Beraterin über sexualisierte Gewalt: „Strafe allein reicht nicht“
Sexualisierte Gewalt soll härter bestraft werden. Karima Stadlinger von der Bremer Beratungsstelle Schattenriss kritisiert den Gesetzentwurf.
taz: Frau Stadlinger, was ist falsch daran, Gesetze gegen sexualisierte Gewalt zu verschärfen?
Karima Stadlinger: Daran ist erst einmal nichts grundsätzlich falsch, vieles von dem, was jetzt im Gesetzentwurf steht, fordern wir seit Langem. Aber genau wie viele andere Beratungsstellen, die seit Langem in diesem Bereich arbeiten, kritisieren wir den Fokus auf härtere Strafen und befürchten, dass es dabei bleibt. In diesem Fall würde die Strafverschärfung die Situation der Opfer sexualisierter Gewalt noch verschlimmern.
Das müssen Sie erklären.
54, psychosoziale Beraterin und fachliche Leitung bei Schattenriss, der Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen* in Bremen.
Wenn höhere Strafen drohen, erhöht sich auch der Druck auf die Täter, sie haben noch mehr zu verlieren, etwa im Bereich des Besitzes und der Verbreitung von Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern. Das heißt, dass sie sich einerseits noch mehr anstrengen werden, dass ihre Taten unentdeckt bleiben. Dazu werden sie unter anderem den Geheimhaltungsdruck auf ihre Opfer erhöhen, dass sie sich auf keinen Fall anderen mitteilen dürfen.
Aber die höheren Strafen sollen doch auch abschrecken.
Ja, so ist die Argumentation. Aber wir wissen, dass Strafandrohung allein diese Verbrechen nicht verhindert. Sexualisierte Gewalt an Kindern ist eins der am leichtesten zu begehenden Verbrechen, weil es zum einen in der Regel keine Zeugen und Zeuginnen gibt. In den allermeisten Fällen sind es nahe Bezugspersonen, denen die Kinder vertrauen. Die Täter*innen gehen dabei in aller Regel sehr strategisch vor und reden ihnen beispielsweise ein, dass sie das auch wollen, und es völlig normal ist, alle Väter das mit ihren Töchtern machen oder dass niemand ihnen glauben wird.
Also lieber keine Strafen verschärfen?
Doch, aber allen muss klar sein, dass Taten so weder verhindert noch in höherem Umfang aufgedeckt werden.
Ich habe in einer Stellungnahme des Dachverbands der Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen gelesen, dass „nur ein Drittel der sexualisierten Gewalterfahrungen überhaupt anderen mitgeteilt wird und nur ein Prozent Ermittlungsbehörden oder Jugendamt bekannt wird“.
Das Dunkelfeld in diesem Bereich ist riesig. Man kann davon ausgehen, dass jeder ein Kind kennt, dem sexualisierte Gewalt angetan wurde oder noch wird. In jeder Klasse sitzen nach Schätzungen ein oder zwei dieser Kinder. Dazu kommt noch, dass nur ein Bruchteil der Taten vor Gericht landen und noch weniger verurteilt werden.
Woran liegt das?
Grundsätzlich müssen Ermittlungsbehörden technisch und personell sehr viel besser ausgestattet werden. Die Ermittlungen in Bergisch-Gladbach haben gezeigt, dass besser verfolgt und aufgeklärt werden kann.
Dort haben zeitweise 400 Polizist*innen in einer Ermittlungsgruppe gearbeitet, die nach letztem Stand 200 Tatverdächtige ermittelt hat und über 30.000 IP-Adressen von Personen kennt, die Dateien mit kinderpornografischem Inhalt ausgetauscht haben.
Den Begriff „Kinderpornografie“ verwenden wir übrigens nicht, weil er die Taten beschönigt. Das hat mit Pornografie nichts zu tun, es wäre wünschenswert, dass es im Gesetzestext als „Abbildungen von sexualisierter Gewalt an Kindern“ benannt wird. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum so wenige Täter verurteilt werden, und das liegt daran, dass die Aussagepsychologie in Deutschland in den 50er-Jahren stecken geblieben ist.
Was meinen Sie damit?
Es gilt der juristische Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ und das bedeutet, dass die Betroffenen diesen Zweifel ausräumen müssen. Sie müssen erst einmal ihre Glaubhaftigkeit beweisen, der Aufbau der Verfahren unterstellt ihnen, dass sie als Zeug*innen nicht die Wahrheit sagen.
Aber dieses Problem lässt sich doch nicht auflösen.
Jedenfalls nicht so einfach. Umso wichtiger ist es, dass Gutachter, Gerichte und Ermittlungsbehörden immer auf dem neuesten Stand zu Traumafolgestörungen sind und entsprechend traumasensibel vernehmen. Betroffene von sexualisierter Gewalt sind traumatisiert und das führt auch dazu, dass ihre Aussagen widersprüchlich sein können oder schwer in Worte zu fassen. Genau das müssen sie aber. Um über Taten urteilen zu können, gibt es, wenn es kein Bildmaterial gibt, meistens nur ihre Aussagen, das heißt, sie müssen Orte und Zeiten nennen und genau schildern, was jemand mit ihnen gemacht hat. Und dann liegt das Geschehen möglicherweise Jahre zurück, weil sich die Verfahren so lange hinziehen oder jemand sich erst spät anvertraut hat.
Können Sie noch etwas zu Traumafolgestörungen sagen?
Traumafolgestörungen, also die Folgen von erlittenen Traumata sind mittlerweile sehr gut erforscht, auch durch die relativ guten Bildgebungsverfahren. Wir wissen, dass sich im Gehirn physisch etwas verändert, zum Beispiel wird das Sprachzentrum gestört, es verschlägt ihnen sprichwörtlich die Sprache. Je früher und je langanhaltender die Gewalt, desto größer sind diese Veränderungen. Auch das Gedächtnis ist gestört, manche Betroffene dissoziieren, also spalten Erinnerungen oder Gefühle ab, die ihnen nicht oder nur bruchstückhaft zugänglich sind. Erlebnisse werden unter extremem Stress anders in unserem Gedächtnis gespeichert, das ist eine Überlebensstrategie des Organismus, anders lässt sich das Erlebte nicht aushalten. Möglicherweise zweifeln sie selbst immer wieder an ihrer Wahrnehmung, eben weil ihnen so oft gesagt wurde, dass ihre Wahrnehmung nicht richtig ist. Deshalb ist es verheerend, wenn bei der Vernehmung gesagt wird: „Stimmt das denn, was du da sagst?“
Nun steht auch im Gesetzentwurf, dass Richter*innen und Staatsanwält*innen besonders qualifiziert werden sollen.
Ja, aber leider fehlt eine genaue Ausgestaltung, es ist nicht verbindlich festgelegt, welche Qualitätsanforderungen erfüllt sein müssen. Aber ich möchte nicht falsch verstanden werden, es gibt viele gute Ansätze in dem Gesetzentwurf, unsere Hauptkritik richtet sich darauf, dass Strafverschärfung nur ein Baustein sein kann und sehr viel mehr für den Kinderschutz getan werden muss, auch mit sehr niedrigschwelligen Angeboten, in Schule und Kindergarten zum Beispiel und mit einer angemessenen Ausstattung der Jugendämter.
Der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung teilt diese Kritik. Er leitet daraus die Forderung nach Landesbeauftragten und Landesaktionsplänen ab. Braucht Bremen das?
In Bremen gibt es gute Ansätze, aber vieles steht und fällt mit engagierten Personen, die sich etwa in den Schulen des Themas annehmen. Ein Landesaktionsplan, der umgesetzt wird, und eine Landesbeauftragte sind wichtige Schritte. Da wünschen wir uns sehr, dass diese gut ausgestattet wird und nicht als Deckmäntelchen mit halber Stelle und ohne Budget.
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