Belagerung von Aleppo in Syrien: Die entscheidende Schlacht
Rebellen versuchen, den Belagerungsring des Regimes um Aleppo zu durchbrechen. In der Stadt kämpfen 300.000 Menschen ums Überleben.
Vor drei Monaten hat der amerikanische Außenminister John Kerry den syrischen Machthaber Baschar al-Assad gewarnt. Sollte die Feuerpause weiter verletzt werden, könne dies ernsthafte Konsequenzen haben. Dabei ging es vor allem um Aleppo. Dort setzt Assad mit massiver russischer Luftunterstützung seit Monaten alles daran, die Aufständischen in die Knie zu zwingen, die seit dem Sommer 2012 etwa die Hälfte der Stadt kontrollieren. Von Lieferungen von Flugabwehrraketen und anderen Waffen an die Rebellen war die Rede. Nichts dergleichen ist passiert, am Montag ist das „Ultimatum“ fast sang- und klanglos verstrichen.
Seit mehr als zwei Wochen ist Aleppo komplett von Regimetruppen belagert. Hilfsorganisationen schätzen, dass noch immer bis zu 300.000 Personen in den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten wohnen. Das Leben sei die Hölle, sagen Einwohner und Helfer. Zwar haben Ärzte, Zivilisten und Rebellen Vorräte angelegt. Doch die Lebensmittelpreise hätten sich verhundertfacht, die Märkte seien leer, sagt ein syrischer Aktivist. Systematisch haben das Regime und Russland in den letzten Wochen Notfallspitäler bombardiert. Nach Auskunft von Ärzten fordern die Angriffe täglich Dutzende von Toten und Verletzten. Im Ostteil der Stadt gibt es nur noch etwa dreißig Ärzte. Durch die Blockade ist der Weg für Schwerverletzte in die Türkei versperrt.
Es droht eine humanitäre Katastrophe
Hilfsorganisationen warnen seit Wochen, dass in Aleppo eine humanitäre Katastrophe droht. Dass Washington mitten im Wahlkampf einen radikalen Kurswechsel in der Syrienpolitik vollzieht, war kaum zu erwarten. Aber die scheinbare Nonchalance, mit der die USA über die Tragödie in Aleppo hinweggehen, ist doch erstaunlich. Der niederländische Außenminister Bert Koenders warnte diese Woche vor einem zweiten Ruanda oder Srebrenica. Die internationale Gemeinschaft müsse den Druck auf Assad erhöhen, um einen Genozid zu verhindern, schrieb Koenders im britischen Independent. Aber die meisten europäischen Regierungen setzten wie die Amerikaner auf die Wiederaufnahme der im April gescheiterten Gespräche mit Assad.
Seit dem Eingreifen Russlands im September hat sich das Blatt zugunsten von Assad gewendet. In Aleppo geht es für ihn um alles oder nichts. Von allen großen Städten in Syrien ist Aleppo die einzige, in der die Aufständischen noch stark sind. Sollte Assad den Sieg davontragen, hätte er fast den gesamten Weststreifen des Landes zwischen der Küste und der Route von Aleppo nach Damaskus wieder unter Kontrolle. Seinen Gegnern bliebe im Nordwesten nur die Provinz Idlib. Dem Regime würde dann nur noch ein kleiner Zipfel nördlich von Aleppo fehlen, um die vor dem Krieg so wichtige Handelsroute in Richtung Türkei zu kontrollieren.
Aleppo ist nicht nur die größte Stadt Syriens, sie war auch das wirtschaftliche Zentrum des Landes. Als im Sommer 2012 Rebellen den Ostteil der Stadt unter ihre Kontrolle brachten, bombardierte das Regime sie und die Zivilbevölkerung mit Fassbomben, die Rebellen verschanzten sich in der Altstadt.
Lange konzentrierten sich die Kämpfe dann aber auf Regionen außerhalb Aleppos. Doch dank der russischen Unterstützung und des Eingreifens des Irans, der Tausende schiitischer Kämpfer aus dem Libanon, Irak, Afghanistan und anderswo entsandte, konnte das Regime die wichtigste Nachschubroute der Rebellen von Norden aus der Türkei kappen. Nach heftigen Kämpfen brachte Assad auch die letzte Versorgungsroute in den Ostteil der Stadt, die Castello Road, unter seine Kontrolle.
Geiselnahme der Zivilbevölkerung
Um den Belagerungsring zu sprengen, haben Rebellen am Sonntag von Süden und Westen her eine Offensive gestartet. Beteiligt sind daran alle Fraktionen, die es in Aleppo und in der umliegenden Region gibt: mehr als zehn lokale, säkulare oder gemäßigt islamische Rebellengruppen, die auch von den Amerikanern unterstützt werden, aber auch Salafisten wie Ahrar al-Scham oder Islamisten wie die Schamiya-Front und Failaq al-Scham sowie die Al-Nusra-Front, der syrische Ableger der al-Qaida. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ spielt in Aleppo keine Rolle. Die Al-Nusra-Front hat sich kürzlich von al-Qaida losgesagt und nennt sich seitdem Dschabhat Fatah al-Scham (Front zur Eroberung der Levante). Experten und Aktivisten bezweifeln freilich, dass sich an ihrer radikalen Gesinnung viel geändert hat.
Die stärksten Fraktionen sind genau die ehemalige Al-Qaida-Gruppierung und die kaum weniger radikale Ahrar al-Scham. Kerry machte sie am Montag ebenfalls für die Verletzung der Feuerpause verantwortlich. Für die eingekesselten Syrer sind sie dagegen die möglichen Retter in der Not. Bisher ist den Kämpfern noch kein entscheidender Durchbruch gelungen. Aber selbst wenn Russland in Aleppo auf die „Tschetschenien-Lösung“ setzt – also den Einsatz brutaler Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung –, ist die Frage, wie lange die geschwächten Truppen Assads dem Angriff standhalten können. Viel wird davon abhängen, wie viele Tote die Iraner und ihre Milizen bereit sind in Kauf zu nehmen. Es gehe um die „Befreiung“ Aleppos, haben die Regimegegner erklärt. Es seien 10.000 Kämpfer und mindestens 95 Panzer im Einsatz, sagte am Mittwoch ein Rebellenkommandant.
Indem der Westen tatenlos zuschaut, könnte genau das passieren, was Europäer und Amerikaner fürchten: die Stärkung der Radikalen und Extremisten wie der ehemaligen Nusra-Front und Ahrar al-Scham. Sollte Assad die Oberhand gewinnen, droht den Zivilisten der Hungertod. Das Regime hat die Öffnung von vier Fluchtkorridoren angeboten – drei für Zivilisten und einen für Kämpfer, die sich ergeben. Wer nicht die Flucht ergreift, den betrachtet das Regime als „Terroristen“. Zahlreiche internationale Hilfsorganisationen haben diese faktische Geiselnahme der Zivilbevölkerung am Mittwoch kritisiert. „Einen angeblich sicheren Fluchtweg anzubieten, darf nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass die verbleibenden Menschen zu militärisch legitimierten Zielen werden“, heißt es in einer Erklärung von fast 40 internationalen Hilfsorganisationen. Aleppo dürfe nicht zu einem „Ort des Massensterbens“ werden.
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