Berichterstattung über Nahost-Konflikt: Komplizierte Wahrheitsfindung
Der Grüne Volker Beck beschwert sich beim Presserat über propalästinensische Berichte der „Deutschen Presse Agentur“.
Nicht immer erreichen Nachrichten über getötete palästinensische Zivilisten die deutsche Öffentlichkeit. Wenn, dann stammen sie meist von der Deutschen Presse-Agentur (dpa). An deren Berichten störten sich zuletzt proisraelische Journalisten und Politiker. Grünen-Politiker Volker Beck reichte im vergangenen Sommer wegen einer dpa-Meldung sogar Beschwerde beim Deutschen Presserat ein.
Den Ausschlag für die Beschwerde habe eine Meldung vom 12. Juli 2017 gegeben, schreibt Die Welt. „Zwei Palästinenser bei israelischer Militäroperation getötet“, titelte die dpa damals. Beck verwies darauf, dass die Überschrift einen umgekehrten Ablauf des Ereignisses suggerierte.
Es geht um folgenden Fall: Am 12. Juli 2017 marschierten Dutzende israelische Soldaten mit mehreren gepanzerten Fahrzeugen in das palästinensische Flüchtlingslager Dschenin ein, um einen Verdächtigen festzunehmen. Das Lager im Norden des Westjordanlands befindet sich unter der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde und ist für seinen Widerstand gegen die Besatzung bekannt. Auch diesmal bewarfen palästinensische Jugendliche die gepanzerten Fahrzeuge mit Steinen. Israelische und palästinensische Quellen berichten, dass das Militär auch mit Sprengstoff beworfen und vereinzelt beschossen wurden. Israelische Soldaten wurden nicht verletzt.
Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem hat den Fall untersucht und palästinensische Zeugen befragt. Laut denen hatten sich Scharfschützen des israelischen Militärs in einer Gasse versteckt. Die Militärjeeps seien an der Gasse vorbeigefahren und hätten abrupt gebremst, so dass die Demonstranten, die den Jeeps hinterherliefen, direkt vor der Gasse anhielten. Aus der Gasse seien in dem Moment scharfe Schüsse auf die palästinensische Menschenmenge abgefeuert worden. Der 21-jährige Sa’ed Salah wurde am Hinterkopf und Rücken getroffen. Der 16-jährige Aws Salameh in den Bauch. Beide Jugendliche starben, zwei weitere wurden verletzt.
ist in Jerusalem aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Er engagiert sich in verschiedenen Initiativen gegen die israelische Besatzung.
Laut allen Augenzeugen waren die beiden Erschossenen unbewaffnet. Die israelischen Soldaten seien zwar früher in der Nacht beschossen und mit Sprengstoff beworfen worden, allerdings nicht unmittelbar vor den Schüssen. B’Tselem resümiert die Untersuchung, dass sich die Soldaten nicht in Lebensgefahr befanden und deshalb, selbst nach israelischem Militärrecht, illegal handelten. Allem Anschein nach wurden die Jugendlichen in einen Hinterhalt gelockt und ohne Warnung erschossen.
Die deutsche Nachrichtenagentur dpa berichtete unter der Überschrift „Zwei Palästinenser bei israelischer Militäroperation getötet“ und zitierte in der Meldung das israelische Militär und palästinensische Quellen. Daraufhin reichte Beck Beschwerde beim Presserat ein. Seiner Meinung nach habe die dpa mit ihrem Bericht gegen den Pressekodex verstoßen. Den tödlichen Schüssen sei ein Angriff vorausgegangen. Dies würde verschwiegen.
Die Überschrift sei zwar kein expliziter Fehler, aber eine „Verzerrung der Wahrheit“. Die von der dpa gewählte Überschrift stelle für ihn kein Einzelfall dar. Er habe, heißt es in der Welt, ein „umfangreiches Dossier mit dpa-Meldungen seit 2013“, bei denen in ähnlicher Weise mit der Wahrheit verfahren worden sei.
Eine Frage des Maßstabs
Beck macht sich mit seiner Argumentation mit rechten Politikern in Israel gemein, die gern behaupten, dass Jugendliche, die Steine auf gepanzerte Militärautos werfen, wie Terroristen behandelt werden sollten. Dies widerspricht aber den offiziellen Einsatzregeln des israelischen Militärs. Beck hat bei Ausschreitungen in Iran oder der Ukraine immer wieder seine Sympathie für unbewaffnete Demonstranten erklärt. Diese seien, egal ob randalierend oder nicht, stets zu beschützen, tötende Polizei- und Militärbeamte hingegen zu verurteilen. Dass Beck im Westjordanland andere Maßstäbe anlegt, ist irrwitzig.
Der Presserat lehnte Becks Beschwerde ab, die Recherche von B’Tselem steht seit einem halben Jahr online. Das hindert Beck aber nicht daran, seinen Vorwurf in der Öffentlichkeit weiter zu äußern. Auch die Journalisten Esther Schapira und Georg Hafner haben Anfang Januar die Anschuldigungen gegen die dpa in der Jüdischen Allgemeinen wiederholt. Dort appellieren sie an ihre Kollegen, diese mögen stets ihre Quellen offenlegen und sich der Propaganda enthalten, „egal ob man selbst glühender Zionist ist oder das Herz für den palästinensischen ,Freiheitskampf' schlägt“. Daher ist die Unverfrorenheit, mit der Schapira und Hafner nahelegen, die beiden getöteten Palästinenser hätten die israelischen Soldaten beschossen und mit Brandbomben beworfen, mehr als bedenklich.
Nicht immer einfach
Die Wahrheitsfindung in einer Konfliktregion wie Israel/Palästina nicht immer einfach. Die Informationen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen stammen meist von einer der Konfliktparteien. Auch zivile Beobachter tendieren dazu, Geschehenes je nach politischer Überzeugung wahrzunehmen. Auch B’Tselem verfolgt eine politische Agenda: Die Organisation fordert die sofortige Beendigung der Besatzung des Westjordanlands. Wem soll man also glauben?
Journalisten, die über besetzte Gebieten berichten, stehen vor einem publizistischen Dilemma. Der Vorwurf, die Berichterstattung über israelische Menschenrechtsverletzungen trage dazu bei, antisemitische Stereotype zu produzieren, wiegt hierzulande zu Recht schwer. Es ist aber auch zu bedenken, welche Auswirkung Berichte, die palästinensische Zivilisten zu Unrecht in die Nähe von Terroristen rücken, auf die hiesigen muslimischen und arabischen Communitys haben.
Teile dieses Artikels wurden am 19. und 20. Februar 2018 nach Beschwerden Volker Becks präzisiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken