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Berliner Theaterautorin Esther BeckerDie Möglichkeiten einer Geschichte

Von Kindern, die vergessen wurden oder allein auf weiter Reise sind, erzählt Esther Becker. Eines ihrer Stücke sollte gerade im Grips Premiere haben.

Geht in ihren Stücken von Situationen, Figuren, Geschichten aus: Esther Becker Foto: Françoise Caraco

Esther Becker hat ein bisschen Glück gehabt. Ihr Stück „­Mimosa“ über eine junge Pilotin, die sich an ihrem 30. Geburtstag mit heftigen Erfahrungen von Verlust auseinandersetzen muss, wurde im Februar im kleinen Sogar Theater in Zürich uraufgeführt. Das Ballhaus Ost in Berlin nahm Ende Februar ihre Soloperformance „The ­Bitter End“ wieder auf, die von den Unwägbarkeiten des Lebens als Künstlerin erzählt und dabei jene Formen austestet, die das Erzählen mit scheinbar biografischer Glaubwürdigkeit aufladen.

Beides ging noch gut über die Bühne, bevor die Thea­ter wegen des Schutzes vorm Coronavirus schließen mussten. Aber Esther Becker hat auch etwas Pech. Für den 26. März war die Uraufführung ihres Stückes „Das Leben ist ein Wunschkonzert“ im Grips Theater geplant, es war auch schon eingeladen zu den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Doch die Premiere ist jetzt erst mal verschoben, die Ruhrfestspiele im Mai und Juni sind bereits abgesagt.

Alle zwei Jahre lobt das Grips Theater zusammen mit der ­Gasag den Berliner Kinder­thea­ter­preis aus. Er ist zuerst mit einem Stipendium und Workshops des Grips verbunden, in denen eine kleine Gruppe von ausgewählten Autor:innen an ihren Stückentwürfen arbeitet. Der Gewinnerentwurf erhält dann ein Preisgeld und eine Uraufführung im Grips.

Für Esther Becker war es schon toll, an diesen Workshops teilzunehmen, und erst recht, den Preis zu gewinnen. Das Grips liebte sie als Kind, ihr Vater ging mit ihr hin, wenn sie ihn in Berlin besuchte. Sie selbst wuchs in Ratingen bei Düsseldorf auf und zog das erste Mal nach dem ­Abitur nach ­Berlin.

Auch wenn es für Esther Becker als Theaterautorin gerade ganz gut läuft, bauen kann man darauf nicht. Das Café in Neukölln, in dem wir uns noch vor der coronabedingten Schließung aller Lokale treffen, kennt sie gut, weil sie dort auch schon gearbeitet hat. Jobs im Buchhandel, bei der Berlinale, früher auch als Schauspielerin – wer Kunst macht, braucht da eine große Flexibilität. Da trifft es natürlich alle Künstler:innen bitter, dass jetzt auch viele notwendige Nebenjobs wegfallen.

„Studiersüchtig“ nennt sie sich selbst

Heute ist Esther Becker 39. Sie hat zuerst Schauspiel studiert, aber auch da schon gemerkt, dass ihr Interesse an eigenen Texte größer war als das an der Interpretation der Stücke von anderen. In der Schweiz, in Bern, wurde der neue Masterstudiengang Scenic Arts Practice eröffnet, der ihr eine Orientierung Richtung Schreiben und Dramaturgie ermöglichte. „Studiersüchtig“ nennt Becker sich selbst, weil sie dann noch Literarisches Schreiben in Leipzig absolvierte. Seitdem habe sie sich „Studierverbot“ verordnet. Aber sie arbeitet auch schon lange theaterpraktisch, hat mit dem Regieduo BigNotwendigkeit von Anna K. Becker und Katharina Bischoff mehrere Projekte gemacht als Autorin, Performerin und in anderen Funktionen. Und ja, Anna K. Becker ist ihre Schwester.

Ihre Stücktexte lesen sich sehr gut. In knappen Dialogsätzen werden Figuren und Situationen skizziert, die oft etwas Verblüffendes, Kurioses haben, das sich dann aber als sinnfällig erweist.

Zuerst habe ich „Wildbestand oder Von einer, die auszog, eine Zukunft zu finden“ gelesen, ein noch nicht aufgeführtes Stück für Kinder ab acht, das beim Heidelberger Stückemarkt mit einem Preis ausgezeichnet wurde. In „Wildbestand“ erzählen drei Kinder – Greta, 7, Hannes, 9, und Dina, die vielleicht aber gar nicht so heißt – zusammen ihre Geschichte, deren Ende offen ist. Dass sie gemeinsam rekonstruieren, wie es gewesen sein könnte, verleiht dem Geschehen etwas Schwebendes.

Die Kinder lernen sich in einem Baumhaus kennen, das Greta und Hannes eigentlich für ihres hielten, bis Dina sich darin eingerichtet hat. Greta und Hannes, die mit ihrer Mutter bisher im Forsthaus wohnten, sollen umziehen, und Stück für Stück entzieht die Mutter ihnen die vertraute Umgebung, packt die Betten ein – wo sollen sie schlafen? –, packt die Küche ein – was sollen sie essen? –, vergisst die Kinder schließlich beim Umzug.

Unglaublich eigentlich, die Geschichte, aber nach und nach merken die Kinder und merken sicher auch die Zuschauer, dass Dina, die Namenlose, in einer ähnlichen, aber viel extremeren Situation ist, unterwegs ohne elterlichen Schutz, ohne zu wissen, wo sie schlafen kann, was sie essen kann. Und man weiß, dass dies Kindern unter den Geflüchteten vielfach so geschieht.

Dina: „Vielleicht habe ich gesungen / Die ersten Kilometer / Um lauter zu sein als meine Angst / Ich bereute es später / Als es Abend wurde / Und meine Stimme weg war. // Ich sollte das nicht erzählen. // Bleib stumm / Stell dich dumm. // Ich habe Krümel gestreut / Die ersten Kilometer / Und ich bereute es später / Als es Abend wurde und ich hungrig / Da das Brot alle war.“

Viel Realität und auch Wunderbares

Dina ist nicht zu fassen, sie erzählt ihre Geschichte aus strategischen Gründen immer wieder anders, sie muss sie ändern, um Verfolgung zu entgehen. Ihr Erfahrungshorizont reicht weit über den von Hannes und Greta hinaus; aber er hat auch etwas Märchenhaftes, etwas von „Hänsel und Gretel“. Wie die drei Kinder sich anfreunden und zusammen die Situation des Auf-sich-gestellt-Seins zu meistern beginnen, ist eine Abenteuergeschichte mit doppeltem Boden. Es liegt ebenso viel Realität wie Wunderbares in dem Stück.

Das gilt auch für „Das Leben ist ein Wunschkonzert“. Am Anfang ist die Verwunderung groß: Warum singt ein Schneckenchor hier? „Vier. Reimt sich auf Bier. Bier. Das lieben wir.“ Warum behaupten sie, sie seien vier? Man sieht nur drei. Warum lieben sie Bier? Was zuerst lustiger Nonsens zu sein scheint, entpuppt sich nach und nach als eine Spiegelung eines sehr schmerzhaften Geschehens. So, wie die Schnecken das Bier lieben, obwohl sie in der Bierfalle in einen schrecklichen Tod geraten, so lieben auch die Eltern des Mädchens Hannah den Alkohol, obwohl sie damit ihr ganzes soziales Leben zerstören. Hannah kämpft einen einsamen Kampf, bis sie Hilfe bekommt.

Man kann sich das Stück am Grips gut vorstellen, es wird hier ja oft aus der Perspektive der Kinder erzählt. Im Workshop, der dem Stück vorausging, war das Schreiben für Kinder ab fünf eine Vorgabe, aber, sagt Esther Becker, sie kann immer nur so schreiben, wie sie eben schreibt. Tatsächlich waren die Schnecken zuerst da, als es in ihr zu arbeiten begann, der Konflikt um ein einsames Kind kam erst nach und nach hinzu. Was ihr beim Schreiben von Jugendtheaterstücken aber gefällt, ist, den Fokus auf das zu legen, was Kinder eben noch können und Erwachsene nicht mehr.

Ansonsten aber mache es, so meint die Autorin, für sie keinen Unterschied, ob sie für Kinder oder Erwachsene schreibe. Sie orientiert sich nicht an Themen, nicht an Pädagogik oder einer Botschaft, was man ihren Texten sehr wohltuend anmerkt. Sondern sie geht von Situationen, Figuren, Geschichten aus.

„Mimosa“, was für ein Name für ein Stück und für eine junge Frau. Mimosa ist Pilotin, der irgendwo über dem Atlantik ihr Gefühl für die Zeit und den Ort abhandengekommen ist. Sie träumt von ausgefallenen Zähnen und ausgefallenen Haaren. Sie verliert eine Freundin und eine Katze, sie irrt ohne Wohnung durch die Stadt. Drei Tage begleitet das Stück sie, und was anfangs völlig absurd ist, erklärt sich nach und nach aus ihrer Geschichte und der ihrer Mutter. So wird die Vagheit, das unheimliche Gefühl, sich selbst nicht zu kennen und nicht mehr zu wissen, warum man da ist, wo man ist, sehr plastisch.

Wie auch in ihren anderen Stücken stehen die Monologe und Dialoge in schmalen Textsäulen auf dem Papier. Szenische Anweisungen braucht Esther Becker kaum, alles entwickelt sich aus den gedachten und gewechselten Sätzen, knapp und lakonisch lassen sie Bilder im Kopf entstehen und erzeugen eine erstaunliche Nähe zu den Figuren.

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