Berliner Szenen: Alte Versprechen
Der Frühling bricht aus. Vor den Cafés trifft sich das Gastroproletariat. Während die Angestelltenwelt weiter U-Bahn fährt.
E s wird Frühling in Berlin. Die Menschen sitzen schon wieder draußen und rauchen, trinken Kaffee, blinzeln in die untergehende Sonne.
Die Bedienung des Lieblingscafés fährt eine Doppelschicht. Sie kommt aus Polen und ist erst wenige Wochen hier. Sie lernt Deutsch für Ausländer an einem dieser privaten Institute. „Deutsch für Ausländer“ ist inzwischen zu einer kleinen Industrie geworden. Eine gute Einnahmequelle für Leute, die mal auf Lehramt studiert hatten, aber eigentlich lieber irgendwas mit Kunst machen wollten. Die Polin, vielleicht dreißig, dunkelhaarig und mit einer ungewohnt leisen Stimme, lächelt und stellt mir „eine kleine Latte“ hin.
Eine Frau ganz in Rot bestellt sich eine Rote-Beete-Suppe. Es ist früher Abend, allmählich findet sich das lokale Prekariat ein. Oder besser: das Gastroproletariat. Barkeeper, Restaurantbetreiber, Köche, die Kolleginnen der Polin. „Nach Schicht“, wie sie sagen, geben sie ihr Geld gerne für Rauschmittel und gute Cocktails aus. Vor der Schicht besprechen sie ihre Angelegenheiten, als ob es um hohe Politik ginge.
Einer sitzt auf dem Motorrad des Chefs. Ursprünglich kommt er aus Barcelona; er meint, man müsse kein Deutsch können, um in einer Bar zu arbeiten, in Berlin schon mal gar nicht.
Die Polin lässt Musik aus den achtziger Jahren laufen, sie schallt wie ein altes Versprechen auf die Straße: Love is a Battlefield, Heaven is a Place on Earth, Straight Up.
Es wird Frühling, der Reuterkiez lebt auf. Alle genießen das ungesunde Tun, das man Leben nennt. Ich lehne mich zurück und denke an morgen. Da erwartet mich wieder die Angestelltenwelt, schon morgens in der Bahn: die schick gekleideten Gutverdienenden, die Brillen, Röcke, Telefone, Zeitungen, E-Bookreader, die Schundschinken, die kleinen, die großen Blicke, und ich gehöre dazu, für drei Tage in der Woche.
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