Bergbau im Ruhrgebiet: Bottrops letzte Zeche macht dicht
In einem Monat steht Bergmann Bernd Haack vor der Rente. Raya Bolduan und Lukas Böhm werkeln an der Zukunft des Ruhrgebiets.
Seit 2007 steht das fest, jetzt aber zählen die letzten Bergmänner des Landes die letzten Tage. „Noch sind es 18“, sagt Bernd Haack, Markscheider bei Prosper-Haniel, ein Vermessungsingenieur in der Bergbausprache. Eine gute Stellung ist das, eine, für die Bernd Haack einst sein Fachabitur nachgeholt und eine Technikerschule besucht hat. Seit 34 Jahren ist er Bergmann.
Mit gerade einmal 15 Jahren begann er im rheinischen Niederberg seine Ausbildung. Schon sein Vater war Bergmann, sein Großvater und sein Urgroßvater waren es auch. „Heute sieht man nach links und nach rechts, und immer mehr Kollegen verschwinden.“
Ein kräftiger Wind weht durch die zwölf Meter hohe, elf Meter breite Schachtglocke am Fuß der rund 1.200 Meter tiefen Sohle. Eine Sohle ist so etwas wie eine Etage. RAG-Sprecher Holger Stellmacher erklärt: „Der Förderkorb fährt mit 12 Metern pro Sekunde, das sind 43 Kilometer in der Stunde.“ Auch Stellmacher ist seit 34 Jahren „auf Zeche“. Im letzten Jahr des Steinkohlebergbaus hat der 50-Jährige Dutzende Besuchergruppen durch die Grubenbaue Prosper-Haniels geführt. Alle wollen noch einmal hinunter.
Prosper-Haniel, die letzte Zeche im Ruhrgebiet
Städte wie Bottrop wären ohne Kohle und Stahl heute noch Dörfer. Beides machte das Ruhrgebiet im 19. und 20. Jahrhundert zu einer Metropole von fünf Millionen Menschen. Was kommt nach der Kohle, nach dem Stahl? Was ist längst Gegenwart? Was die Zukunft des Ruhrgebiets?
„Erst mal kommt der Bundespräsident und dreht den Schalter um“, sagt Stellmacher. 173 Zechen waren es noch 1957, 69 dann 1970, 2 sind es heute – neben Prosper-Haniel in Bottrop fördert nur noch Ibbenbüren nördlich von Münster Kohle. 607.000 Bergleute waren es 1957, 253.000 gerade einmal 13 Jahre später. Zur Jahreshälfte 2018 beschäftigten die letzten beiden Zechen der RAG Deutsche Steinkohle AG noch 5.000 Mann.
Unter Tage geht es mit einer Laufkatze, an der wie bei einer Achterbahn Wagen mit Sitzplätzen hängen, zum knapp zwei Kilometer entfernten Flöz H im Baufeld Haniel-Ost. Sich wie die Bergleute auf schnell laufende leere Kohleförderbänder legen, das dürfen die Besucher nicht. Und zu laufen wäre keine Alternative: 90 Quadratkilometer groß ist das Grubenfeld der 1856 gegründeten Zeche Prosper-Haniel. 104 Kilometer sind ihre unterirdischen Strecken und Schächte lang.
Der Sitz an der Laufkatze ist extrem eng. An den Körper drückt nicht nur die schwere und dicke Batterie für die Grubenlampe, sondern auch der Selbstretter, der bei nicht ausreichender Versorgung mit frischer Luft – im Bergmannsjargon Bewetterung genannt – vor dem Tod durch Kohlenmonoxidvergiftung schützen soll. „Werdet ihr nicht brauchen“, hat Holger Stellmacher noch über Tage gesagt: „Habe ich in 34 Jahren nicht gebraucht.“ An den Seiten liegen und hängen armdicke Versorgungsleitungen für Starkstrom, Hydraulik, Kühlwasser. Neonröhren spenden Licht, alle paar hundert Meter sind Erste-Hilfe-Stationen ausgewiesen. Nur 2,2 Unfälle pro eine Millionen Arbeitsstunden verzeichnet die RAG-Statistik für 2017. „Damit waren wir das sicherste Großunternehmen der Welt“, sagt Stellmacher.
Unter Tage: Heiß, stickig, voller Kohlenstaub
Langsam quält sich die Laufkatze weiter, manchmal mit kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit. Immer wieder tauchen Gruppen von Bergleuten aus dem Dämmerlicht auf, wünschen „Glück auf“. Die Strecke wird enger, der Wetterwind wärmer. Dann: Aussteigen. Der Boden ist plötzlich nicht mehr gepflastert wie an der Schachtglocke, sondern rau und uneben – der Unerfahrene stolpert mehr, als dass er geht. Nach weiteren 100 Metern sieht man ein Förderband: In rasendem Tempo sausen große Kohleblöcke vorbei, die ein riesiger Hobel aus Flöz H schält.
Über Leitern geht es über das Förderband. Die geförderte Kohle ist zwischen 40 und 50 Grad warm. Die Luft, die aus dem Förderbereich, dem sogenannten Streb, des riesigen Kohlehobels strömt, fühlt sich an wie aus der Sauna. Tausende Kohleteilchen fliegen ins Gesicht. Der Weg zum Kohlehobel ist keine zwei Meter breit – und gerade rund 140 Zentimeter hoch: ein enges Loch, umgeben von Kohle, neben einem dröhnenden Hobel.
Bernd Haack, Bergbau-Ingenieur
„Man muss sich gewöhnen – an den Dreck, die Temperaturen. Wir essen und wir trinken hier“, sagt Bernd Haack. Wie er diese extremen Arbeitsbedingen ertragen habe, wird er gefragt. „Ich habe Gott sei Dank nur einen schweren Unfall gesehen.“ Nachdem ein Bergmann den Hobel falsch bedient habe, sei der Kumpel zwischen Kohle und den sich absenkenden Panzerschild geraten. „Er hat überlebt“, sagt Haack. „Richtig laufen konnte er aber nie mehr.“ Trotzdem habe die Unfallversicherung zunächst nicht zahlen wollen: Schließlich sei der Unfall „selbstverschuldet“ – Verdacht auf „Selbstverstümmelung“.
Kriechend geht es aus dem Streb heraus und durch die glühende Luft des Förderbands zurück zur Laufkatze. Stellmacher sagt: „Das ist wie mit einem Seemann – der braucht vielleicht die Weite. Wir brauchen den Berg.“ Dann weiter rumpelnd zurück zum Schacht. Ob er nicht froh sei, wieder oben zu sein, wird Bernd Haack eine Minute später gefragt, als alle wieder ins Tageslicht blinzeln. „Jedes Mal“, antwortet er.
Beim Ende sind die Bergmänner nicht gefragt
Wenn die Politiker kommen, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet und viele mehr, sind die Bergmänner nicht eingeladen. Befürchten sie Proteste, Ärger? Bernd Haack zuckt mit den Schultern. „Wir sind einfach nicht erwünscht. Eingeladen ist nur die Politik, die dafür verantwortlich ist, dass wir schließen.“ Später will er das genauer erklären, jetzt müsse er sich erst einmal umziehen. Die Bergmannskluft, die schwere weiße Hose, der Grubenhelm, alles ist von einer feinen schwarzen Staubschicht überzogen wie mit dunklem Puderzucker.
Als Haack zurückkehrt, ist er ein anderer. So gut wie jeden Beruf könnte er jetzt ausüben, und er sieht älter aus als zuvor. Sein glattrasiertes Gesicht wirkt trotzdem jungenhaft, die einzigen Haare in seinem Gesicht sind buschige rotblonde Augenbrauen. Er führt in einen kleinen Raum, ein spartanisch eingerichtetes Büro mit hohen Messingregalen an der einen, einem Stahlschrank an der gegenüberliegenden Wand. „Noch 18 Tage“, sagt Haack wieder, nickt kurz und schnell mit dem Kopf. Mehrmals hintereinander, dass ihm auch ja keiner vorwerfen könnte, dass er diesen Umstand irgendwie leugne.
Damals, 2007, als das Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland beschlossen wurde, sei er direkt zum Personaldirektor spaziert, habe gefragt, ob „er es schaffe“, also 2018, wenn es vorbei ist, genügend Jahre gearbeitet habe, um in den Ruhestand gehen zu können. Er konnte. Rund 1.000 Männer arbeiten einen knappen Monat vor Schluss noch bei Prosper-Haniel, etwa 800 von ihnen können den gleichen Weg gehen wie Haack.
200 Prosper-Männer aber sind zu jung, um aufhören zu dürfen. Einige von ihnen haben noch nichts Neues gefunden, manche haben geklagt oder die Abfindung genommen, andere sind bei Asse untergekommen, dem ehemaligen Atommüllendlager in der Nähe von Wolfenbüttel in Niedersachsen, wieder andere in Salzbergwerken. Das sind Jobs, die wenigstens an das erinnern, was sie über Jahre unter Tage in Prosper-Haniel ausgeführt haben.
Der sichere Job unter Tage
Als Haack seine Ausbildung abschloss, war es 1988, er war optimistisch. „Ich habe nicht gedacht, dass Deutschland sich so abhängig machen möchte von ausländischen Importen, anstatt für seine eigene Energiesicherheit zu garantieren.“ Als das Ende feststand, seien viele, nicht nur er, dem Bergbau und ihrer Zeche treu geblieben. „Wir haben gedacht, da draußen kündigen sie uns ja sowieso nur“, sagt Haack. Sein Cousin wurde bei Opel in Bochum entlassen. Da draußen deren Welt, hier drinnen, unter Tage, die unsere. Eine, in der man sich geborgen fühlt, die Schutz bietet und die zugehörig macht. Kumpels, richtige Maloche, eine eigene Sprache, ein spezieller Umgangston, ein rauer, der den des gesamten Ruhrgebiets geprägt hat.
Die Familien der Bergmänner lebten in Zechensiedlungen, fühlten sich mehr wie eine große Familie. Bäckereien, Supermärkte, die gesamte Infrastruktur legte sich wie ein Mantel um alles, was mit der Zeche zu tun hatte. 1.200 Meter unter der Erde verlässt man sich aufeinander, hält sich fest. Der Berg machte alle gleich. In dieser Welt wollten sie leben.
Jens Krammenschneider-Hunscha
„Heute machen viele ja so Jobs, bei denen …“, er überlegt und lächelt wie ein Junge, der gerade einen Streich gespielt hat, „wie soll ich sagen? Bei denen nicht mehr richtig malocht wird.“ „Bei uns hieß es früher, Junge, du bist nicht zum Denken hier – maloch!“ Deshalb hatte im Bergbau jeder eine Chance.
Und apropos keine richtige Maloche – Haacks Kopf zuckt zum Messingregal an der Wand seines kleinen Büros. Tiefschwarze glitzernde Kohlestücke liegen wie sofakissengroße Lakritzbonbons nebeneinander. „Das sind schon die für die Politiker, wenn die im Dezember kommen. Mussten natürlich die schönsten sein.“ Haack grinst und schüttelt mit zu Boden blickenden Augen den Kopf. Er wollte ja eh noch über Politik sprechen. Ausgerechnet die Politiker jener Parteien, die sie, die Bergmänner, nie unterstützt hätten, kämen jetzt, um abzuschalten. FDP, CDU, „die waren ja immer gegen uns“, sagt Haack. Die Einzigen, die einst zu ihnen gehalten hätten, das waren die Sozialdemokraten. Darum sitzt noch heute in nahezu jedem Rathaus im Ruhrgebiet ein SPD-Bürgermeister.
Die neue Zeit: T-Shirts statt Kohle
An einem dieser Tage im vergangenen Jahr, als, wie Haack sagt, Remmidemmi war, kam auch der Fraktionsführer der nordrhein-westfälischen SPD, Thomas Kutschaty. Die Partei hatte ein Start-up mitgebracht, das kleine Unternehmen feinwasser aus Dortmund, das selbstgestaltete, nachhaltige T-Shirts vertreibt.
Lukas Böhm, einer von zwei Gründern, sitzt in seiner WG in der Dortmunder Nordstadt auf einem grasgrünen gepolsterten 1950er-Jahre-Sofa, seine Kolleginnen Anke Jüntgen und Raya Bolduan auf Sesseln gleichen Models. Zwei kleine Holztische stehen auf einem orientalischen Teppich.
Böhm erinnert sich an den Nachmittag auf Prosper-Haniel, daran, dass vor allem der Vorstandsvorsitzende von RAG und der SPD-Mann geredet haben. Dabei war er eingeladen worden, um für die Zukunft des Ruhrgebiets zu sprechen, die eigentlich längst die Gegenwart ist. Nordrhein-Westfalen beherbergt erstmals mehr Start-ups als Berlin, der Großteil von ihnen sitzt im Ruhrgebiet. Viele von ihnen achten, wie auch feinwasser, auf nachhaltige Energiegewinnung, transparente Lieferketten, basisdemokratische Strukturen – machen also alles ganz anders als es beim Bergbau üblich war. Trotzdem sei an diesem Tag viel mehr noch über die Vergangenheit geredet und Vorwürfe seien gewälzt worden, erinnert sich Böhm: „Eigentlich ist das Ruhrgebiet längst ein paar Schritte weiter.“
Raya Bolduan, aus Kiel und ebenfalls bei feinwasser tätig, sagt: „Ich hatte das Ruhrgebiet immer als grauen Fleck im Kopf. Dieses Bild hat sich sehr schnell aufgelöst. Ich unternehme jedes Wochenende etwas anderes, weil die Räume so großartig genutzt werden.“ So wurde aus der ehemaligen Zeche Nordstern in Gelsenkirchen der Nordsternpark, aus einem stillgelegten Hüttenwerk in Duisburg der Landschaftspark Duisburg-Nord, aus der Zeche Zollverein in Essen ein Unesco-Weltkulturerbe, vieles mehr.
Vor einem Jahr, sagt Bolduan, habe sie nicht mal das Wort „Halde“ gekannt. Heute hat sie sich schon angewöhnt, „dat“ anstatt „das“ zu sagen. Dat Kumpeltum, das nicht zuletzt aus dem Bergwerk kommt, spüre man in jeder Faser: Nirgends anders sei es ihr gelungen, so schnell soziale Kontakte zu knüpfen.
Neue Technologien auf Basis alter Erfahrungen
Jens Krammenschneider-Hunscha arbeitet bei der Initiative ruhrvalley. Die will interdisziplinäre Lösungen für die Automobilzulieferindustrie, den Energieanlagenbau und die mittelständische IT-Branche des Ruhrgebiets schaffen. Zwanzig Unternehmen aus der Region gehören dazu, und sieben Institute von drei Fachhochschulen. „Die Zukunft hat längst begonnen“, sagt Krammenschneider-Hunscha. „Manch einer ist mittlerweile gar überrascht, wenn er hört, dass im Ruhrgebiet überhaupt noch eine Zeche in Betrieb ist.“ Nun sei es entscheidend, dass sich das Ruhrgebiet als Einheit begreife. „Längst haben neue Technologien im Ruhrgebiet Fuß gefasst, und die Voraussetzungen sind ideal.“ Nirgends gebe es mehr Hochschulen auf engstem Raum, und nirgends seien die Probleme und gleichzeitig die Lösungen so eng miteinander verwoben.
„Wenn drei bis fünf Generationen in Folge ihr Glück unter der Erde gefunden haben, dann kommt die nächste meistens nicht auf die Idee, in den Wolken zu suchen“, sagt Krammenschneider-Hunscha. Und meint: Die Kernprobleme, die das Ruhrgebiet hat, kann es auf Basis der Erfahrungen aus dem Bergbau selbst am besten lösen.
Beispiel Geothermie: Auf die Idee, Grubenwasser für Wärmeerzeugung zu nutzen, kommt nur, wer sich viel mit Pumpentechnik befasst hat. Beispiel Mobilitätssysteme: Wer sich immer schon mit dem Transport von Waren und Rohstoffen beschäftigt hat, der könnte das auch auf den Straßenverkehr anwenden. Was im Ruhrgebiet dringend nötig wäre.
Bis Mai hat Bergmann Bernd Haack nach der Schließung von Prosper-Haniel Urlaub, dann beginnt sein Ruhestand offiziell. Er hat eine Idee, was er dann machen möchte, und ist in den Förderverein der ehemaligen Schachtanlage Recklinghausen eingetreten. Um Schulklassen hindurchzuführen, ihnen etwas über den Bergbau im Ruhrgebiet zu erklären. Etwas, das sie nicht mehr kennenlernen werden. Das Bernd Haacks Leben und das des ganzen Ruhrgebiets geprägt hat wie nichts anderes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid