Teilwiederholungswahl zum Bundestag: „Eine merkwürdige Sache“
Berlin wiederholt wegen der Wahlpannen die Bundestagswahl von 2021. Die Beteiligung ist schwach, das Ergebnis kommt erst weit nach Mitternacht.
54 Tage liegt bei Wegners Worten jener Dienstag kurz vor Weihnachten zurück, an dem das Bundesverfassungsgericht sein Urteil fällte, das nun die von Wegner so beschriebenen merkwürdigen Folgen hat. Anders als das Landesverfassungsgericht ein Jahr zuvor, das die Wahlen zum Landesparlament komplett wiederholen ließ, hielten die Bundesrichter eine Teilwiederholung für ausreichend – in nur 455 von über 2.200 Wahlbezirken, also gerade mal einem Fünftel. Hintergrund der Verfahren waren die zahlreichen Wahlpannen am 26. September 2021, als in Berlin nicht bloß der Bundestag, sondern auch das Landesparlament gewählt wurde
Schnell war klar: Auswirkungen auf die Mehrheit im Bundestag würde das nicht haben. Auch Änderungen in den Wahlkreisen würden absehbar nur in zwei von zwölf möglich sein – zu wenig Wahlberechtigte würden in den anderen abstimmen dürfen, um an dem Ergebnis von 2021 etwas ändern zu können. Auch die fürs politische Überleben der Linkspartei im Bundestag unabdingbaren beiden Berliner Direktmandate würden ungefährdet sein.
Was wohl möglich war und schnell ins Zentrum bundespolitischer Bemühungen um eine trotzdem hohe Wahlbeteiligung geriet: Die Angst, die AfD könne, auch ohne Wahlkreisegewinne, ihre Anhängerschaft hochgradig mobilisieren und prozentual stark zulegen. Gerade nach den Enthüllungen um ein Treffen von Rechtsextremen in Potsdam riefen alle Parteien diesseits der AfD dazu auf, mit einer hohen Wahlbeteiligung ein Signal auszusenden.
Geringere Wahlbeteiligung
Diese Aufrufe zeigen bis zum späten Nachmittag nur beschränkt Wirkung. Bis 16 Uhr haben nur rund 40 Prozent der Wahlberechtigten gewählt – 2021 waren es zum selben Zeitpunkt 57 Prozent, also fast die Hälfte mehr.
Bei der CDU-Wahlparty laufen die ersten Ergebnisse ein – man macht sich Hoffnungen, zwei Wahlkreise übernehmen zu können, die 2021 an die SPD und die Grünen gingen, und in denen nun in vielen der 455 Wahlbezirke nochmal gewählt wird. In Charlottenburg-Wilmersdorf lag damals der frühere Regierende Bürgermeister Michael Müller für die Sozialdemokraten vorne, in Pankow der Grüne Stefan Gelbhaar. Wenn die Leute an diesem Sonntag so abgestimmt haben wie in den jüngsten Wahlumfragen, könnte nun die CDU vorne sein. Doch auch die Grünen, deren Kandidatin Lisa Paus seit 2022 als Bundesfamilienministerin zusätzliche Bekanntheit hat, machen sich Hoffnungen, Müller abzulösen
Skurrilerweise würde ein neuer CDU-Wahlkreissieg eine Frau um ihr Mandat bringen, die mit Parteichef Wegner zur Wahlparty gekommen ist: Berlins erst seit einem halben Jahr amtierende CDU-Generalsekretärin Ottilie Klein, mit 39 eine große Nachwuchshoffnung der Partei, rückte 2021 über die Landesliste in den Bundestag. Die aber kommt nur zum Tragen, wenn die CDU weniger Wahlkreise gewinnt, als ihr Parlamentssitze zustehen. Anders als Klein würde SPD-Mann Müller im Bundestag bleiben, weil ihn die SPD-Landesliste absichern würde.
Eine weitere landespolitische Folge wird an diesem Abend angesichts der geringen Wahlbeteiligung immer wahrscheinlicher: Die Berliner Grünen dürften, wegen weniger absoluter Stimmen bei den Zweitstimmen, einen Bundestagssitz verlieren. Das beträfe ausgerechnet die Landesvorsitzende der Partei, Nina Stahr, die wie Klein erst 2021 in den Bundestag kam.
Auch SPD-Mann rechnete sich Chancen aus
Die ersten Ergebnisse, die von der Landeswahlleitung bei der CDU-Party einlaufen, sehen zwar Gewinne bei CDU und AfD. Das Direktmandat der Grünen in Pankow scheint allerdings nicht gefährdet. Doch sind die Zahlen in keiner Weise gewichtet – es ist reiner Zufall, ob zuerst Ergebnisse aus traditionellen Grünen-Hochburgen etwa im angesagten Ortsteil Prenzlauer Berg oder aus ländlicheren, CDU-näheren Regionen des Bezirks einlaufen. Erst für 1.30 Uhr am Montagmorgen hat Landeswahlleiter Stephan Bröchler das Endergebnis angekündigt.
Der 2021 am Grünen Gelbhaar gescheiterte Pankower SPD-Direktkandidat Klaus Mindrup zeigt sich schon zu Beginn seiner Wahlfeier, nur wenige Kilometer von der CDU entfernt, skeptisch, dass es ihm gelingt, den Wahlkreis zu gewinnen. „Ich hatte viel Unterstützung im Wahlkampf, aber ob das reicht?“, sagt er zur taz. Klar sei, dass die Politik der Ampelregierung und damit auch der SPD für ihn „weniger Rückenwind als Gegenwind“ gewesen seien. Daher: „Wenn es heute klappen sollte, wäre es eine Sensation. Aber ich könnte jetzt genauso gut versuchen, die Lottozahlen vorauszusagen.“
Die Laune ist trotzdem bestens im passabel besuchten kleinen Theater „Varia Vineta“ in einem inzwischen auch bereits ordentlich durchgentrifizierten Teil des Ostberliner Großbezirks Pankow. Rund 50 Genoss:innen und Mindrup-Unterstützer:innen sind es, die sich zu der „Wahlabend-Veranstaltung“ der SPD aufgemacht haben. Immerhin. Beim offiziellen Gesamtberliner Wahlkampfabschluss in der Parteizentrale der Bundes-SPD am Freitagabend waren es auch nicht mehr.
Einen „musikalischen Stargast“ hat sich der Mietenpolitiker Mindrup auch noch ins Abendboot geholt: Der 2021 nach recht unschönen Machtmanövern der Spitze der Hauptstadt-SPD aufs Abstellgleis geschobene Berliner Umweltpolitiker Daniel Buchholz singt unter anderem „Strangers in the Night“ von Frank Sinatra. Es gibt ein paar laut quietschende Rückkopplungen. Stört aber keinen, es wird fleißig applaudiert. Buchholz obliegt es, ab kurz vor 19 Uhr die Zeit des Wartens mit seinem Unterhaltungsprogramm zu überbrücken.
Warten auf neue Zahlen
Es ist ein Warten auf Zahlen. Warten aber auch auf die SPD-Landeschefin Franziska Giffey, die sich als eine Art Reisekaiserin von der Veranstaltung von Generalsekretär Kevin Kühnert, der sein Direktmandat in Tempelhof-Schöneberg zu verteidigen hatte, weiter nach Pankow chauffieren lässt.
Mindrup sagt: „Persönlich war das der beste Wahlkampf, den ich je erlebt habe.“ Und der Parteilinke hat einige erlebt. Sowohl 2013 als auch 2017 und 2021 unterlag er dabei zunächst jeweils dem Kandidaten der Linken, zuletzt dann eben dem der Grünen. Anders als Kühnert oder Exregierungschef Müller ist Mindrup nicht über die Landesliste abgesichert. In diesem Winter warb er mit dem Slogan „Neuanfang“ um Erststimmen. „Weil ich der Meinung bin, dass die Ampel das braucht bei den Themen, in denen ich unterwegs bin: Mieter- und Klimaschutz“, so Mindrup.
Lag der SPD-Politiker aufgrund der eigenartigen Ausgangslage mit rund 20 Prozent selbst im besonders wiederholungswahlbedürftigen Pankow nicht-annullierten Erststimmen am Anfang des Wahlabends erst einmal vorn, robbte sich der Grüne Gelbhaar recht bald immer näher an Mindrup ran. Als Franziska Giffey gegen 20 Uhr dann auf ihrer City-Tour verspätet die kleine Feier in Pankow erreicht und rund 70 Prozent der fast 260 Wahllokale im Bezirk ausgezählt sind, liegt der SPD-Mann mit unter 17 Prozent bereits 9 Punkte hinter Gelbhaar mit 26 Prozent – und gefährlich nah am drittplatzierten Kandidaten der rechtsextremen AfD, der zu dem Zeitpunkt auf knapp unter 16 Prozent kam.
„Ich gehe gleich Kotzen, das hier bei uns in Pankow“, sagt eine Landespolitikerin vom linken Parteiflügel mit Blick auf den AfD-Balken zur taz. „Es sieht verheerend aus. Das ist gelaufen“, sagt Mindrup. „Man kommt hier rein und denkt, die Stimmung ist jetzt nicht am Kochen“, ruft Giffey den Gästen von der Theaterbühne aus zu. „Die Ergebnisse für die SPD sehen gut aus. Und das ist eine gute Nachricht“, versucht sich die ehemalige Regierende Bürgermeisterin als Motivatorin. Klaus Mindrup wird dann auch noch mal von Giffey auf die Bühne geholt. Wieder Applaus. „Ja, dit hatta auch vadient“, berlinert die Chefin munter ins Mikrofon. Der Grünen-Kandidat liegt da bereits 10 Prozentpunkte vor Mindrup.
Großer Andrang bei der Linkspartei
Einige hoffnungsvolle Gemüter haben sich zuvor durch den Regen in das Karl-Liebknecht-Haus, die Parteizentrale der Linken gekämpft. „Der Saal ist voll“, sagt die Abgeordnete und Moderatorin des Abends, Katalin Gennburg, „das ist toll“. Bei ausreichend Proviant – und vor allem alkoholischer Versorgung – feiern Kandidat*innen, Wählkämpfer*innen und Parteimitglieder*innen den „skurrilsten Wahlkampf, den Berlin je gesehen hat“.
Obwohl die Partei in den letzten Monaten „die eine oder andere Krise“ gesehen habe, wie ihr Berliner Landesvorsitzender Maximilian Schirmer einräumt, habe der Landesverband einen „fantastischen Wahlkampf“ hingelegt. Parteimitglieder berichten vom Straßenwahlkampf und Haustürgesprächen an den über 6.000 Türen, die man abgeklappert habe. Dabei seien einem vor allem von Herausforderungen berichtet worden, wie Mietpreiserhöhungen, ausgefallenen Heizungen, fehlenden Aufenthaltsräumen für Jugendliche sowie mangelnder Barrierefreiheit im ÖPNV, erzählen sie.
„Mit den Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum, guter Gesundheitsversorgung sowie ausreichend ausgestatteten Schulen und Kitas haben wir in diesem Wahlkampf konkrete politische Themen vorgestellt“, ist vom Bundeschef der Partei zu hören, Martin Schirdewan. „Hoffentlich hat das genug Leute überzeugt, sodass wir mit unseren 4 Bundestagsabgeordneten weiterarbeiten können.“
Abgeordneter Meiser muss bangen
Um diese muss die Linke heute bangen. Zu befürchten ist, dass Pascal Meiser aus Friedrichshain-Kreuzberg, der 2021 über die Berliner Landesliste der Linken in den Bundestag einzog, sein Mandat nach Hessen, an Christine Buchholz, abgeben muss. „Wir drücken die Daumen für Pascal“, sagt die Co-Landesvorsitzende Franziska Brychcy.
„Ich bin stoisch, kämpferisch, gelassen“, sagt der Noch-Abgeordnete Meiser. Man habe einen „unfassbar geilen“ Wahlkampf hingelegt. „Egal wie der Abend ausgeht, darauf können wir aufbauen. Ich bin zuversichtlich gestimmt.“ Von der Partei erhält er Rückenwind. Er sei immer sichtbar und habe für eine positive Öffentlichkeit gesorgt, lobt ihn Schirdewan. Aber auch wenn es der Linken nicht gelingen sollte, sein Mandat zu verteidigen, betont Brychcy: „Pascal, wir sind stolz auf dich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Desaströse Lage in der Ukraine
Kyjiws Wunschzettel bleibt im dritten Kriegswinter unerfüllt
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt