Belit Onay über das Atomwaffenverbot: „Die Atombombe ist zurück auf der Weltbühne“
Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) findet, Europa müsse vereint stärker werden. Er hofft, dass es so auf atomare Rüstung verzichten kann.

taz: Herr Onay, Sie haben als Vertreter der Bürgermeister gegen den Atomkrieg (Mayors for Peace) vor den Unterzeichnern des Atomwaffenverbotsvertrages gesprochen. Ist der Vertrag nicht aus der Zeit gefallen?
Belit Onay: Ganz im Gegenteil. Es wird hier in New York sehr deutlich wahrgenommen, was gerade passiert. Dass sich durch die Demütigung Selenskyjs im Oval Office und die Neupositionierung der USA einiges verschiebt und dass es für den Schutz für Europa und den Schutz für die Ukraine ganz neue Antworten braucht. Ich habe hier keine relevante Stimme gehört, die sagen würde, dass das nicht der Fall ist. Die Notwendigkeit sich selbst verteidigen zu können, wird nicht bestritten.
taz: Müssen dabei Atomwaffen eine Rolle spielen?
Onay: Bei Atomwaffen ist die einhellige Meinung hier, dass sie keine Sicherheit schaffen, sondern Sicherheit reduzieren, dass sie unkalkulierbar sind. Man muss sich vor Augen führen, dass ihr Einsatz fatale Folgen hätte –für die betroffene Stadt und die Menschen und das über Generationen hinweg. Deshalb müssen sie geächtet werden und genau das tut der Atomwaffenverbotsvertrag.
44, ist Hannovrs grüner Oberbürgermeister und Vizepräsident des Netzwerks Mayors for peace, in dem sich 8.470 Bürgermeister aus 166 Ländern zusammengschlossen haben – vor allem um die Atomwaffen abzuschaffen.
taz: Wenn die Ukraine ihre Atomwaffen 1994 nicht abgegeben hätte, wäre sie nicht von Russland angegriffen worden.
Onay: Das ist eine Spekulation. Es gibt keine Evidenz dafür, dass die nukleare Abschreckung Kriege verhindert hat. Selbst wenn man Atomwaffen hat: Wer ist dazu bereit, sie auch einzusetzen, wenn er weiß, dass er einer Atommacht gegenübersteht?
taz: Die glaubhafte Bereitschaft ist Voraussetzung der Abschreckung.
Onay: Die eigentliche Frage wird sein, ob man wieder über Abrüstung sprechen kann. Trump hat das mit Blick auf China und Russland vorgeschlagen. Sinnvoll wäre das schon allein wegen der Kosten. Der Aufbau eines nuklearen Schutzes ist unfassbar teuer – und das dafür, dass man ihn möglichst nicht nutzt. Deshalb müssen wir diskutieren, wie ein Schutz für Europa gewährleistet werden kann, ohne dass nukleare Abschreckung dafür nötig ist.
taz: Das Abrüstungsversprechen, das die fünf ursprünglichen Atommächte mit dem Atomwaffensperrvertrag abgaben, haben sie nicht eingehalten. Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass ähnliche Versprechen in Zukunft eingehalten werden würden?
Onay: Eine Garantie wird es nicht geben. Man muss genau verabreden, wie der Abrüstungspfad im Sinne konkreter, realistischer Schritte aussieht, die sich an den aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen orientieren. Dass sich die letzte Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag nicht auf ein gemeinsames Abschlussdokument und damit auch auf keine Agenda einigen konnte, lag vor allem an der Verweigerungshaltung Russlands.
taz: Technisch gibt es wahnsinnig viel Expertise aus der Zeit der Abrüstungsverträge zwischen der Nato und dem ehemaligen Ostblock. Aber wir leben heute in einer anderen Zeit, in der eine der beteiligen Mächte einen Krieg begonnen und dabei erfolgreich mit dem Einsatz einer Atombombe in einem konventionellen Krieg gedroht hat.
Onay: Auch Russland wird ein Land, das es sich einverleiben möchte, nicht mit Atomwaffen verwüsten. Man muss aber zugeben, dass die Atombombe zurück ist auf der Weltbühne. Dass sie nach 30 Jahren plötzlich wieder Diskussionsgrundlage ist, sieht man auch hier auf der Konferenz des Atomwaffenverbotsvertrages. Gleichzeitig ist deutlich spürbar, dass die Vertragsstaaten nicht von der Vision einer atomwaffenfreien Welt ablassen wollen.
taz: Wie soll sich Europa ohne Nuklearwaffen vor der Bedrohung durch Russland schützen?
Onay: Zuerst einmal dadurch, dass man die Ukraine schützt und stärkt. Wegen der Infragestellung der Unterstützungen durch die USA in den verschiedensten Bereichen muss die Partnerschaft der EU greifen. Wenn die Ukraine Gebiete verlöre und Russland erfolgreich wäre, würde das Faustrecht in der Weltpolitik ausgerufen. Es muss darum gehen, zu einer regelbasierten Ordnung zurückzufinden. Davon sind wir aktuell weit entfernt, woran auch die USA ihren Anteil haben, durch die Logik, nach der sie jetzt handeln. Die Europäer werden gemeinsam eine Lösung finden müssen. Ihre Kleinstaaterei wird nicht mehr helfen.
taz: Wenn sich die Amerikaner aus der Nato zurückzögen, sähe sich Europa alleine der Nuklearstreitmacht Russlands gegenüber. Wie sollte dann der Schutz der Ukraine funktionieren?
Onay: Die Stärkung der Ukraine geschieht durch Stärkung ihrer Verteidungskraft. Da ist noch sehr viel möglich und es geht dabei auch um die Zukunft der der Europäischen Union. Bei der Frage des atomaren Schutzes wird es noch eine Zeit dauern, bis sich die USA zu einer klaren Position durchringen werden. Bis dahin muss es zu Friedensverhandlungen kommen. Ich glaube, dass auch die Ukraine daran ein Interesse hat. Aber den Frieden zu verhandeln, heißt nicht den Status quo zu zementieren. Die Ukraine hat ein Anrecht darauf, mitzudiskutieren, wie sie sich ihren Frieden vorstellt.
taz: Bleiben Sie bei der Position, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten sollte?
Onay: Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Deutschland zumindest weiterhin als Beobachterin bei der Vertragsstaatenkonferenz in New York dabei gewesen wäre. Davon hätte ein wichtiger Impuls ausgehen können.
taz: Sind russische Bürgermeister Mitglied bei den Mayors for Peace?
Onay: Sie sind Mitglieder, aber aktuell nicht erkennbar aktiv. Das liegt daran, dass man auf nahezu allen Ebenen die Kooperation eingeschränkt oder völlig eingestellt hat – auch weil es immer wieder Versuche gab, internationale Organisationen für die russische Propaganda zu vereinnahmen.
taz: Wie war die Stimmung mit Blick auf den Schwenk der US zu unverblümter Machtpolitik?
Onay: Es war für alle ein Schock. Bei den Gesprächen sowohl in der UN als auch außerhalb in New York merkt man, wenn man mit Amerikanern und Amerkanerinnen spricht, dass sie sich unter einem Rechtfertigungszwang sehen: Die Position Trumps gilt nicht für alle. Auch bei den Vereinten Nationen ist die Ernüchterung groß, dass die USA eine vollkommen neue und andere Position vertreten, die nicht mehr Solidarität heißt, sondern America first. Das ist fatal für jede Art von internationaler Kooperation.
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