Berliner Wahl und die Sonnenallee: Zurück auf Los
Am Sonntag steigt die erste Wiederholungswahl der Republik. Wer diese Stadt verstehen will, sollte erst versuchen, die Sonnenallee zu verstehen.
Die Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am Sonntag findet deshalb statt, weil das Chaos in den Wahllokalen im Herbst 2021 so groß war, dass hinterher niemand mehr durchblickte: Sitzen da jetzt tatsächlich die richtigen Leute im Parlament? Noch mal von vorne, zurück auf Los, sagte deshalb das Landesverfassungsgericht im Herbst 2022.
Berlin wählt. Schon wieder. Die vergangene Wahl war ungültig. Niemand wundert sich darüber. Berlin gilt als kaputt. Geht überhaupt was in der Stadt?
Seit dem Jahreswechsel ist die Sonnenallee im Bezirk Neukölln in aller Munde. Für die einen ist sie Ausdruck einer virilen Großstadt, andere haben Angst, wenn sie nur an den vielen arabischen Läden vorbeigehen. Wer die oft arg aufgeregte Debatte um Clans und Paschas verfolgt, muss glauben, an der Sonnenallee entscheide sich das Wohl und Wehe aller Integrationsbemühungen.
Und sonst? Die Straße hat noch mehr Berlin zu bieten. Sie beginnt am Hermannplatz, wo ein gigantisches Kaufhausprojekt geplant wird. Das Gentrifizierungsgespenst geht um. Und sie endet da, wo früher Ostberlin war. Also: Schaut auf diese Straße!
Die taz widmet deeer Sonnenallee ein Dossier zur Berlin-Wahl.
Alle Texte finden Sie hier taz.de/sonnenallee
Wer über dieses Berlin schon immer milde erstaunt den Kopf geschüttelt hat – am liebsten tun das übrigens die Berliner*innen selbst –, braucht also bloß bis Silvester zurück- und bis zum Sonntag vorauszublicken. Oder unseren Autor*innen auf die Sonnenallee zu folgen.
Auf kaum einer anderen Straße in Berlin kommt so viel Wunderbares und Schreckliches zusammen wie hier in Neukölln: Silvesterrandale, schlechte Radwege, guter Döner. Ein überdimensioniertes Warenhaus, das bald noch viel überdimensionierter aussehen soll. Eine schmerzlich vermisste Mietpreisbremse. Die Sonnenallee beschäftigt diese Stadt eigentlich immer. Manchen bleibt sie für immer fern, wie dieses Berlin überhaupt, anderen wird sie Heimat.
Franziska Giffey und ihr Neukölln
Wer genau hinschaut, entdeckt natürlich all die Grautöne hinter der plakativen Schwarz-Weiß-Malerei, die bei der Sonnenallee immer naheliegt. Franziska Giffey, die Regierende Bürgermeisterin und SPD-Spitzenkandidatin für die Wahl am Sonntag, weiß das. Sie war hier erst Schulstadträtin, dann Bezirksbürgermeisterin, bevor sie Bundesfamilienministerin wurde.
Als die Debatte über die Silvesterrandale hochkochte, als der CDU-Bundesvorsitzende Merz über „kleine Paschas“ schwadronierte, denen man mal die Meinung geigen müsste – da versenkte sie diese überhitzte, teils unerträglich rassistisch geführte Diskussion schnell in einen Arbeitskreis zum Thema Jugendgewalt.
Dass das nicht nur Wahlkampftaktik war – Giffey, die Durch-Regierende, die Macherin – wurde klar, als auch viele Akteure aus der Jugendhilfe sagten: Guter Ansatz, macht Sinn, müssen wir eh mal drüber sprechen (und am besten nicht nur zu Silvester).
Erstaunlich war für viele politische Beobachter*innen: Giffey konnte ihr souveränes Agieren nicht in gute Umfragewerte vor der Wahl ummünzen. Im Gegenteil, die CDU liegt inzwischen mit je nach Umfrageinstitut 24 bis 26 Prozent deutlich vor SPD und Grünen, die gleichauf jeweils zwischen 17 und 21 Prozent Zustimmung bekommen.
Kein Verständnis für die Sonnenallee von der CDU
Platt rassistisch hatte die Berliner CDU-Fraktion nach Silvester die Vornamen der vermeintlichen Täter von der Innenverwaltung erfragen wollen. Offensichtlich denkt die Berliner CDU über einen Mehmet anders als über einen Markus. CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner distanzierte sich nicht klar von dieser Vornamenabfrage. Der potenzielle Wahlsieger am Sonntag, er ist vermutlich auch so einer, der die Sonnenallee nie verstehen wird. Leider verstehen wiederum erstaunlich viele Berliner*innen Kai Wegners CDU.
Ob dieses Mal nach der Wahl dann die „richtigen“ Leute im Abgeordnetenhaus sitzen? Schön ist: die Sonnenallee wird bleiben, wo sie ist. Der Döner wird gut bleiben. Mehr Fahrradwege wären toll.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren