Berlin plant neues Vergabegesetz: Es ist fair angerichtet
Großer Wurf oder Bürokratiemonster? Das Land will ab 2020 mit öffentlichen Aufträgen stärker gute Arbeit mit mehr Lohn und die Umwelt fördern.
Eine relevante Masse an vegetarischer Spaghetti bolognese blubbert im Kochtopfbecken der Großküche. Sebastian Drews, einer von 30 Köchen hier, rührt mit einem Zweihänder-Schneebesen durch 1.200 Portionen Tomatensauce. Zuvor hat er 20 Kilo Zwiebeln in sehr viel Öl angeschwitzt. Gegenüber kocht sein Kollege Marko Kaebert 2.000 Portionen Spaghetti. Zum Umrühren benutzt er eine Schaumkelle, mit der man wohl notfalls auch ein Paddelboot voranbringen könnte. Für das Abschrecken seiner drei Kochtrommeln mit je 40 Kilo Spaghetti benutzt er jeweils 150 Liter Wasser.
Rund 17.000 Essen werden hier täglich hergestellt. Das sind Mengen, bei denen es einen Unterschied macht, ob das Essen Bio ist oder nicht. Und allein in dieser Schicht kommen über 200 Kilogramm Bio-Nudeln in die Töpfe.
Die Firma Drei Köche ist ein auf Kitas und Schulen spezialisierter Catering-Dienst, der vor wachsenden Herausforderungen steht. Denn der Berliner Senat hat beschlossen, schon zum nächsten Schuljahr kostenloses Schulessen für alle Schüler*innen von der ersten bis zur sechsten Klasse einzuführen. Ein schneller und rigoroser Schritt, der teilweise die Kapazitäten der Schulen überlastet.
Klaus Kühn, einer der Geschäftsführer des Caterers Drei Köche, findet den Schritt dennoch richtig – insbesondere für Kinder aus armen Familien, weil komplizierte Anträge für Kostenbefreiung wegfielen und niemand hungrig bleiben müsse. „Einige Kinder kommen am Montag in die Schule und essen wie ein erwachsener Mann, weil sie am Wochenende zu wenig bekommen haben“, sagt Kühn. Der Caterer mit 30 Köchen und 270 Mitarbeiter*innen an den Schulmensen bekocht im Auftrag des Landes Berlin bisher 65 Schulen und zehn Kitas.
Arbeitsnormen, Vergabemindestlohn, Bio-Lebensmittel
Die Firma ist eine von zahlreichen Betrieben, die an Berlins neuem Vergabegesetz gebunden sind, das ab 2020 greifen soll. Um Schulen mit Essen zu beliefern, muss das Unternehmen sich auf eine öffentliche Ausschreibung bewerben, in der aufgeführt ist, was der Bezirk erwartet. Das beginnt bei Arbeitsnormen und einem Vergabemindestlohn und geht weiter mit dem Anteil der zu verwendenden Bio-Lebensmittel. Jede Bewerbung füllt einen ganzen Aktenordner.
Rot-Rot-Grün hat beim Regierungsantritt 2016 im Koalitionsvertrag für die Erneuerung des Vergabegesetzes zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Dinge versprochen: Das Vergaberecht sollte weniger Bürokratie für kleine und mittelständische Unternehmen bedeuten und gleichzeitig wollte der Senat soziale und ökologische Kriterien verschärfen – die in der Regel allerdings mehr Papierkram bedeuten.
Anfang dieser Woche präsentierte die federführende Senatsverwaltung für Wirtschaft von Ramona Pop (Grüne) einen Entwurf für ein neues Vergabegesetz, das noch im Herbst im Abgeordnetenhaus beschlossen werden und dann ab 2020 gelten könnte.
Und tatsächlich scheint Pop beides unter einen Hut zu bekommen: Es finden sich nun sowohl weniger Bürokratie als auch mehr sozialökologische Kriterien im neuen Vergabegesetz. Der Landesmindestlohn für öffentliche Aufträge wird angehoben von 9 auf stattliche 11,90 Euro und Pop führt die Tariftreue ein – eine der Kernforderungen der Gewerkschaften. Damit sind Firmen bei staatlichen Aufträgen zumindest an die unterste Stufe des öffentlichen Tarifs gebunden. Gleichzeitig sollen künftig ökologische und nachhaltige Angebote bei Vergaben deutlich bevorzugt werden.
Entbürokratisierung versprochen
Und die versprochene Entbürokratisierung soll es zumindest für kleinere und mittelständische Unternehmen geben. Denn – und das ist das Zugeständnis an die Wirtschaft – alle diese wiederum mit viel Papierkram nachzuweisenden sozialökologischen Kriterien greifen erst ab einem Schwellenwert von 10.000 Euro für Liefer- und Dienstleistungen und ab 50.000 Euro für das Baugewerbe. Unterhalb dieser Werte gibt es abgespeckte Vergabeverfahren.
Das heißt einerseits, dass kleine Bewerber eine Menge Papierkram sparen können, andererseits bedeutet es aber auch, dass der Vergabe-Mindestlohn von 11,90 nur für Aufträge ab 10.000 Euro gelten wird. Für alle darunter zählt weiter der gesetzliche Lohn von 9,17 Euro – und sozialökologische Kriterien sind freiwillig. Entsprechend verfängt an dieser Stelle Kritik. Denn wie viel Gewicht hat ein Vergabegesetz mit sozialökologischen Kriterien, wenn diese nur für einen Teil der Dienstleistungen und öffentlichen Beschaffungen gelten?
Doch ganz so einfach ist es nicht. Was nämlich auch niemand will und schon gar nicht die als Wirtschaftssenatorin für Unternehmen zuständige Pop: wichtige Investoren mit überzogenen Vergabeforderungen zu verprellen. Ansonsten drohen Vergabestellen auf wichtigen Ausschreibungen ohne Angebot sitzen zu bleiben – wie es etwa bei Ausschreibungen für den Bau von 30 Kita-Einrichtungen in modularer Holzbauweise in Charlottenburg-Wilmersdorf der Fall war. In dem Bezirk fehlen nun noch mehr Kita-Plätze als ohnehin schon, und es musste eine neue Ausschreibung gestartet werden.
Zudem liegen laut Schätzungen der Verwaltung ohnehin 80 Prozent aller Aufträge über den Schwellenwerten. Nachhaltigkeit werde also überwiegend zur Pflicht. Pop sagte der taz: „Wir schlagen ein wirtschaftsfreundliches Gesamtpaket vor, das auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt und die unterschiedlichen Interessen zusammenbringt.“ Das Land Berlin brauche immense Investitionen von Unternehmen und sozialökologischen Ziele – „wir haben allen Spielraum im Hinblick auf unsere politischen Ziele genutzt“, sagt Pop.
Vergabegesetz Das Gesetz regelt, wie öffentliche Aufträge vergeben werden sollen: nämlich in einer offenen und gerechten Ausschreibung. Firmen können sich zu gleichen Bedingungen bewerben und bei Benachteiligung klagen. Nach neuem EU-Recht können Länder sich auch sozialökologische Kriterien ins Gesetz schreiben. Bisher bekommt häufig das günstigste Angebot und damit Lohndumping den Zuschlag.
Wirksamkeit Künftig sollen sich laut der grünen Wirtschaftssenatorin Ramona Pop alle Aufträge über 10.000 Euro an verschärfte ökologische Kriterien und einen Mindestlohn von 11,90 € halten. Betroffen seien davon 80 Prozent der 5 Milliarden Euro, die Berlin jährlich ausgibt.
Kontrolle Berlins über 1.000 Vergabestellen will Pop zentralisieren und digitalisieren. Eine Kontrollgruppe soll stichprobenartig prüfen. (gjo)
Auftragsvolumen von 5 Milliarden Euro
Tatsächlich ist das Vergaberecht ein politisch unterschätztes Instrument. Denn der Senat hat mit einem geschätzten Auftragsvolumen von 5 Milliarden Euro ein gehöriges Gewicht. Wenn es gelingt, einen großen Teil dieses Geldes in gute Arbeit und nachhaltige Beschaffung zu lenken, wäre das ein wichtiger Faktor. Überbietet die öffentliche Hand den gesetzlichen Mindestlohn von 9,17 Euro, hebt sich das allgemeine Lohnniveau.
Darüber hinaus kaufen staatliche Stellen natürlich neben Dienstleistungen nicht gerade wenige Produkte ein, von denen möglichst viele fair gehandelt sein sollen. Allein wenn man sich die 30 Tonnen Reis, die 120.000 Bananen oder die 20.000 Ananas vorstellt, die laut Schätzungen monatlich an Berlins Schulen verzehrt werden und die möglichst bio sein sollen, bekommt man schon eine Idee von der Dimension einer politisch gestalteten Vergabe. Wenn sie denn funktioniert.
In der Großküche der Drei Köche sind bereits 55 Prozent der Zutaten Bioprodukte. Die Nudeln und die Bolognese für heute sind bio, die Kartoffeln für den Quark am kommenden Montag hingegen sind es nicht. Geschäftsführer Kühn fährt mit einem SUV zu einer Grundschule am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Hier werde der wichtigste Teil der Arbeit erledigt, sagt er: die Essensausgabe an die Schüler.
Dafür ist eine herzliche Frau verantwortlich: Kazimiera Centner, die jedes Kind genau fragt, was es denn haben wolle. Freundlich, aber bestimmt verteilt sie Eintopf, Kartoffeln, Fischfilet und Salat: „Heute nur Kartoffeln und keine Soße? Ok, aber morgen dann wieder mit Gemüse, gut?“ Jedem Kind wünscht sie einen guten Appetit. Die Hortkinder, die gerade zu Tisch gehen, bedanken sich. Wenn ein Kind keinen Fisch will – es ist Freitag –, darf das nächste gern zwei haben, wenn es denn mag. Die Kinder finden das gut, und tatsächlich schmeckt der verkostete Erbseneintopf wie frisch gemacht und lecker.
Spitzenreiter für Vergabemindestlohn
Kühn sagt, dass er Mitarbeiterinnen wie Centner, welche in seinem Betrieb hauptsächlich an der Ausgabe arbeiteten, gern in größerem Umfang beschäftigen würde. Die meisten der 270 Mitarbeiter*innen an der Ausgabe arbeiteten nur in Teilzeit-Jobs und für den Mindestlohn. Viele müssten ergänzend aufstocken. Tatsächlich ist die sogenannte Minijob-Falle eine Form der prekären Beschäftigung, von der zum Großteil Frauen betroffen sind. Bei den Drei Köchen haben laut Kühn nur zwei Mitarbeiter*innen Mini-Jobs. Viele seien zwar in Teilzeit, aber zumindest sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
In der öffentlichen Gemeinschaftsverpfelgung arbeiten ingesamt laut Arbeitsagentur allerdings relativ viele Personen in Mini-Jobs auf 450-Euro-Minijob-Basis und müssen mit Sozialhilfe aufstocken. Das begünstigt Altersarmut und betrifft oft alleinerziehende Mütter ((siehe Kasten).
Mit der neuen Novelle steht Centner in jedem Fall ein besserer Mindestlohn zu. Geschützt vor Altersarmut ist sie allein damit noch nicht. Auch deswegen würde Kühn sich für die Schulverpflegung wünschen, dass Essen integraler Bestandteil des Schulalltags würde. Er sagt: „Es wäre ideal, wenn es eine Frühstücks-, Mittags- und Nachmittagsausgabe gebe würde, so wie in der Kita auch – dann wären wir raus aus der Teilzeitfalle und könnten die Ausgabekräfte länger beschäftigen. Sechs Stunden würden ja schon reichen für eine bessere Altersvorsorge.“
Bundesweiter Spitzenreiter für Vergabemindestlohn wird Berlin mit der Novelle in jedem Fall. Und auch die Implementierung von Nachhaltigkeits- und Umweltkriterien sowie von beschäftigungspolitischen Maßnahmen ist nicht selbstverständlich, wenn man in andere Länder schaut: Zuletzt gab es einen Rollback in Nordrhein-Westfalen, wo Schwarz-Gelb Regelungen zu Umweltschutz, Frauenförderung und Arbeitsrechten kassierte, und im Jamaika-regierten Schleswig-Holstein ist Nachhaltigkeit nur noch freiwillig – beide Gesetze widersprechen damit eigentlich dem Zeitgeist.
Denn die Vorzeichen des Vergaberechts haben sich in den vergangenen Jahren geändert. Früher galt die eiserne Regel: Der Staat muss bei öffentlichen Ausschreibungen und Einkäufen immer das billigste Angebot annehmen – soziale und ökologische Kriterien galten als vergabefremd. Jurist*innen streiten zwar noch immer darum, doch mittlerweile ist es dank maßgeblicher EU-Richtlinien möglich, Vergaberecht auch zur politischen Gestaltung zu nutzen.
„Geisel der Ministerialverwaltung“
Gemeinschaftsverpflegung Ähnlich wie im Reinigungsgewerbe gibt es in der Gemeinschaftsverpflegung einen hohen Anteil atypischer Beschäftigung. Beide Bereiche profitieren in großem Maße von öffentlichen Aufträgen. In Berliner Unternehmen der Gemeinschaftsverpflegung arbeiten rund 18.000 Menschen, davon ein Drittel, 5.600, geringfügig. Wenn diese, wie häufig üblich, im Mini-Job plus aufstockenden Sozialleistungen verharren, droht Altersarmut.
Reinigungsgewerbe 46.600 Berliner*innen arbeiten in der Gebäudereinigung. Davon sind 12.300, 26 Prozent, geringfügig beschäftigt, überwiegend Frauen und häufig zu fragmentierten Arbeitszeiten. Zur Aufwertung wird derzeit über Tagesreinigung und Rekommunalisierung diskutiert. (gjo)
Die EU-Vorgaben sind zwar etwas schwammig, sehen aber nach Auffassung vieler Jurist*innen ausdrücklich vor, dass sozialökologische Faktoren sehr wohl eine Rolle spielen dürfen beim Ausgeben von Steuergeldern. Ganz abgesehen davon können natürlich auch nachhaltige Produkte auf längere Sicht günstiger sein, wenn längere Lebensdauer oder gar Klimaschäden einberechnet werden.
Auf Klagen vor der Vergabekammer gegen die neuen Regelungen ist man in den Behörden natürlich trotzdem eingestellt. In den Vergabestellen schwingt laut einhelliger Meinung vieler Verwaltungsmitarbeiter*innen häufig auch Angst mit, bei Vergabeverfahren Fehler zu begehen. Manche sagen sogar: „Das Vergabegesetz ist die Geisel der Ministerialverwaltung.“ Die klammen Bezirke stünden zwischen den Stühlen – zwischen Sparzwang und Vergaberecht. Aus Furcht zögen sich Vergabestellen dann auf gerichtsfeste Punkte zurück, bei denen sie sich ganz sicher seien – und landeten wiederum bei niedrigen Preisen. Eine Folge davon sei die Niedrigpreiskonkurrenz und schlechte Löhne.
Ein Problem dürfte dabei sicher fehlende Expertise sein. Berlin hat laut Senat schätzungsweise über 1.000 unterschiedliche Vergabestellen. Jede noch so poplige Verwaltungseinheit im Bezirk, jedes Amt, jedes Senatsreferat kann Aufträge, Dienst- und Lieferleistungen öffentlich ausschreiben und damit Vergabestelle sein. Wie viele Vergabestellen es in Berlin genau gibt, weiß niemand. Ramona Pop will deswegen zentralisieren und Expert*innen in je einer Vergabestelle pro Senatsverwaltung und Bezirk bündeln. Zudem soll ein elektronisches Verfahren eingeführt werden.
Trotz der von Pop betonten Wirtschaftsfreundlichkeit des Gesetzes bekommt die grüne Senatorin viel Widerspruch aus der wirtschaftsfreundlichen Ecke: Die Kammern von Industrie- und Handwerk wehren sich. In einer Berliner Erklärung etwa positionierten sie sich deutlich gegen das reformierte Gesetz. Ein Hauptstreitpunkt sind dabei die Schwellenwerte. Die aktuell vorgesehenen 10.000 Euro sind aus Sicht von IHK und Opposition deutlich zu niedrig.
„Hürden bleiben zu hoch“
Die CDU bezeichnet sie als „völlig untauglich, um das Vergabeprozedere zu entschlacken“ und die FDP findet nach wie vor, dass sozialökologische Kriterien „im Vergaberecht nichts verloren haben“.
Die IHK bemängelt, dass ein unterschiedlicher Mindestlohn in Berlin und Brandenburg Probleme bei der Personalkostenabrechnung nach sich zöge. Man hätte sich gewünscht, dass das Vergaberecht wirtschaftsfreundlicher würde: „Die Hürden bleiben zu hoch. Schon jetzt bewerben sich drei von vier Unternehmen erst gar nicht auf öffentliche Ausschreibungen“, sagt Susann Budras, Expertin für Vergaberecht der IHK.
Auch die Unternehmen sind laut IHK daran interessiert, dass langfristige Konzepte und teurere Angebote angenommen würden. Dafür brauche es mehr Expert*innen in den Vergabestellen: „Wenn in den Vergabestellen weiter die Angst vor Formfehlern regiere, werde auch künftig das günstigste und nicht das wirtschaftlichste Angebot angenommen“, so Budras. Auch habe der Senat es in seiner Novelle versäumt, mehr Innovationsfreundlichkeit zu fördern – die IHK hätte es etwa gut gefunden, wenn innovative Konzepte und Techniken einen Wettbewerbsvorteil ähnlich wie faires Wirtschaften einbringen würde.
Kritik gibt es auch von NGOs aus dem Fairgabebündnis, das sich für nachhaltige öffentliche Beschaffung einsetzt. Von Michael Jopp etwa, dessen offizielle Jobbezeichnung Fachpromoter für kommunale Entwicklungspolitik – also Lobbyist für faire Vergabe – ist. Jopp ist Anfang 30, trägt seine langen, dunklen Haare in einem Dutt, einen Backen- und Kinnbart, weißes T-Shirt und kurze Hosen. Er ist Ansprechpartner für viele Mitarbeiter*innen in der Verwaltung, wenn es um die Konkretisierung von fairer Vergabe geht. Seine Stelle wird vom Bund und dem Land bezahlt und ist Teil der Initiative „Eine Welt Stadt Berlin“.
Zentralisiertes und digitalisiertes Beschaffungssystem
Trotz der Fortschritte beim Mindestlohn und sozialen Kriterien, sieht Jopp das neue Vergabegesetz mit gemischten Gefühlen und hofft noch auf Verbesserungen: „Man müsste die Wertgrenzen für Beschaffung eigentlich auf 500 Euro herabsetzen. Die nun festgelegten 10.000 Euro greifen nicht für alltägliche wichtige Anschaffungen wie etwa dem Kaffee in Verwaltung und Kantine oder dem kaputten Schreibtisch, den ein Mitarbeiter neu bestellt.“
Mit Freiwilligkeit unterhalb der Wertgrenzen käme man nicht weit: „Man muss faire Beschaffung ganz klar auch in der Leistungsbeschreibung verankern können. Eigenerklärungen oder Absichtsbekundungen helfen da nicht weiter: Das ist dann auch nur der 18. Wisch, der unterschrieben und irgendwo abgeheftet wird.“
Helfen könnte dabei aus Jopps Sicht ein zentralisiertes und digitalisiertes Beschaffungssystem und eine Positivliste. „Es braucht eine Art fairen Otto-Katalog, in dem sozial-ökologische Produkte und Dienstleistungen aufgeführt sind, welche die geforderten Kriterien erfüllen.“ Insgesamt sei er allerdings froh, „dass das neue Vergaberecht kommt, aber es muss letztlich auch in der Praxis funktionieren“, sagt Jopp und hofft auf klare Verwaltungsvorschriften für faire Kriterien.
Während es also bei der nachhaltigen Beschaffung und Fair Trade noch einige Fragezeichen gibt, könnte die verankerte Tariftreue und der höhere Mindestlohn deutlichere Folgen haben.
Reinigungsgewerbe könnte profitieren
Ein Feld, wo sich rasch Erfolge einstellen könnten, sind etwa das Reinigungsgewerbe und andere Niedriglohnsektoren. Viveka Ansorge von Joboption Berlin, einem vom Senat geförderten Projekt für bessere Arbeitsbedingungen, sagt zum neuen Vergabegesetz: „Wenn es richtig gemacht wird, könnte Bewegung in prekäre Beschäftigungsfelder kommen – das betrifft auch die sogenannte Minijob-Falle.“ Durch einen höheren Mindestlohn müssten etwa Reinigungskräfte sehr viel weniger arbeiten, um 450 Euro zu erreichen. „Bleiben sie jedoch bei der Stundenzahl, rutschen sie durch den höheren Lohn in einen Midi-Job mit vollständiger Sozialversicherung. Das ist positiv“, sagt Ansorge.
Einer, der sich mit praktischem Saubermachen auskennt, ist Christian Heistermann. Er ist selbstständiger Meister in der Gebäudereinigung und ein echter Tatortreiniger. Er ist Mitte 50, groß, hat ein breites Kreuz und raucht Kette. Sein in Mahlsdorf sitzender Betrieb läuft gut – auch dank voller Auftragsbücher aus der Privatwirtschaft. Sein Prestigeobjekt ist der Fernsehturm am Alexanderplatz, den seine Fachkräfte nachts sauber machen.
Zu dem noch bestehenden Vergaberecht sagt Heistermann: „Öffentliche Aufträge nehme ich grundsätzlich ungern an, weil ich meine Mitarbeiter nicht so schlecht bezahlen will.“ Mit anständigen Löhnen sei man in öffentlichen Ausschreibungen wie etwa bei der Schulreinigung nicht mal entfernt konkurrenzfähig. Er selbst zahle zwischen 11 und 12 Euro. „Bei dem, was die öffentliche Hand bezahlt, denke ich mir: ‚Mach doch deinen Dreck alleine weg!‘“
Mehr Lohn – aber dann weniger Stunden
Die Vorgabe, nach denen etwa Schulreinigung ausgeschrieben wäre, seien eine Zumutung und nur zu schaffen, wenn man bestimmte Bereiche dreckig lässt – „Wegdrücken“, wie es im Reinigungsgewerbe heißt. Und schlechte Aufträge steigerten die Unzufriedenheit. Heistermann rechnet vor: Bei einer öffentlichen Ausschreibung zur Schulreinigung müsste man bis zu 500 Quadratmeter in der Stunde putzen. „Man schaffe aber – wenn man gut ist – bei zweistufigem Wischen höchstens die Hälfte.“ Faktisch sei die Arbeit also nicht zu schaffen. Kein Wunder, dass viele Schüler nicht mehr aufs Schulklo gehen.
Warum es dann trotzdem Angebote für die Ausschreibungen gibt? Heistermann sagt: „Das ist nichts Neues in der Gebäudereinigung: Anbieter spielen Arbeitnehmer gegeneinander aus und drücken die Kosten.“ Eine Erhöhung des Vergabemindestlohns allein löse das Problem dabei noch nicht. Er befürchtet, dass sich mit dem steigendem Lohn einfach die Zahl der Stunden verringert, die für die selbe Fläche zum Putzen zur Verfügung steht. Es bräuchte klare Vorgaben und realistische Zielsetzungen, was wirklich zu schaffen ist. Für Leistungsbeschreibung in der freien Wirtschaft gebe es sinnvolle Regeltabellen, die aus Heistermanns Sicht dringend auch die Vergabestellen nutzen sollten.
Und natürlich sagt Heistermann – wie fast alle Unternehmer, die mit dem Vergaberecht konfrontiert sind: der bürokratische Wahnsinn muss weg. Verständnis für ökologische Kriterien hat er zwar, „aber dann soll man mir doch bitte konkret sagen, welches Bio-Reinigungsmittel ich für welchen Preis erwerben soll und das entsprechend in der Ausschreibung einpreisen“. Dann würde er sich vielleicht mal wieder auf einen öffentlichen Auftrag bewerben. Aber so richtig glaubt Heistermann nicht daran.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich