Berlin wählt Sonntag nochmal: In der Verfolgung
Bei der Teil-Wiederholungswahl zum Bundestag entscheidet vor allem die Beteiligung über Wahlkreise, Mandate und ein klares Signal gegen die AfD.
Dass Wechsel am Sonntag überhaupt in Betracht kommen, liegt an der gegenüber 2021 völlig veränderten Ausgangslage: Zog die damalige bundesweite CDU-Talfahrt auch die Berliner Christdemokraten nach unten, so ist die CDU in den meisten aktuellen Umfragen mehr als doppelt so stark wie die SPD.
Die Folgen lassen sich beispielhaft in Charlottenburg-Wilmersdorf betrachten, einem der beiden Wahlkreise, in dem eine Veränderung noch möglich scheint. Hier hat 2021 Michael Müller gewonnen, Sozialdemokrat und früherer Regierender Bürgermeister. Um rund 5.400 Stimmen lag er damals vor Lisa Paus von den Grünen, rund 8.600 vor Klaus-Dieter Gröhler von der CDU. Noch mal abgestimmt wird nun in 42 Prozent aller Wahllokale des Wahlkreises. Das heißt: In den restlichen 58 Prozent bleiben die damaligen Ergebnisse stehen. Sie bilden, um im Biathlonvergleich zu bleiben, das Sprintergebnis und den Vorsprung für den Verfolgungswettbewerb.
Bei den Grünen hat man nachgerechnet und geht davon aus, dass Müller am 11. Februar mit rund 2.700 Stimmen Vorsprung auf Paus und einigen weiteren hundert Stimmen mehr auf Gröhler startet. Wahlberechtigt sind in Charlottenburg-Wilmersdorf am kommenden Sonntag etwa 82.000 Menschen. Läge die Wahlbeteiligung in diesem Wahlkreis ebenso hoch wie 2021, nämlich 79 Prozent, würden 65.000 Stimmen in den Wahlurnen landen.
Verteilen die sich so wie bei der in der vergangenen Woche veröffentlichten Umfrage zur Berliner Landespolitik, bekäme CDU-Kandidat Gröhler davon 29 Prozent, Paus 17 und Müller 16. Umgemünzt in Stimmen hieße das: 18.800 für Gröhler, 10.300 für Müller, rund 11.000 für Paus. Für die Grüne wäre das zu wenig, der Vorsprung vor Gröhler aber wäre für Müller dahin. Der CDUler würde ihm den Wahlkreis sicher abnehmen – im Bundestag sitzt Müller dank Spitzenplatz auf der Landesliste trotzdem sicher.
Auch Beliebtheit zählt
Dass erneut 79 Prozent zur Wahl gehen, gilt allerdings als äußerst unwahrscheinlich. Macht sich nun lediglich die Hälfte davon auf den Weg ins Wahllokal, sieht die Sache viel enger aus: Dann nämlich bedeuten Gröhlers angenommene 29 Prozent – wie gesagt: rein auf Basis des Partei-Umfragewerts – nur noch knapp 9.400 Stimmen, Müllers 16 Prozent stünden für 5.200. In diesem Fall dürfte jenseits der Parteipräferenz die persönliche Beliebtheit entscheiden. Hierbei dürfte sich auch auswirken, dass die Grüne Paus seit 2022 eine zwar umstrittene, aber in den Medien höchst präsente Bundesministerin ist.
Auch in Pankow, wo sogar in vier von fünf Wahlbezirken neu gewählt wird, hängt eine Veränderung in erster Linie von der Wahlbeteiligung ab. 2021 lag die CDU-Kandidatin Manuela Anders-Granitzki mit 12,7 Prozent zwar chancenlos hinter Wahlkreissieger Stefan Gelbhaar von den Grünen (25,5 Prozent) und Klaus Mindrup von der SPD (21,5 Prozent). Schon bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus 2023 hingegen lag die CDU in Pankow nur noch knapp hinter den Grünen – und seither haben die Christdemokraten bundes- wie landesweit zugelegt, die Grünen jedoch leicht verloren.
Wie ihr Parteikollege Gröhler in Charlottenburg-Wilmersdorf muss Anders-Granitzki aber nicht bloß vorne liegen, sondern zudem jene Stimmen ausgleichen, die Gelbhaar als Vorsprung aus den Wahlbezirken gebunkert hat, in denen nicht erneut gewählt wird. Pures Glück ist es jeweils für die Kandidaten, wenn das Wahlbezirke waren, in denen sie 2021 überdurchschnittlich gut abschnitten.
Die Höhe der Wahlbeteiligung hat jenseits der Auswirkungen auf den Wahlkreissieg noch eine weitere bedeutsame Konsequenz, auch wenn diese weniger sichtbar ist. Denn kommen am Sonntag weit weniger Stimmen zusammen als im September 2021, reduziert das die Zahl der Bundestagssitze, die Berlin im Verhältnis zu den anderen Bundesländern zustehen.
Die werden nämlich nicht nach der gesamten Einwohnerzahl bemessen, sondern nach den abgegebenen Stimmen. Parteistrategen haben bereits vorgerechnet, dass Mandate an andere Bundesländer abzutreten sein könnten. Das würde die jeweils Letzten auf den Landeslisten treffen – über die die Parteien Abgeordnete ins Parlament schicken, wenn ihnen mehr Sitze zustehen, als sie Wahlkreise direkt gewonnen haben. Bei der Linken könnte das Pascal Meiser betreffen, bei den Grünen deren neue Landesvorsitzende Nina Stahr.
Und nicht zuletzt: Nur mit einer hohen Wahlbeteiligung lässt sich das von CDU bis Linkspartei gewünschte Zeichen gegen die AfD setzen, bei der wiederum eine hohe Mobilisierung der Anhängerschaft wahrscheinlich sein dürfte. Unterm Strich gilt für alle Punkte: Berechnungen, Sympathie oder Haltung allein helfen nicht weiter – um dem gewünschten Ergebnis näherzukommen, muss schlicht der Wahlzettel in die Urne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles