Gesundheitliche Versorgung im Gefängnis: Mit Psychopharmaka durch die Haft

Hamburger Gefängnisse verabreichen ihren Insassen vermehrt Medikamente gegen psychische Störungen. Die Linksfraktion fordert eine Untersuchung.

Ein großer Haufen unterschiedlicher bunter Medikamente

Neuroleptika, Benzos, Antidepressiva – im Knast werden immer mehr Psychopharmaka verschrieben Foto: Hans-Jürgen Wiedl/dpa

BREMEN taz | Neuroleptika, Benzodiazepine, Antidepressiva – immer mehr Medikamente gegen psychische Störungen werden in Hamburgs Haftanstalten verschrieben. Das zeigt unter anderem eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke in der hamburgischen Bürgerschaft. Die Fraktion fordert nun ein Expert*innen-Gremium, das die psychologische und psychiatrische Versorgung von Gefangenen im Strafvollzug begutachten soll.

Ein paar Zahlen aus der Anstalt im Stadtteil Billwerder verdeutlichen die Größenordnung: Von Neuroleptika (wirken antipsychotisch und sedierend) wurden dort 2019 rund 13.500 Tagesdosen bestellt, 2021 waren es 31.700. Ähnlich sieht es bei Benzodiazepinen (angstlösend und sedierend) und bei Antidepressiva aus: Die Tagesdosen an Benzos stiegen von 500 auf 2.100, die der Antidepressiva von 16.400 auf 46.600. In den meisten anderen Anstalten ist der Trend der gleiche, wenn auch nicht überall ganz so ausgeprägt.

Die Zeit hatte bereits im Januar in einem großen Feature darauf aufmerksam gemacht, dass die Zahl der verschriebenen Medikamente in der Hamburger U-Haft um ein Vielfaches über dem Schnitt für Menschen in Freiheit liegen.

Das ist erst einmal nicht verwunderlich: Zum einen sind viele Straffällige psychisch krank – nicht selten ist das in Kombination mit anderen Faktoren der Grund, warum sie überhaupt straffällig werden. Zum anderen herrschen auch in der Haft selbst Umstände, die psychische Störungen befördern: Eingesperrt zu sein, wirkt nicht antidepressiv.

Zahlen schwer zu interpretieren

Der Anstieg im Vergleich zu 2019 lässt sich zu großen Teilen wohl durch Corona erklären: Besuchsmöglichkeiten und Freizeitangebote wurden reduziert – alles also, was üblicherweise der Suizidprophylaxe dient.

Doch was heißt das alles? Werden Strafgefangene mit Medikamenten ruhiggestellt? Oder muss man vielmehr froh sein, dass ein psychiatrisch vorhandener Bedarf an Medikamenten erkannt und gedeckt wird? Die Daten allein geben eine Erklärung nicht her; trotz einzelner Erklärungsfaktoren stochert man im Dunkeln.

Die Behörde beantwortet einen Großteil der Fragen der Kleinen Anfrage damit, dass es zu umständlich sei, von Hand Krankendaten aus den Haftanstalten zusammenzutragen. Auch die taz-Anfrage kann nicht am Donnerstag beantwortet werden. „Man hat es beim Vollzug mit einer ziemlichen Blackbox zu tun“, sagt ­Nathalie Meyer, Referentin bei der Linksfraktion. Mit einer genauen Interpretation der Zahlen tut auch sie sich schwer.

Trotzdem steht zumindest die Befürchtung im Raum, dass zu viele Medikamente verabreicht werden: „Bei solchen erheblichen Mengen an Psychopharmaka stellt sich die Frage, ob die Medikation nicht häufig eine therapeutische Behandlung ersetzen muss, statt sie lediglich zu ergänzen“, schreibt die Linken-Abgeordnete Carola Ensslen.

Wie viel Therapie bräuchte es?

Die Behörde hat ihr selbst gesetztes Soll an psychotherapeutischen Stellen in den Haftanstalten jedenfalls in etwa erfüllt. In den regulären Justizvollzugsanstalten (JVA) in Hamburg beträgt das Verhältnis von Psy­cho­the­ra­peu­t*in­nen und Gefangenen zwischen 1 zu 144 und 1 zu 172. Zum Vergleich: In der städtischen Gesamtbevölkerung kommt auf 3.000 Menschen ein*e Therapeut*in.

Allerdings ist nicht klar, wie viel mehr psychisch Erkrankte es in den Haftanstalten tatsächlich gibt: Schätzungen rangieren zwischen 60 und 80 Prozent der Inhaftierten. Die Linke fordert deshalb für die Haftanstalten ein Verhältnis zwischen The­ra­peu­t*in und Gefangenen von mindestens 1 zu 100.

Fragt man Akteure in der Stadt, die mit Strafgefangenen arbeiten, nach dem zusätzlichen Therapiebedarf, fallen die Antworten ganz unterschiedlich aus: Forensiker Guntram Knecht kann zwar von erhöhten Fallanfragen seit der Pandemie in seiner forensischen Ambulanz in den Asklepios-Kliniken berichten, lange Wartelisten für eine Psychotherapie gebe es dort aber nicht.

Die Straffälligenhilfe Hamburg, die in erster Linie mit aus der Haft Entlassenen konfrontiert wird, glaubt hingegen, ein Therapiedefizit ausmachen zu können: „Wir sehen, dass psychische Störungen in der Haft zugenommen haben“, sagt Geschäftsführerin Maren Michels. „Und wenn ich mir etwa das Thema Drogensucht ansehe, bin ich beeindruckt, wie wenig Therapieangebote es gibt.“

Expertengremium für mehr Klarheit

Fehlende Daten und widersprüchliche Aussagen machen eine Evaluation schwer. Das Expertengremium, das die Linke fordert, soll Abhilfe schaffen. Me­di­zi­ne­r*in­nen und Psy­cho­lo­g*in­nen sollen sowohl die psychologische als auch die psychiatrische Versorgung von Gefangenen begutachten und der Bürgerschaft Handlungsempfehlungen für verbesserte Bedingungen vorlegen.

Wie die von der grünen Senatorin Anna Galina geführte Justizbehörde dazu steht, will am Donnerstag niemand mehr kommentieren; auch die Grünen-Fraktion äußert sich nicht auf eine taz-Anfrage. Die Bürgerschaft jedenfalls hat den Antrag der Linken zur Beratung an den Rechtsausschuss verwiesen.

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