Berlinale Retrospektive: Flirt mit dem Genrekino
„Wild, schräg, blutig“: Die Retrospektive widmet sich deutsch-deutschen Filmen der 1970er. Lust am Trash überwiegt, Werke von Regisseurinnen fehlen.
![Frauen tanzen mit Regenschirmen und Regenmänteln im DDR-Musical "Nicht schummeln, Liebling!" (1973) Frauen tanzen mit Regenschirmen und Regenmänteln im DDR-Musical "Nicht schummeln, Liebling!" (1973)](https://taz.de/picture/7529272/14/202517126-1.jpeg)
Wie eine Handvoll Filmemacher der Bundesrepublik vor Jahrzehnten versuchte, das Kino neu zu erfinden, ist eine sicher noch nicht auserzählte Geschichte. Auch aus der Kinowirklichkeit des Defa-Studios der DDR gibt es noch viel wiederzuentdecken.
Die Retrospektive der Berlinale lenkte zwar schon mehrmals die Neugier auf interessante Rückblicke in die Parallelen und Unterschiede beider Welten, aber für das 75. Jubiläum des im Sommer 1951 im Steglitzer Titania-Palast gegründeten Filmfestivals dachte sich das Team der Kinemathek einen Seiteneinstieg aus.
Nicht die filmhistorischen Leuchttürme stehen in diesem Jahr im Mittelpunkt, sondern Filme, die unverhohlen mit den kommerziellen Genres und Stereotypen ihrer Zeit spielen. „Wild, schräg, blutig“ geht es im diesjährigen Programm zu. Kurz: alles andere als das ambitionierte bundesdeutsche Autorenkino und die politisch vorzeigbare DDR-Filmkunst sind zu sehen, sondern ost- und westdeutsche Flirts mit eingeschliffenen Genrestücken fürs große Publikum oder aber Kultfilme für notorische Fans.
Aus Zwang zum Sparen
Die Auswahl war groß, erzählt Annika Haupts, die mit Rainer Rother, dem Leiter der Kinemathek, das Programm verantwortet. Auch unter dem Zwang zu Budgeteinsparungen entstand nach intensiven Recherchen in diesem Jahr eine Programmreihe aus nur fünfzehn Beispielen zum Kino der 1970er Jahre in Ost und West. Adressiert an ein spontan neugieriges jüngeres Publikum konzentriert es sich, nicht zuletzt wegen häufig noch nicht restaurierter Filmfassungen, auf Komödien und Thriller.
Merkwürdig, dass das Defa-Studio Babelsberg ausschließlich mit fünf knalligen Komödien vertreten ist, während die zehn westdeutschen Filme überwiegend drastisch und gewalttätig von Gangster-, Rocker- und Desperado-Stoffen fasziniert sind und nicht selten mit viel Blut, Schweiß und Brutalität ihre Misogynie ausstellen oder aber in Vampir-Geschichten von angeschlagenen männlichen Selbstbildern erzählen.
Übrigens stammt wie zu erwarten kein Film des Programms von einer Regisseurin, während alle Filme Paradebeispiele für den von Laura Mulvey in den 1970ern dingfest gemachten „male gaze“ darstellen, der beschreibt, wie die Kamera stereotype Muster des männlichen Blicks auf Haare, Beine, Busen, Po simuliert. Insofern aus dem Abstand der Jahre imprägniert, lohnt sich der Rückblick in die offenen und verborgenen Botschaften des Unterhaltungsgeschäfts vor rund fünfzig Jahren.
Gelegentlich biederer Klamauk
Die Defa-Komödien des Programms versuchen etwas anderes: Sie demonstrieren einhellig die kulturpolitisch geförderte Idee des Geschlechterkampfs auf Augenhöhe, sind aber trotz erwartbarer Skriptkonstruktionen purer Spaß, wenn man Sinn für gelegentlich biederen Klamauk, überdrehte Choreografien und Witze voller Seitenhiebe auf das gesellschaftliche Betriebssystem der DDR mitbringt.
So zeigt eine frisch delegierte Fachschulleiterin in „Nicht schummeln, Liebling!“ (Regie: Joachim Hasler, 1973) dem fußballbegeisterten Bürgermeister eines lauschigen Harz-Städtchens, wo der Hammer hängt, wenn sie gegen seine Schummeleien zugunsten der örtlichen Fußballmannschaft eine weibliche Gegenmannschaft auf die Beine stellt, die die Spielregeln nicht nur im Gemeinderat außer Kraft setzt – Happy-Ending inbegriffen.
„Nelken in Aspik“ (Günter Reisch, 1976), die ausgefeilteste Klamotte des Programms, reizt sämtliche Ressourcen der Produktionsgruppe Johannisthal in Sachen Szenenbild, Kostüm, Trick und Außendrehs mit einer Überfülle an scharfzüngigen Dialogen und Witzen über das Streben, endlich Erfolge im DDR-Außenhandel einzuheimsen. Der Film macht Armin Mueller-Stahl als Jacques-Tati-ähnlichen Tolpatsch zum Leiter des „Hauses für Werbung“ und delegiert ihn, obwohl er zwei Zähne verlor und seither schweigt, zu einer Computermesse nach San Francisco, wo er aufgrund von vertauschtem Gepäck allein mit einem digitalisierten Pittiplatsch Geschäfte anschiebt. Ein anderes Highlight gehobenen Klamauks ist Horst Bonnets Verfilmung von Jacques Offenbachs Seitensprung-Operette „Orpheus in der Unterwelt“ (1973), ein anarchischer Rausch in Rot-Schwarz voller Dialogbonmots, die den senilen Götterhimmel als Spiegel der DDR-Hierarchien veralbern.
Schrumpfgermanen in Damen-Handtaschen
Wie anders die Münchener Undergroundkomödie „Männer sind zum Lieben da“ (Eckhart Schmidt, 1970). In Schwarz-Weiß entsteigen da ein paar Amazonen mit modisch langen Mähnen und Miniröcken einem Teich und gehen auf die Jagd nach Sexpartnern, nur um sie danach kleingeschrumpft in ihren Handtaschen verschwinden zu lassen.
Weibliche Emanzipation hat den Haken, sagt uns Eckhart Schmidts Phantasie, dass es in der Unterwelt an Spielzeug oder an Nachwuchs mangelt, für den die Männer nach ihrer Rekultivierung sorgen sollen. Was aber passiert, wenn sich eine schüchterne Amazone in einen anvisierten Sexpartner verliebt? Das bleibt bis zum Schluss des Films nach vielen kurzen Szenen im Stil von zeitgenössischen Softpornos ein Männertraum.
Unter den westdeutschen Filmen, die deutlich an den Hardboiled-Kerlen US-amerikanischer Exploitation-Movies orientiert sind oder auch auf den bizarren Pop-Mythos eines RAF-Desperados wie Andreas Baader anspielen, ist die Gier nach Geld, Macht und großen Autos Motor der Geschichte. In „Blutiger Freitag“ (Rolf Olsen, 1972) schiebt Raimund Harmstorf als entflohener Häftling mit zwei Komplizen die Erpressung von mehreren Millionen an, indem die Gruppe Geiseln in einer Bank nimmt.
Forderung nach Todesstrafe
Angelehnt an einen authentischen Raubüberfall in München, baut der Film erstaunlich viele Dialoge über die miese Angestelltenzukunft der Jüngeren, den Ausländerhass der Münchener Vorstadtbürger und ihre Forderung nach der Todesstrafe ein. Kamerablicke auf Harmstorfs enge Lederhose und seine unverhohlenen Blicke auf eine Geisel kündigen eine brutale Vergewaltigungsszene an, die kurze Porno-Flashes mit Zerstückelungsszenen aus dem Schlachthaus unterlegt.
Olsens Film zeigt durch den puren Overkill, der darauf folgt, eine viele der wilden, schrägen, blutigen Filme prägende Mischung aus Zynismus und Absage an solche Männlichkeitsbilder.
Gegenbild ist ein Lkw-Fahrer (Wolf Roth) in Rainer Erlers Science-Thriller „Fleisch“(1979). Ein frisch verheiratetes deutsches Pärchen in den USA wird während seiner Hochzeitsreise von einem dubiosen Ambulanzauto angegriffen. Der Trucker, ein einsamer Pole auf Route-66-Tour, hilft der verzweifelten Braut (Jutta Speidel), das Kidnapping ihres Mannes nachzuverfolgen.
Action Showdown
Der spannende Thriller greift die Debatte um Organverpflanzungen auf, liefert zwar im Lauf der Spurensuche auch Argumente für die Befürwortung, bleibt aber zielsicher dabei, den kriminellen Menschenhandel mit betäubten und geknidnappten „Organspendern“ im rasanten Action-Showdown der Braut Alice und einer Ärztin im Kampf gegen die Gangster aufzuklären.
„Einer von uns beiden“, Wolfgang Petersens Debüt 1974, greift einen heute anschlussfähigen Fall eines Dissertationsplagiats auf, der in einem verbissenen Zweikampf zwischen einem um seinen Ruf fürchtenden Soziologieprofessor und seinem verkrachten Ex-Studenten eskaliert.
Das heimtückische Duell, mit Jürgen Prochnow als erpresserischer Träumer vom besseren Leben und Klaus Schwarzkopf als Intellektueller voll mörderischer Energie, führt auch in eine Westberliner Stadtlandschaft der 1970er zurück, die mit Bildern der monströsen Abrisswut in Kreuzberg und den Villen in Dahlem ein Spiegelbild der Klassengesellschaft abgibt.
Drei weitere Filme der Retrospektive, alle Varianten des Vampirgenres, reizen ebenfalls zu Vergleichen mit aktuellen Serien und Kinofilmen. „Jonathan“ (Hans W. Geißendörfer, 1970) erzählt in der fulminanten Kameraführung von Robbie Müller von einem Dorf, das von einem allmächtig scheinenden vampiristischen Grafen und seiner Entourage terrorisiert wird, bis die bäuerliche Bevölkerung mit einer Gruppe Studenten und ihrem aufklärerischen Professor die blutige Zerstörung dieses Systems erreicht.
Zu seiner Entstehungszeit wurde der Film als Parabel auf den gesellschaftlichen Umbruch nach 1968 verstanden. Wie er heute wirken könnte, gibt interessanten Gesprächsstoff.
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