Berlinale-Film „Canone effimero“: Die elf Gebote
In ihrer lyrischen Dokumentation „Canone effimero“ (Forum) nähern sich Gianluca und Massimiliano De Serio alten Musiktraditionen Italiens. Klappt das?
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Und wenn es „im Anfang“ nicht das Wort gewesen wäre, sondern der Klang? Wo kann man den Ursprung der Erzählungen suchen, wo beginnt Tradition? Und ist Tradition überhaupt etwas Unveränderliches oder kann man sie auch neu interpretieren? Eine Spur von diesem „klangvollem Anfang“ und mögliche Antworten auf diese Fragen kann man vielleicht in der mündlichen Überlieferung von Liedern und Geschichten finden, die Menschen seit Urzeiten miteinander teilen.
Auf eine Suche danach haben sich die Brüder De Serio in ihrem musikalisch-lyrischen Dokumentarfilm „Canone effimero“ begeben, der sie auf eine Reise durch Italien geführt hat, die weitab der bekannteren Routen verläuft. Das quadratische 1:1-Format des Films erinnert an Mosaiksteine, die in ihren Einzelheiten ein größeres Bild ergeben.
Gianluca und Massimiliano De Serio präsentieren die elf Kapitel ihres Films als „Funde“, die mit ihren Titeln an elf Gebote denken lassen: „Beachte die natürliche Ordnung“ oder „Höre auf deine Meister“, „Liebe bis zum Ende“, „Gehe deine Angst an“, „Erinnere“, um einige zu nennen.
Dabei handelt es sich nicht um dogmatische Regeln im religiösen Sinne, sondern eher um eine Auswahl von fragmentierten Hinweisen, ein Verhaltenskodex oder Vademecum, das helfen könnte, besser durchs Leben zu kommen. Ein weltlicher Kanon also.
Bilder, die sich rückwärts bewegen
Eine Eigenschaft des Kanons im musikalischen Sinne ist das Spiel mit der Wiederholung und der Überlagerung der Stimmen, die sich immer hinterherlaufen, ohne sich an einem bestimmten Punkt zu treffen. Ganz ähnlich führt die Reise im Film ganz ohne Eile durch oft winterliche italienische Landschaften, ohne das Gefühl zu geben, dass man unbedingt irgendwo ankommen muss.
Die Bilder bewegen sich manchmal sogar rückwärts, und man staunt kurz, wenn man merkt, dass der Schnee nicht vom Himmel fällt, sondern, wie von einer mysteriösen Kraft gezogen, sich nach oben bewegt. Auf dem Weg begegnen wir Menschen, Instrumentenbauern, Musikern, die mit ihren Stimmen, durch Gesang oder Erzählungen, die Tradition lebendig halten, manchmal aber auch ändern und anpassen, wenn sie ihre eigene Biographie darin widerspiegeln.
Meistens sind es ältere Männer, aber nicht nur. Eine betagte Bauernfrau aus der südlichen Region Kalabrien erzählt voller Begeisterung, wie sie früher ihren Mann, als er abends von der schweren Feldarbeit zurück kam, schon von Weitem an dem Lied, das er sang, und an seiner Stimme erkennen konnte, während sie und die anderen Frauen das trockene Brot, das er mitgebracht hatte, durch einen kleinen Trick wieder genießbar machten.
Aus Sizilien kommt die Geschichte und das Lied der „Urdunara“, in dem es um das Pech und das Leid der Fuhrmänner geht, die mit ihren Mauleseln immer gutes Geld verdienten und reichlich essen konnten, bis die alliierten Amerikaner kamen und ihre Lastwagen einführten.
21.2., 13 Uhr, Arsenal 1
Auch jüngere Menschen sorgen dafür, dass Traditionen nicht verloren gehen: Der schrille mehrstimmige Gesang der „Lule Sheshi“-Frauengruppe aus der lukanischen Pollino-Gegend ist ein Zeugnis der albanischen Minderheit Süditaliens und deren Sprache Arbëresh, die seit dem fünfzehnten Jahrhundert dort gesprochen wird. Diese Szene bekommt auch eine politische Dimension, wenn man bedenkt, dass die aktuelle rechte Regierung Italiens trotz mehrerer juristischer Niederlagen an dem „Albanien-Modell“ festhält, das vorsieht, dass geflüchtete Menschen, die über das Mittelmeer ankommen, in umstrittene Flüchtlingslager in Albanien auf ihren Asylbescheid warten müssen.
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