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Berlin, von Italien aus gesehenDie Stadt auf dem 6-Zoll Bildschirm

Ein junges Paar zieht nach Berlin in Vincenzo Latronicos Roman „Die Perfektionen“. Darüber sprach er mit Thomas Brussig im Literaturhaus.

Vincenzo Latronico und wie er Berlin sieht Foto: Marcus Lieder

Vincenzo Latronico hat das Publikum in seinen Bann gezogen an diesem Montagabend im Literaturhaus Berlin. Der in Italien geborene Übersetzer, dessen Deutsch hervorragend ist, obwohl er behauptet, es sei das Gegenteil, spricht mit Thomas Brussig (“Das kürzere Ende der Sonnenalle“) mal auf deutsch, mal auf italienisch über seinen neuen Roman „Die Perfektionen“.

Je nachdem, in welcher Sprache er sich gerade befindet, setzt die eine oder die andere Hälfte des Publikums ihre Kopfhörer auf, um den Dolmetscher zu verstehen; viele ItalienerInnen sind anwesend, begrüßen sich mit „Ciao“ und lauschen diesem Mann, der aus der italienischen Perspektive über Berlin schreibt. Wenn Thomas Brussig zwischendurch behauptet, die beiden Hauptfiguren des Romans könnten von überall herkommen, Italien sei als Herkunftsland in diesem Werk nicht ausschlaggebend, dann ist das bei all dem italienischen Stolz im Publikum anzuzweifeln.

Spätestens, wenn Latronico auf italienisch aus seinem Werk vorliest und zwischendurch deutsche Wörter wie „Krankenkasse“ und „Schwangerschaftsverhütungsmittel“ den melodischen Genuss durchschneiden, dann versteht man: Doch, dieses Buch muss italienische ProtagonistInnen haben. Aber eins nach dem anderen.

„Die Perfektionen“, im Januar 2023 bei Claassen erschienen, skizziert ein junges Paar, das alles Alte, Eingefahrene, Familiäre hinter sich lassen will und aus Italien nach Berlin zieht, um jenes Leben der nachrückenden Erwachsenen zu leben, das man auf jedem sechs Zoll großen Bildschirm den ganzen Tag über sieht: Aufgeräumte Wohnung in Cremetönen, Cafés mit Holzbänken und auf Tafeln geschriebene Preislisten, Essen auf Steingut mit Balscamico-Spritzern und Cashewkernen anstelle von studentischen Eintöpfen in zerkratzten Pfannen.

Die suchen und nicht finden

Dieses Paar repräsentiert eine Generation, die überall irgendwas am MacBook arbeiten und nirgendwo tiefes Glück finden kann, während ihre Eltern noch ‚richtige Berufe‘ und ein Haus hatten. Spannenderweise wird die Lesung eindeutig nicht von der Altersgruppe besucht, über die Latronico schreibt – unter 40 ist hier kaum jemand. Stattdessen scheint sich besonders besagte Elterngeneration für eine Beschreibung der ‚digitalen Nomaden‘ zu interesserieren. Vielleicht, um beruhigt an das viel stabilere und analogere eigene Leben zu denken. Vielleicht aber auch aus ehrlichem Interesse an einer Generation, die sucht und nicht findet.

Vincenzo Latronico eröffnet auf der Lesung noch eine völlig neue Bedeutungsebene dessen, was er mit seinem Buch erschaffen wollte: „Digitale Medien wurden in den letzten Jahren in der Literatur nicht in ihrer ganzen Wucht und ihrem ganzen Einfluss dargestellt, es war immer unecht. Ich wollte kein Buch schreiben, in dem die Figuren mal auf Tinder sind oder mal eine Instagramstory machen. Ich wollte diese völlig neue Realität, die von den digitalen Medien bestimmt wird, beschreiben. Wir leben in dieser technologisierten Welt doch ständig, bis in unsere Träume hinein.“

Latronico verweist auf Brussigs Erfolgsroman, in dem ein Junge eine alte Schallplatte unbedingt haben will. „In meiner Generation gibt es so etwas nicht mehr, etwas Altes, das man gut pflegen muss, weil es einmalig ist. Lieder hören wir online, den Rest kaufen wir neu. Wir können nie mehr in eine Stadt reisen und alles Geheimnisvolle, Verwunschene neu entdecken. Google Maps hat alles immer schon vorgekaut und leicht verdaulich aufbereitet.“

Die Welt geht weiter ohne dich

Warum gerade Berlin für diesen Roman? „In Berlin kann man ein ewiges Erasmus machen, bis man 40 ist.“ Latronico fasst sich an seinen Ohrring und überlegt. „Die Zeit fliegt. Und so ist es auch mit den sozialen Medien: Du bist fünf Stunden im Internet und merkst nichts davon. Die Welt geht weiter und du warst nicht Teil davon.“

Deshalb, jetzt schaltet sich die Übersetzerin des Romans ein, sei die Übersetzung der Zeitformen eine große Herausforderung gewesen. „Es geht um Zeit, um das Verfliegen von Zeit, um Zeitempfinden und Zeittempo. Das darzustellen, funktioniert in verschiedenen Sprachen völlig unterschiedlich.“ Brussig hebt besonders das präzise soziologische Empfinden des Autors und die Beschreibung einer „globalisierten Gentrifizierung“ hervor, zieht das Paar doch am Ende nach Lissabon und merkt, dass es genauso wie Berlin geworden ist.

Brussig beschließt den Abend mit den Worten: „Wat du über Berlin schreibst, vegane Konditoreien und alles und vor allem teuer, dit stimmt alles und et kotzt mich so an. Wer verstehen will, wat in Berlin passiert, muss dieses Buch lesen.“ Ein Berlin-Roman also, der noch viel mehr ist als das, und ein Abend, der viel Lust gemacht hat, sich tief in Latronicos Geschichte zu vertiefen und lange nicht aufs Handy zu schauen.

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