Belarus und der Widerstand der Literatur: Land im Koma

Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“ greift historische Ereignisse in Belarus auf und zeigt mit Humor das Bild eines Unterdrückungsapparats.

Polizisten nehmen während der Proteste gegen Machthaber Lukaschenko einen Demonstranten fest Foto: picture alliance/dpa/AP

Wenn jemand mehr als zehn Jahre lang im Koma liegt und dann wieder zu Bewusstsein kommt, sollte man eigentlich davon ausgehen, dass für diese Person die Außenwelt eine völlig andere ist als zuvor. Anders ist es bei Franzisk Lukitsch. Als er im Jahr 2009 in einem Minsker Krankenhaus nach einem Jahrzehnt wieder erwacht, gibt es zwar ein paar Neuigkeiten – zum Beispiel dieses WLAN, mit dem man jetzt das Internet über die Luft empfangen kann –, sonst aber ist vieles im Land gleich geblieben.

Immer noch gibt es einen Präsidenten, dessen Eishockeyteam stets gewinnt und der seine Gegner und Feinde wegsperrt und verschwinden lässt. Immer noch schwärmen sie in den Nachrichten vom wunderbarsten Land der Welt, in dem das Gras am grünsten ist und es keine Probleme gibt.

Sasha Filipenko:

„Der ehemalige Sohn“. Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes Verlag,

Zürich 2021, 320 Seiten, 19,90 Euro

Es ist dasselbe Land, in dem jedes Kind weiß, dass die Polizei dazu da ist, Demonstranten niederzuknüppeln. Auf der Straße heißt deshalb ein beliebtes Kinderspiel „Proteste zerschlagen“. So war es immer in Belarus und so bleibt es auch.

Dieses Gedankenspiel des zehnjährigen Komas spielt der belarussische Schriftsteller und Satiriker Sasha Filipenko in seinem Roman „Der ehemalige Sohn“ durch. Es liest sich wie ein Gegenentwurf zu „Good Bye, Lenin!“.

Mit den Mitteln der Satire

Im Original ist der Debütroman bereits 2014 erschienen, nun liegt er auf Deutsch vor, übersetzt von Ruth Altenhofer. Die Handlung spielt in den Jahren 1999 bis 2011, der Autor greift viele historische Ereignisse jener Zeit auf und zeichnet das Bild eines schon damals hoffnungslos zerrütteten Unterdrückungsstaats.

Filipenko ist in Minsk aufgewachsen und hat in St. Petersburg Literatur studiert, wo er heute auch lebt und arbeitet. Er hat eine eigene Satiresendung beim TV-Sender Doschd. Auf Deutsch ist von ihm bisher der Roman „Rote Kreuze“ (Diogenes, 2020) erschienen – darin beschreibt er, wie die Sowjets während des Zweiten Weltkriegs mit den eigenen Kriegsgefangenen und deren Familien umgingen, wie diese zu Verrätern gestempelt und in den Gulag gesteckt wurden.

Aktuell spricht ­Filipenko der Oppositionsbewegung in Belarus immer wieder Mut zu, erst Ende März schrieb er in einem viel beachteten Facebook-Post: „Wir werden einem neuen Tag entgegenstrahlen! Und all das wird so bald passieren, dass wir jetzt auf keinen Fall den Mut verlieren dürfen!“

„Der ehemalige Sohn“ könnte nun kaum zu einer passenderen Zeit erscheinen als während der Lukaschenko-Dämmerung in Belarus. Der Protagonist des Romans ist der 16-jährige Schüler Franzisk, er wird 1999 bei einer Massenpanik während eines Stadtfests erdrückt und fällt ins Koma.

Babuschka hofft weiter

Niemand – abgesehen von seiner Babuschka, seiner Oma – glaubt daran, dass er je wieder erwacht. Nicht einmal seine Tante Nora, eine angesehene Neurochirurgin, hält dies für möglich, und für den Staat sei er nun nur ein lästiges belegtes Krankenbett mehr, also sagt sie zur Oma: „Du weißt ja, in welchem Land du lebst. Hier sind schon die nichts wert, die gesund und am Leben sind, von Menschen im Koma ganz zu schweigen.“

Doch seine Babuschka hält Franzisk die Treue, sitzt immer wieder bei ihm am Krankenbett. Sein Wiedererwachen aber soll sie nicht mehr erleben. Kurz nach ihrem Tod, wir schreiben das Jahr 2009, passiert das Wunder: Franzisk öffnet die Augen, er spricht, ist bei Bewusstsein. Fortan lässt er sich von seinem Kumpel Stass erklären, was sich getan hat.

Doch der hat wenig Neues zu berichten: Alles sei gleichgeschaltet wie eh und je, aus den Nachrichten erführe man nichts, im Radio gebe es nun übrigens eine Quote für einheimische Produk­tio­nen und wer mit der Opposition sympathisiere, dessen Musik wird nicht gespielt.

„Warum?“, fragt Franzisk. Stass antwortet: „Versuch, dieses Wort zu vergessen. Du kriegst es gesagt – akzeptiere es. […] Gesunde Menschen stellen keine Fragen, und du solltest erst recht keine stellen. Andernfalls kannst du verrückt werden. Vor allem jetzt. Nimm einfach alles als Tatsache hin.“

Viele reale Ereignisse

Die Handlung bewegt sich derweil auf die Präsidentschaftswahlen 2010 zu, in deren Folge es zu massiven Protesten kommt, die brutal niedergeschlagen werden. Sowieso spielt Filipenko auf viele reale Ereignisse an. Die Massenpanik mit vielen Toten im Jahr 1999, bei der Franzisk ins Koma fällt, gab es wirklich, genauso kommen die Bombenanschläge in Minsk 2008 und 2011 vor. Auch der – vorgebliche – Suizid des oppositionellen Journalisten Aleh Bjabenin im Jahr 2010 spielt eine Rolle.

Genauso werden viele oppositionelle Künstler genannt, etwa Ales Puschkin, der Ende der 1990er Jahre einen Misthaufen vor dem Präsidentenpalast kippte. Auch Texte der Rockband N. R. M. und des bekannten oppositionellen Rocksänger Sergei Micha­lok werden zitiert. Auf diese Weise gelingt Filipenko ein Gesellschafts­porträt jener Zeit.

Durchzogen ist die Erzählung von subversivem Humor, stellenweise ist das sehr komisch – zum Beispiel, als nach dem Anschlag 2008 Fingerabdrücke des Komapatienten Franzisk genommen werden. Denn: Verdächtig ist jeder. ­Filipenkos Figuren halten sich meist mit Witzen über den Präsidenten bei Laune, beliebt ist es auch, sich absurde Geschichten zu erzählen. Die Bedingung: Sie müssen wahr sein. Es gibt eine Menge von ihnen.

„Der ehemalige Sohn“ ist eine Geschichte der vorerst gescheiterten Revolution. Franzisk erkennt, dass es in diesem Land der Unterdrücker, Drangsalierer und Knüppler in Uniformen keine Zukunft für ihn gibt. Good Bye, Lukaschenko? Schön wär’s. Franzisk reist aus. Wieder ein Jahrzehnt später ist Belarus aus dem Koma erwacht. Der Zustand aber ist immer noch mehr als nur kritisch.

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