Berliner Strafvollzug: In der Zelle alleingelassen
In der JVA Moabit verbrennt ein Häftling. Wenige Tage zuvor hatte er vor Gericht über Depressionen geklagt und um Verlegung ins Krankenhaus gebeten.
Es ist eine schreckliche Vorstellung: Man sitzt in einer Gefängniszelle, und es brennt. Man klingelt, klopft und ruft, aber niemand kommt. Auch in den umliegenden Zellen rufen Gefangene. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis das Anstaltspersonal reagiert. Und eine weitere Ewigkeit, bis die Feuerwehr vor Ort ist, die Tür öffnet und die Rettungsmaßnahmen beginnen.
So oder ähnlich könnte es gewesen sein, als ein 38-jähriger Insasse am 23. Juli bei einem Brand in der Untersuchungshaftanstalt Moabit starb. Protokolle von Mitgefangenen über den Verlauf der Brandnacht, die die Gruppe Criminals For Freedom (CfF) im Internet veröffentlicht hat, legen einen entsprechenden Verlauf nahe.
Dem widerspricht die Senatsverwaltung für Justiz. Sie geht davon aus, dass der Insasse das Feuer selbst entzündete und danach nicht um Hilfe rief. „Der Inhaftierte hat sich weder durch Betätigung des im Haftraum befindlichen Notsignals noch durch Rufen oder Klopfen bemerkbar gemacht“, teilt ein Justizsprecher mit. Auch sei der Türbereich verbarrikadiert gewesen. Das lasse vermuten, dass der Mann nicht gerettet werden wollte. Man gehe von einem Suizid aus. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen.
Tatsächlich hatte M. beim Haftprüfungstermin am 20. Juli, nur drei Tage vor seinem Tod, explizit um Hilfe gebeten. Im Protokoll des Termins, das der taz vorliegt, heißt es wörtlich: „Der Angeschuldigte teilt mit, er habe starke Depression und möchte einem Arzt vorgeführt werden.“ Der Anwalt Benjamin Düsberg, der M. bei dem Termin vertreten hat und anwesend war, sagt M. habe Schnittwunden am Bauch vorgezeigt, die er sich selbst zugeführt hatte. „Er hat sehr vehement klar gemacht, dass es ihm sehr schlecht geht und er dringend ins Haftkrankenhaus müsse“, sagt Düsberg.
Feuer Zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 16. Mai 2019 kam es laut Pressestelle in den Berliner Justizvollzugsanstalten insgesamt zu 54 Bränden, zumeist in Hafträumen. Überwiegend sei das Feuer durch Brandstiftung verursacht worden. Zwei Brände wurden durch einen defekten Tauchsieder ausgelöst. Neuere Zahlen liegen nicht vor.
Todesfall Am 27. März 2020 hatte ein Insasse der JVA Tegel Feuer in seiner Zelle gelegt. Er habe sich noch über die Haftraumkommunikationsanlage bemerkbar gemacht, so die Auskunft der Pressestelle. Justizbedienstete hätten den Brandbereich jedoch nicht ohne Eigengefährdung betreten können. Die herbeigerufene Feuerwehr habe zunächst Gebläse zum Absaugen des Rauchs einsetzen müssen. Der Gefangene habe nur noch tot geborgen werden können. (plu)
Die Richterin habe dies nicht nur ins Protokoll aufgenommen, sondern auch in das sogenannte „Haftblatt“ eingetragen, das mit dem Gefangenen zurück in die JVA geht. Zudem habe sie mündlich die begleitenden Wachtmeister aufgefordert, der JVA mitzuteilen, was M. über seinen Zustand gesagt habe. „Nichts von dem ist passiert“, sagt Düsberg. Das geht aus einem Bericht der JVA zu dem Fall hervor, der der taz vorliegt. Zudem habe die JVA Düsberg gegenüber erklärt, dass die Information untergegangen sei.
Über den Verstorbenen ist wenig bekannt. Ferhat M. war algerischer Staatsbürger. Laut Pressestelle befand er sich seit dem 1. Juli in der JVA Moabit in Untersuchungshaft. Nach Informationen der taz war M. kurz zuvor zusammen mit drei weiteren Tatverdächtigen wegen Diebstahlsverdacht in Neukölln festgenommen worden. Die drei anderen sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Einer kam einen Tag vor dem Brand frei, die beiden anderen in der vergangenen Woche.
Für den aus London angereisten Bruder des Verstorbenen, Dahmane M., sind die drei Männer wichtige Informationsquellen. Dahmane M. fordert Aufklärung, er hat in Berlin nun einen Anwalt eingeschaltet. Er gehe davon aus, dass sein Bruder im Knast vernachlässigt worden sei, sagt M. zur taz. Ferhat habe sich depressiv gefühlt, habe sich durch Ritzen mit einer Rasierklinge Selbstverletzungen beigebracht, erzählt der Bruder.
Auch die deutsch-algerische Kulturvereinigung hat sich eingeschaltet. Der Fall hat in der algerischen Community Kreise gezogen. Der Verstorbene sei kein Engel gewesen, aber eben auch nur ein Kleinkrimineller, sagt Samir Ayoub, Vizepräsident der in Düsseldorf ansässigen Kulturvereinigung zur taz. „Ich frage mich, wie kann es sein, dass in einem so hoch entwickelten Land wie Deutschland ein Feuer in einer Zelle so lange unbemerkt bleibt?“
Aus den Erzählungen, die im Knast die Runde machen und ihm von den drei Freigelassenen zugetragen wurden, hat sich für Dahmane M. Folgendes herauskristallisiert: Justizbeamte hätten Ferhat irgendwann während der 23-tägigen Haftzeit beleidigt, genau gesagt: die verstorbene Mutter, daraufhin habe Ferhat die Beamten beleidigt. Dann sei er von ihnen zusammengeschlagen und zwei Tage im sogenannten Bunker isoliert worden. Durch die Schläge habe er Rippenbrüche erlitten, die Verletzungen seien ärztlich dokumentiert.
Dazu erklärte die Justizpressestelle auf Nachfrage: Für die Behauptung von Schlägen gebe es keine Erkenntnisse. „Wenn dem so wäre, hätte die JVA Moabit Anzeige erstattet, und das Attest wäre Teil eines Strafverfahrens. Aber dem ist nicht so.“
Dann ist da noch diese Sache mit dem Licht: Einer der Freigelassenen erzählt in einem bei Facebook veröffentlichten verpixelten Kurzvideo, in Ferhats Zelle sei das Licht kaputt gewesen. Ferhat habe deshalb nachts klingeln müssen, damit die Beamten das Licht von außen an- oder ausknipsten.
Dahmane M. vermutet, dass Ferhat in der besagten Nacht beten wollte. Er habe deshalb nach der Security geklingelt, damit sie das Licht anmachen. Aber es sei niemand gekommen. Ferhat habe das Feuer nicht angezündet, um sich zu töten, glaubt der Bruder. „Er wollte Aufmerksamkeit.“
Von der taz dazu befragt, antwortete die Justizpressestelle so: „Das Licht war am 23. Juli nicht defekt.“ Auf neuerliche Nachfrage räumte der Sprecher ein: „Es gab eine frühere Nacht in der JVA Moabit, in der das Licht in seinem Haftraum nicht funktionierte. Das wurde behoben. In der Brandnacht funktionierte das Licht.“
Bei Todesfällen durch Brände in Gewahrsam werden Erinnerungen an den Fall des Sierra Leoners Oury Jalloh wach, der vor 15 Jahren in Dessau im Polizeigewahrsam verbrannte. Ohne dem Berliner Justizpersonal – so wie es sich im Fall Oury Jalloh aufdrängt – böswillige Absichten zu unterstellen, stellt sich auch hier die Frage: Hätten die Rettungsmaßnahmen nicht schneller gehen können?
Jenseits von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wäre es Aufgabe des Justizsenators, nach Brandvorfällen für absolute Transparenz zu sorgen. Gefangene sind bei solchen Vorkommnissen absolut wehrlos. Der Staat hat für sie eine Fürsorgepflicht. Sie müssen sich hundertprozentig darauf verlassen können, dass Menschenrettung oberste Priorität hat. „Du bist eingeschlossen und hast keine Chance“, bringt es ein Häftling auf den Punkt.
Im März starb schon mal ein Insasse der JVA Tegel bei einem Brand (siehe Kasten). Die Ermittlungen sind inzwischen eingestellt. Aber auch in diesem Fall, so der Eindruck von Insassen, sind viele Fragen offen geblieben. Die unabhängige Gefangenenzeitschrift Lichtblick hat dem Thema in ihrer Juni-Ausgabe viele Seiten gewidmet. Vermutet wird, dass auch Personalmangel ein Grund gewesen kann, warum das Anstaltspersonal bei dem Brand nicht selbst eingriff.
Folgt man den anonym gehaltenen Schilderungen von Insassen, hat man den Eindruck, es gibt Parallelen zu dem Fall in Moabit. Die Gruppe Criminals For Freedom (CfF), ehemals Gefangenengewerkschaft (GG/BO), hat Auszüge veröffentlicht. Die vollständige Fassung liegt der taz vor. Berichtet wird, dass mehrere Insassen aus der Brandzelle Hilferufe und lautstarkes Wummern gegen die Tür gehört hätten – fünf Minuten lang.
Die Justizverwaltung beschreibt die Vorgänge in jener Nacht wie folgt: Gegen 23.05 Uhr habe ein Gefangener über die Haftraumkommunikationsanlage mitgeteilt, dass er Brandgeruch wahrnehme. Bei einer sofort durchgeführten Absuche sei der Haftraum des Verstorbenen als Brandherd identifiziert worden. Die Feuerwehr sei gegen 23.25 Uhr in der Anstalt eingetroffen.
Nach dem Öffnen der durch die Hitzeentwicklung verzogenen Tür sei der Gefangene von Beamten der Feuerwehr aus dem Haftraum gezogen worden. Die Reanimation sei jedoch erfolglos verlaufen. Ein vorheriges Öffnen der Zellentür durch Justizbedienstete sei gefahrlos nicht möglich gewesen, teilte die Pressestelle mit.
Ob es richtig sei, dass Zellentüren grundsätzlich nach außen aufgehen, hatte die taz gefragt. Wenn ja, wie man sich da innen verbarrikadieren könne? Die Antwort des Pressesprechers Sebastian Brux klingt fast flapsig: „Wie Sie aus Besuchen in Anstalten sicherlich wissen, ist Haftrauminventar beweglich. Es kommt deshalb vor, dass sich Gefangene mit Hilfe von Tisch, Stuhl, Schrank und Bett verbarrikadieren.“
Der Bruder des Verstorbenen hat gehört, dass sich an Ferhats Zellentür ein roter Punkt befunden habe. Das sei richtig, „aber nur in den ersten zehn Tagen der Inhaftierung“, bestätigt der Justizsprecher. Roter Punkt steht für Beobachtung – etwa wegen Entzugsproblemen oder Suizidalität. Den Grund wollte der Sprecher nicht nennen.
Auch Fragen nach Anzeichen von Suizidgefahr oder einer Selbstverletzung durch Ritzen ließ er unbeantwortet. „Wir dürfen keine Auskünfte über den Gesundheitszustand oder andere personenbezogene Daten geben“, heißt es.
„Sie haben ihn in seiner Zelle alleingelassen, obwohl bekannt war, dass es ihm nicht gut ging“, ist der Bruder Dahmane M. überzeugt.
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