Berlin Buch Boom: Hier Krähwinkel, dort London
■ Zwei Führer durch den Text der Stadt suchen ihr Heil in der Vergangenheit
Es gibt fünf Ideen von Berlin, mindestens fünf. Eine entstand vor der Aufklärung, eine andere danach, eine mit der Machterlangung Hitlers, eine nach dem Zweiten Weltkrieg. Und schließlich ist da die jetzige, die nach dem Fall der Mauer aufgekommen ist, und von der man noch nicht weiß, wie sie sich in die Geschichte einschreibt. Von all den anderen Ideen und Konzepten aber sind Reste in der Stadt zurückgeblieben, steinerne Zeugen, die ungeachtet der weiteren Entwicklung der Umgebung sichtbar blieben.
Eine denkbare Methode, die Stadt und die Überbleibsel ihrer Vorgängermodelle zu begreifen: Man nähert sich der Stadt über die Schriftsteller und die von ihnen produzierte Literatur. Denn war Berlin bis hin zu den Anfängen des 19. Jahrhunderts eine für die Literatur eher unbedeutende Stadt – in der es Lessing beispielsweise nie lange aushielt – , wurde Berlin im bürgerlichen Zeitalter zu einer Literaturmetropole und gehörte in den zwanziger Jahren zu den bedeutendsten Orten der Weltliteratur.
Die Gründe dafür konnte das aufmerksame Auge schon Mitte des letzten Jahrunderts wahrnehmen. „Hier ist Berlin Paris, dort London, hier Krähwinkel, dort Kaserne, hier eine Demokratie, dort ein Bureau, hier ein Bethaus, dort ein lustiger Markt, und nur, wenn man aus allen diesen streitenden Eigenschaften durch seine Familienkreise gegangen ist, kommt man erst in das eigentliche Berlin zurück“, schrieb der Feuilletonist Adolf Glaßbrenner um 1850.
Mit der Nazizeit und dem nachfolgenden Kalten Krieg hatten jedoch alle Lebendigkeit, alle Vielfalt, all die schönen Erinnerungen an die goldenen zehner und zwanziger Jahre ein Ende. Aus der Literaturmetropole war die Stadt der Bücherverbrennungen geworden.
Darauf folgte im Westteil nichts als der bis heute andauernde belletristische Provinzialismus, der Ostteil jedoch war überschattet von dem realsozialistischen Zensur- und Kitschgebot. Die Stadt war geteilt, und ihre Teilung wurde immer mehr zu ihrem einzigen Thema. „Durch hohe Fenster blick ich in den Westen. / Von Osten blick ich und von oben her: / Aus jenem üblen von den deutschen Resten / In den, worin mir noch viel übler wär“ (Peter Hacks, Alte Charité, 1988). Mit dem Fall der Mauer fiel dann auch die oppositionelle DDR-Literatur in sich zusammen, und damit gab es keine relevante Berliner Literaturproduktion mehr. Bis heute hat sich Berlin nicht mehr so richtig von diesem Einschnitt erholen können.
So bleibt literarischen Führern nichts anderes übrig, als ihr Heil in der Vergangenheit zu finden. Der „Literarische Führer Berlin“ versucht diese Näherung auf vielfältige Weise: zunächst in der Chronologie, dann über einen lexikalischen Teil, und schließlich bieten die Herausgeber einige Touren an, die ein literarisches Berlin erlaufbar werden lassen. Das außerordentlich reiche Material, das in diesem Buch verarbeitet worden ist, lässt es für Kundige unentbehrlich werden.
Doch hat das Buch einen entscheidenden Haken: Dadurch, dass man Biografisches über die Autoren erfährt und sie nun einzelnen Straßen und Häusern zuordnen kann, kann man sich den verschiedenartigen Vorstellungen dieser Stadt nicht wirklich nähern. Berlin wird so lediglich zu einem Rahmen, in dem Literatur stattgefunden hat. Das Buch „Berlin. Wege durch den Text der Stadt“ geht da weiter.
Der Autor Michael Bienert hat sich dafür entschieden, ausschließlich literarische Spaziergänge anzubieten, um so der Literatur der Stadt auf die Spur zu kommen. Dabei ist ihm das zu Beschreibende selbst zur Literatur geworden, die kleinen Feuilletons über den Mariannen- oder den Koppenplatz bieten kurzweilige Unterhaltung, ohne dass Bienert das Geschichtliche und Soziale aus dem Blick geraten.
Beide Bücher machen allerdings deutlich, dass sich anhand der Geschichte der städtischen Literatur über die Stadt selbst nur oberflächlich berichten lässt. Zur Stadt selbst sollte man am besten die Autoren und ihre Bücher selbst lesen. Jörg Sundermeier
Michael Bienert: „Berlin – Wege durch den Text der Stadt“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999, 230 Seiten, 29,90 DM
Fred Oberhauser, Nicole Henneberg: „Literarischer Führer Berlin“. Insel Verlag, Frankfurt/M. 1998, 520 Seiten, 32,80 DM
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