Man muss keiner der Beteiligten sein, um zu verstehen, dass die neuen Betreiber aus der Halle eine Event-Veranstaltung machen möchten. Ein Besuch reicht. Notwendigkeiten des täglichen Bedarfs sind eher Mangelware, lediglich der Aldi hat moderate Preise. Ansonsten dominieren überteuerte Händler, viele von ihnen selbst am Existenzminimum, die Standmieten sind horrend. Donnerstag und Sonntag parken Touri-Busse vor der Tür. Einmal Kreuzberg zum Mitnehmen bitte.
Ich erreiche den aktuellen „Weltrestaurant“-Geschäftsführer Rainer Mennig in Kuba, ein Kurzurlaub bei seiner Familie. Die Leitung rauscht, er ist kaum zu verstehen. Eins aber wird klar: Reibungslos läuft die Abwicklung des Restaurants nicht ab. Mennig, der früher bisweilen selbst in der Küche stand und sich nun überlegt, wie es nach der Schließung weitergehen soll, spricht davon, dass Existenzen auf dem Spiel stünden. Für ihn, für die Mitarbeiter. Einige von ihnen arbeiteten schon seit über 15 Jahren im „Weltrestaurant“. Er wollte stets weitermachen.
Gewohnt ist man derlei Entwicklungen natürlich längst. Die Sackgassen-Mentalität Kreuzbergs, das durch die Mauer mit dem Rücken zur Wand stand, ist längst Geschichte. Der ehemalige Randbezirk ist jetzt Innenstadt, leer stehende Häuser wurden zu heiß begehrten Objekten. Der Lauf der Dinge, na klar. Dass die Stadt Berlin ein Juwel wie die Markthalle damals verkaufte, weil man nicht erkannte, was man da in den Händen hält und sich die Renovierung sparen wollte, dürfte auch niemanden überraschen. Der Senat veräußert seit gefühlter Ewigkeit Immobilien unter Wert mit der Auflage für Nutzungskonzepte. Eine Genossenschaft, die kleinen Händlern und Produzenten eine Basis in Berlin geben könnte, wurde trotz Vorschlag diverser Beteiligter nie in Betracht gezogen.
Und so löst sich der Bezirk mit der alten Markthalle Stück für Stück auf. Institutionen wie das „Weltrestaurant“, das legendäre Eiszeit-Kino und weitere Anziehungspunkte werden bald verschwunden sein. Viele Betreiber haben keine Ressourcen mehr, um sich die anstrengenden und kostenaufwendigen Rechtsstreitigkeiten mit Investoren leisten zu können. Die Legende um die Markthalle ist nur eine von vielen, die leichtsinnig verschenkt wurde. Dimitri Hegemann wünscht sich, dass die neuen Besitzer erkennen, was für ein Erbe ihnen dort hinterlassen wird und man sich an das erinnern kann, was einst dort war. Er kennt Fälle wie diesen. „Ich bin das gewohnt. Im ehemaligen ‚Schwarzenraben‘ ist heute ein Jeansladen, da gibt es jetzt Jeans für 400 Euro.“ So sei das Geschäft eben. Aber der Laden mit den schweren Vorhängen und dem riesigen Bild, das jetzt versteigert werden soll, wird trotzdem fehlen.
Das letzte Glas Wasser
Ich betrete den Laden, vielleicht ein letztes Mal, und bestelle ein Wasser. Bisher wirkt alles wie immer. Bald schon wird hier ein neuer Wind wehen. Rührseligkeit hin oder her, ich bin nicht bereit, mich einfach damit abzufinden, nur um einem angeblichen Fortschritt nicht im Weg zu stehen oder als Nostalgiker veräppelt zu werden. Dafür bin ich noch viel zu jung. Auch fünfundzwanzig Jahre nachdem ich zum ersten Mal das Gemälde „Die Wächter“ am Ende des Raums erblickte und erschrocken zurückwich. Wenn schon niemand außer den aktuellen Betreibern für den Erhalt kämpft, dann doch bitte wenigstens etwas Wehmut. Das wird ja wohl gestattet sein.
Sven Regeners Roman endet mit den Worten: „Ich gehe erst einmal los. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.“ Ein Anfang ist auch immer ein Ende und anders herum. Das ist der schwache Trost, der bleibt.
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