Behandlung von Depressionen: Mit dem Dunklen leben
Oliver Vorthmann ist an einer chronischen Depression erkrankt. Therapien haben ihm nicht geholfen. Die Pharmaindustrie sucht weiter nach Heilmitteln.
E s ist, als hätte jemand der Welt die Farben genommen. Als wäre alles um mich herum von einem Schleier überzogen. Als sei ich in einer Glocke aus Milchglas gefangen, mit einem Stein auf der Brust, mit Säure in den Adern – und immer wieder diesen schrecklichen Gedanken, wie ich diese monströse Ausweglosigkeit beenden soll.
Oliver Vorthmann kennt dieses Gefühl. Er ist ein Hüne, locker zwei Meter groß, stabil. Den kann keiner umhauen, könnte man meinen. Vorthmann lehnt an einem Brückengeländer und schaut hinunter aufs Wasser der Spree im Osten Berlins. Schiebt sich die schwarze Mütze aus der Stirn, pustet Zigarettenrauch in den Morgennebel. Er ist 55 Jahre und chronisch depressiv. „Seitdem ich denken kann, fühle ich mich so.“
Oliver Vorthmann hat Klinikaufenthalte und Therapeutenbesuche hinter sich, mehrere Psychopharmaka bekommen. Venlafaxin, Mirtazapin, Fluoxetin. Sie alle sollen das Hirn mehr Glückshormone ausschütten lassen, die Stimmung aufhellen, Ängste lösen.
„Sechs Medikamente habe ich insgesamt durchprobiert. Keins hat geholfen. Hoch dosiert, runter dosiert, alle wieder abgesetzt.“ Nur ein Schlafmittel bewirke etwas bei ihm, Quetiapin, ein Neuroleptikum. Normale Dosis: 25 Milligramm. „Ich nehme 500, damit ich überhaupt schlafen kann.“
Unter depressiven Episoden leiden weltweit 320 Millionen Menschen, in Deutschland mindestens vier Millionen. Die Symptome sind vielfältig: Schlafstörungen, eine anhaltende gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit, Interessenverlust, Apathie.
Insgesamt haben hierzulande knapp 18 Millionen Menschen psychische Erkrankungen. Gegen die Ängste, Zwänge, Süchte, Ess- und Schlafstörungen, schizophrenen Züge und eben Depressionen schluckt der Großteil von ihnen Psychopharmaka.
Rund zwei Milliarden Tagesdosen Antidepressiva werden derzeit in Deutschland pro Jahr verschrieben. In anderen Ländern sind es noch mehr: Portugal schluckt in Relation mehr als doppelt so viele Antidepressiva wie Deutschland, Island fast das Dreifache. In den USA nimmt jede und jeder Fünfte tagtäglich Psychopharmaka ein.
Die Medikamente sollen die Dämonen vertreiben, uns wieder zuverlässig funktionieren lassen. Bei manchen wirken sie. Bei anderen nicht.
Die genaue Ursache vieler psychischer Störungen im Gehirn ist dabei immer noch unklar, Wissenschaftler*innen sind sich uneinig. Und doch werden die Pillen verschrieben, weil sie Schieflagen des Hirnstoffwechsels ins Gleichgewicht bringen sollen. Pillen, von denen zwar nicht wirklich bekannt ist, warum sie wirken, wohl aber, welche Nebenwirkungen sie haben.
Oliver Vorthmanns Biografie zeigt, wie Betroffene manchmal jahrzehntelang nach der richtigen Behandlungsmethode suchen – und sie doch nicht finden. Seine Geschichte führt uns zu neueren medikamentösen Versuchen mit Stoffen wie Ketamin und Psilocybin – und dazu, wie sich eine Gesprächstherapie in die medikamentöse Behandlung einbinden lässt.
Der Blick geht aber zunächst einmal zurück. Psychopharmaka sind ein recht junges Kapitel in der Medizingeschichte. Und wie so oft bei großen Durchbrüchen der Forschung war es der Zufall, der die Psychiatrie revolutionierte. Die deutsche Farbindustrie war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf Farbstoffe mit sedierender Wirkung gestoßen. 1952 wurde als erstes Antipsychotikum Chloropromazin entdeckt, fünf Jahre später folgte „Sommerblau“ oder auch Imipramin, das erste Antidepressivum.
Oliver Vorthmann brauchte lange, bis er psychologische Hilfe in Anspruch nahm
Binnen weniger Jahre drängten immer mehr Medikamente auf den Absatzmarkt der Antidepressiva. Dort formieren sie sich zu Substanzengruppen mit jeweils ähnlichen Wirkstoffen. Doch ob trizyklische Antidepressiva, MAO-Hemmer oder selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – im Wesentlichen tun diese alle dasselbe: Sie beeinflussen die Konzentration wichtiger Botenstoffe im Gehirn, zum Beispiel das vereinfacht als „Glückshormon“ bezeichnete Serotonin, oder auch Noradrenalin und Dopamin. Werden diese vom Gehirn ausgeschüttet, dann wirkt sich das positiv auf unsere Stimmung aus. Wir sind begeisterungsfähig, energetisch, redselig, fühlen uns mit unseren Mitmenschen verbunden. Nicht bei allen Menschen funktioniert das gleichermaßen gut.
Die Gedanken zirkulieren zäh, als hätte jemand Kleister in den Kopf gekippt. Ich kann den Kreisel nicht stoppen, es raubt mir die Kraft. Die Erschöpfung lässt nicht nach. Ich will mich abschirmen. Nur noch die eigenen vier Wände fühlen sich halbwegs sicher an.
Vorthmann ist in Paderborn aufgewachsen. Seine Eltern sind alkoholkrank. Er ist vier Jahre alt, da unternimmt seine Mutter ihren ersten Suizidversuch. „Mein Vater hatte uns verlassen und meine Mutter kam nicht mehr klar“, erzählt er in der Ecke eines Cafés am Schifffahrtskanal in Berlin-Neukölln. In dem Berliner Stadtteil lebt Vorthmann. Hochparterre Hinterhaus, ruhig und anonym. Mit einem Zimmer als Rückzugsort, seinem Versteck. „Da verschwinde ich, wenn ich in meiner Depression bin, wenn ich aus der Welt sein will. Ich weiß nicht, wann ich dort das letzte Mal die Jalousien hochgezogen habe.“
Immer, wenn er beginnt, von seiner Kindheit zu reden, atmet er tief durch. Er schiebt seine Tasse auf dem Holztisch herum. „Ich erinnere mich, dass ich anders war: still, ohne Freunde, beim Sport immer zuletzt gewählt.“ Und immer dieselbe Frage von den anderen: Oli, was hast du denn?
„Ja – nix, so war ich halt. So bin ich noch.“ Aber deshalb zum Psychologen gehen? „Es war doch normal für mich, nicht normal zu sein. Ich war ruhig, ich war Einzelgänger, aber nicht krank.“
Er löst seine Probleme so, wie junge Männer ihre Probleme lösen, wie seine Eltern sie lösen: Er trinkt. Viel. Später lernt er eine Frau kennen. „Sie kannte meine Art und Weise von Anfang an, natürlich war das nicht leicht für sie. Schlimm wurde es, wenn ich gar nicht mehr geredet und meine Probleme weggeschwiegen habe.“ Die beiden ziehen zusammen und heiraten. Dann macht sich Vorthmann selbstständig, mit einem Küchengeschäft für Menschen mit Einschränkungen. „Das war eigentlich eine absolute Marktnische. Aber der Laden ist gefloppt.“
Die Geldsorgen, die Depression, der Alkohol. „Zu dem Zeitpunkt habe ich schon eine Flasche Hochprozentiges am Tag gesoffen.“ Weinbrand-Cola, Ramazzotti. Vorthmann verlässt seine Frau, vielleicht, um sie vor seiner Krankheit zu beschützen. 2012 schickt er seiner Cousine eine Mail. Er bedankt sich für alles, schreibt, er wolle nicht mehr, und verabschiedet sich von ihr. Die Cousine reagiert. „Sie hat mich sofort eingesammelt und ins Krankenhaus gefahren.“
Wenn Psychiater*innen mit neuen Patienten sprechen, beginnen sie zunächst mit der Diagnostik. Die läuft seit jeher nach einem immer wieder überarbeiteten Klassifikationssystem ab, dem diagnostischen Leitfaden psychischer Störungen, kurz DSM. In dessen frühen Versionen wurden Depressionen noch in mehrere Formen mit mehreren Ursachen eingeteilt: die reaktive Depression, die auf einen Schicksalsschlag folgt, die neurotische Depression, die aus seelischen Konflikten aus der Kindheit herrührt, die endogene, also biologisch begründbare Depression, und so weiter.
Der US-amerikanische Psychiater Robert Spitzer glaubte Anfang der achtziger Jahre, dass sich die Psychiatrie bei ihren Diagnosen unnötig in teils willkürlichen Theorien verrenne. Als Chefautor des DSM-III sorgte er dafür, dass sich die Diagnostik fortan darauf beschränkte, die wesentlichen Symptome gründlich zu beschreiben, Ursache hin oder her. Seitdem erfragen die Therapeut*innen, ob wir ruhelos sind und schlecht schlafen, ob wir uns energielos fühlen und zu nichts aufraffen können, ob wir desinteressiert sind. Die Checkliste der Symptome und deren Dauer zeigt schließlich, ob wir bloß ein Stimmungstief durchlaufen oder an einer Depression leiden. Man unterscheidet dabei zwischen leichter, mittelschwerer und schwerer Depression.
Vor Spitzers Neuordnung hätte man Oliver Vorthmann eine neurotische Depression diagnostiziert. Spitzer wollte den Ausdruck „depressive Persönlichkeit“ ersetzen und führte den Begriff Dysthymie ein, das griechische Wort für Missmut. Damit ist eine über Jahre andauernde Depression gemeint, die häufig auch von Ängsten und auch Suchtverhalten begleitet wird. Betroffene ertragen die Symptome über Jahre, Jahrzehnte, weil sie die Schwermut für einen Teil ihrer Persönlichkeit halten. Andere Menschen erleben eine Depression eher episodenhaft.
Nach der Traurigkeit kam die Nüchternheit. Ich fühlte einfach gar nichts mehr, nicht nur keine Freude, sondern auch keine Trauer. Die ganze Zeit wollte ich unbedingt diese Trauer loswerden. Nun wollte ich sie zurück, damit ich wenigstens überhaupt etwas fühle.
„Die Dysthymie sieht bei mir so aus“, erklärt Vorthmann und malt mit dem rechten Zeigefinger einen unsichtbaren Horizont auf den Tisch. „Sagen wir, das ist die normale Nulllinie. Die meisten Leute fühlen auf dieser Linie und erleben in Peaks emotionale Höhen und Tiefen.“ Dann zeichnet er mit dem linken Zeigefinger eine weitere Linie, die ein Stück weit parallel unter der Nulllinie verläuft. „Hier bewege ich mich normalerweise. Meine Stimmung ist grundsätzlich ein bisschen beschissener als die der anderen. Von dieser Linie aus geht es gern mal noch tiefer in den Keller, aber üblicherweise nicht wirklich höher.“
Natürlich gab es auch die schönen Momente in Vorthmanns Leben. Seine Hochzeit. Oder das Konzert der Indie-Band Editors, als ihm Sänger Tom Smith nach dem ersten Song zuwinkte. „In solchen Momenten muss ich aufpassen, dass ich keine Bäume ausreiße. Sonst stürze ich umso schneller und umso tiefer wieder ab.“ Die Abstürze können dreimal im Jahr kommen oder gleich zweimal die Woche, das ist unberechenbar für ihn.
„Erst vor kurzem habe ich wieder drei Tage gebraucht, um den Müll rauszubringen. Ich habe die ganze Zeit ins Treppenhaus gehorcht, ob da jemand ist. Ich weiß, wie sich das anhört.“ Eine kühle Distanz zu Menschen bis hin zu agoraphobischen Züge gesellen sich zu Olivers Dysthymie.
Was genau geschieht in unserem Kopf bei einer Depression? Aus der Erkenntnis, dass die Antidepressiva die Konzentration des Serotonins im Gehirn erhöhen, bildete die Neurowissenschaft die Hypothese, dass bei Menschen mit Depressionen ein Mangel an bestimmten Neurotransmittern vorliegen müsse.
Serotonin und Noradrenalin würden nicht so recht von einer Nervenzelle zur nächsten diffundieren, die Übertragung in den Synapsen laufe nicht optimal. Auch hier war es also so: Durch einen Zufallsfund gelangte man zu Erkenntnissen über biochemische Prozesse im Kopf.
Die Pharmaindustrie konzentrierte sich fortan auf noch mehr Medikamente, die dafür sorgen, dass die Botenstoffe länger an ihrem Wirkungsort bleiben. Wie auch die SSRI: Sie hemmen gezielt die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin in die Präsynapse und erhöhen so dessen Konzentration im synaptischen Spalt.
In den neunziger Jahren gab es einen regelrechten Hype um SSRI, die Psychiater*innen bis heute bevorzugt verschreiben, einfach deshalb, weil sie als vergleichsweise gut verträglich gelten. Wie etwa Citalopram, Sertralin oder Fluoxetin, international besser bekannt als Prozac.
Geh doch mal raus, spazieren, ein bisschen Sonne tanken. Koch was Gesundes. Mach Sport, geh schwimmen oder joggen, probier mal Yoga aus. Wie sinnlos mir solche Ratschläge gerade vorkommen. Als wüsste ich das nicht alles selbst.
Von seinem ersten Tag im Krankenhaus an versuchten es die Ärzte auch bei Oliver Vorthmann mit Psychopharmaka. „Ein halbes Jahr war ich dort. Drei Medikamente haben die Ärzte an mir ausprobiert, geholfen hat keines. Damit war die Therapie vorbei. Sie sagten, sie können nichts mehr für mich tun. Vielleicht würde eine Auszeit guttun.“ Vorthmann presst beide Hände an die Stirn und atmet tief durch. „Du kannst einen Depressiven nicht einfach nach Mallorca verfrachten und dann geht’s dem wieder gut.“
Kurz vor Vorthmanns Einweisung im Jahr 2012 war die Serotonin-Hypothese erstmals ins Wanken geraten. Der US-amerikanische Wissenschaftler Irving Kirsch hatte in einer Metaanalyse Studien ausgewertet und war zu dem Schluss gekommen, dass Antidepressiva aus der Klasse der SSRI genauso wirksam seien wie Placebos. Die Geschichte wurde öffentlich, Medizin und Pharmalobby gerieten in Erklärungsnot. Vor zwei Jahren erschien eine weitere Metastudie, mit ähnlichem Ergebnis.
Heißt das also, die ganzen Pillen bringen es überhaupt nicht?
Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung schreiben in ihrer aktuellen nationalen Versorgungsleitlinie zur Unipolaren Depression: „Über die Mechanismen, durch welche die Wirkung der Antidepressiva zustande kommt, besteht weiterhin Unklarheit. Daher ist es bis heute nicht möglich, verlässlich vorauszusagen, ob und wann ein bestimmter Patient auf ein bestimmtes Antidepressivum ansprechen wird.“ So bleibt die Serotonin-Hypothese bis auf weiteres das, was sie immer gewesen ist: eine Annahme.
Manche Forschende versuchen es deshalb mit anderen Erklärungen. Für sie ist es wahrscheinlich, dass Depressionen einen oxidativen Stress auslösen. Oxidativer Stress bezeichnet einen Zustand im Stoffwechsel, bei dem Zellen beschädigt und rote Blutkörperchen angegriffen werden, so entstehen Entzündungen im Gehirn. Die ersten Warnsignale: Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. Das effektivste Mittel dagegen: die Selbstheilungskräfte aktivieren, und zwar durch gesundes Essen, frische Luft, Meditation und Sport. Gerade hat die University of South Australia knapp einhundert Arbeiten ausgewertet, die belegen sollen, wie effektiv Sport und Bewegung gegen Depressionen und Angststörungen wirken.
Auch Gerhard Gründer zweifelt daran, dass einzig die fehlenden Botenstoffe eine Depression ausreichend erklären. Gründer ist Professor für Psychiatrie und Leiter der Abteilung für Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Es ist zu simpel zu sagen, die Krankheit liege an einem Mangel der Neurotransmitter“, sagt er, „Es ist aber ebenfalls nicht richtig, daraus zu schließen, die Medikamente wirken nicht, weil es zu wenig Evidenz für die Hypothese gibt. Das ist eine falsche Kausalität. Medikamente können wirksam sein, auch wenn wir nicht wissen, warum.“ Die Medikamente hälfen Millionen Menschen. Und sicher gehe es Depressiven heute besser als vor 60 Jahren, als psychische Erkrankungen noch viel stärker stigmatisiert waren und das Gespräch mit dem Psychiater verheimlicht werden musste.
Doch ist es eben auch so, dass die Pharmaindustrie bis heute keine bahnbrechenden, besser wirkenden Psychopharmaka entwickelt hat. Noch immer gibt es Medikamente, die es in ihrer grundlegenden Zusammensetzung schon vor 60 Jahren gab. Offenbar wissen wir immer noch zu wenig Konkretes über die Funktionsweise des Gehirns.
Und irgendwie passt das zu Robert Spitzers Diagnoseverfahren: Wir konzentrieren uns auf die Symptome und haben Medikamente, die sie mehr oder weniger gut lindern. Die Patient*innen haben mit möglichen Nebenwirkungen zu kämpfen, etwa Gewichtszunahme und eingeschränkte Sexualfunktionen, sowie der Tatsache, dass die meisten Psychopharmaka erst nach rund zwei Wochen wirken. Wenn sie denn wirken.
Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller stehen auf dem Feld der Antidepressiva derzeit über 60 neue Substanzen für eine Zulassung auf dem Prüfstand. Es gibt weitere SSRIs, neuroaktive Steroide oder auch Extrakte aus chinesischen Kräutern. Auffällig in der Liste: Ein Drittel der Präparate sind Psychedelika und Dissoziativa, also psychoaktive Substanzen, die unsere Wahrnehmung beeinflussen. Schon etwas länger im Visier der Forschung ist dabei Ketamin.
Ketamin, eigentlich ein Anästhesie-Medikament, ist in den vergangenen Jahrzehnten als Partydroge bekannt geworden. Nun gilt es als neue Hoffnung in der Depressionstherapie. Esketamin, sozusagen der Zwilling von Ketamin, wird inzwischen in den USA als Antidepressivum eingesetzt, in Form eines Nasensprays.
Esketamin macht Dopamin in der Region verfügbar, die für das Belohnungs- und Motivationssystem zuständig ist. Die Dosierung liegt bei einem Zehntel der Menge, die man sich auf einer Clubtoilette durch die Nase ziehen würde.
Die klinischen Studien sprechen für Ketamin, bei vielen als therapieresistent geltenden Depressionspatienten nahmen die Symptome ab. Doch es gibt auch mahnende Stimmen. Die US-Gesundheitsbehörde FDA warnt davor, dass der Markt mit Präparaten geflutet werden könnte und Menschen mit Depressionen und zu großen Erwartungen durch eine Ketamintherapie in Eigenregie abhängig werden könnten.
Die Schwere sinkt in dich hinein und breitet sich aus wie ein Parasit. Jede Bewegung wird zum Kraftakt. Dein Gehirn schaltet auf Autopilot, um überhaupt noch irgendwie zu funktionieren. Dann kommen die Schuldgefühle. Gerade noch hatte ich ein voll durchgetaktetes Leben, ich habe funktioniert. Du willst, dass es wieder so wird, wie es vorher war, aber weißt nicht, wie.
Für Oliver Vorthmann war ein normales Berufsleben irgendwann nicht mehr möglich. Bis 2015 arbeitete er noch bei Fujitsu im Vertrieb, dann kündigte er. „Mein Antrag auf Erwerbsminderungsrente wurde natürlich trotzdem abgelehnt“, sagt er. „Ich kann ja meine Arme und Beine bewegen, mein Herz schlägt, also hat der Gutachter das Problem nicht gesehen. Der dachte einfach nur, ich bin ein Weichei.“
Die Alkoholsucht hat Vorthmann überwunden, die Depressionen bleiben. „Irgendwann habe ich gelernt, mit dem schlimmen Gedanken zu leben, nicht leben zu wollen“, sagt er.
Natürlich hat Vorthmann auch Gesprächstherapien durchlaufen. Medikamentöse Therapie ist das eine, empfohlen wird aber immer auch das therapeutische Gespräch. Wie gut Psychotherapie bei Depressionen wirkt, hat gerade das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München mit einer umfangreichen Psychotherapiestudie herausgefunden.
Drei Jahre lang hat es Daten von knapp 300 Patient*innen zusammengetragen, etliche Symptome wurden analysiert. Zwei Monate lang erhielten die Teilnehmenden ein psychiatrisches Programm mit Therapiesitzungen.
Das Ergebnis: „Zwar geht die Forschung sowohl in der medikamentösen Therapie als auch in den verschiedenen Praxen der Gesprächstherapie nur zäh voran“, räumt Forscher Johannes Kopf-Beck ein. „Trotzdem haben wir bei der Kombination beider Therapieformen sehr gute Effektstärken gemessen.“
Die Studien zeigten den Forschenden, dass die Probanden, mit ihrer Leidensgeschichte konfrontiert, in Konzentrationstests besser abschnitten als vor den Therapiesitzungen. Durch die aufarbeitenden Gespräche mit den Therapeuten werden im Hirn neue Nervenzellverbindungen gebildet – und die halten nachhaltig.
Gerhard Gründer, Psychiater
„Die langfristigen Effekte der Psychotherapie sind wichtig, da bei Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen der relapse, also der Rückfall, eine der größten Herausforderungen darstellt. Die Pharmakotherapie wirkt im Vergleich dazu eben meist nur so lange, wie die Medikamente genommen werden.“
In Deutschland gibt es aber lediglich 32.500 Kassensitze für PsychotherapeutInnen, also Lizenzen, mit denen die Therapien über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Und das bei einer ständig zunehmenden Zahl an Leuten, die gerne eine Therapie machen würden.
Entsprechend sind die Wartezeiten in Deutschland derzeit immens. Allein für einen ersten Termin in der Richtlinienpsychotherapie wartet man in Berlin durchschnittlich 13 Wochen, in Baden-Württemberg sind es 17 Wochen und in Nordrhein-Westfalen gar 23.
Bei Oliver Vorthmann hat es ein Jahr gedauert, ehe er 2016 seine erste tiefenpsychologische Therapie beginnen konnte. Die Behandlung beim Psychiater ist insgesamt weniger zeitaufwendig. „Ein Termin beim Psychiater kann ruck, zuck gehen. Nach zwei Minuten bist du mit einem neuen Medikament wieder draußen“, sagt er.
Dass so sehr auf Medikamente gesetzt wird, hat auch mit dem Zeitgeist zu tun, meint Psychiater Gerhard Gründer. „In unserer Leistungsgesellschaft ist auch die Hoffnung auf einen Quickfix mit einer Pille verankert.“ In Vorträgen und Büchern fragt Gründer, wie wir uns mit der sich ständig und schnell wandelnden Gesellschaft arrangieren. „Versuchen wir, unsere Lebensumwelt so zu verändern, dass wir darin gesünder leben können, oder versuchen wir unser Gehirn an eine lebensfeindliche Umwelt anzupassen?“ Es sei einfacher, Tabletten zu schlucken, als dass wir uns mit unseren Problemen auseinandersetzen. „Das kostet Zeit, Geld und viel Mühe.“
Gerhard Gründer forscht nach Alternativen zu den herkömmlichen Psychopharmaka – und konzentriert sich dabei auf Psilocybin, also Pilze, die einen psychedelischen Rausch auslösen. In seiner aktuellen Studie sammelt Gründer mit seinem Team belastbare Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit von Psilocybin in der Depressionstherapie.
Gründer bereitet seine Proband*innen in aufwändigen Vorgesprächen auf die psychedelische Erfahrung vor. Dann schickt er sie in einem kontrollierten Setting auf einen mehrstündigen Trip. Im Labor gibt es einen Therapieraum, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet ist. Es gibt ein Bett und Sessel, Schränke, dicke Vorhänge, gedämpftes Licht, Pflanzen, eine Stereoanlage mit 30 Stunden Musik. Während der Erfahrung werden die Personen von einer Therapeutin und einem Therapeuten betreut.
„Die Studien legen nahe, dass die psychedelische Erfahrung für die Wirksamkeit der Therapie eine Bedeutung hat“, erklärt Gründer. „Das Erlebnis muss intensiv sein. Dabei spielt es anscheinend keine Rolle, ob es sich um eine angenehme spirituelle oder eine herausfordernde Erfahrung handelt, was man im Volksmund auch Horrortrip nennt.“ Ein Proband erzählte Gründer, er sei trotz der Vorbereitungen und des Settings in dem gemütlichen Raum mit der angenehmen Musik über sechs Stunden durch die Hölle gegangen. Er habe sich mit den schwierigsten Teilen seiner Psyche auseinandersetzen müssen. Aber dabei wesentliche Muster überwunden.
Bei der Nachbesprechung ergeben die Antworten der Probanden eine Einordnung in ein Punktesystem, die Hamilton-Skala. Das ist ein Diagnosewerkzeug, mit der der Schweregrad einer Depression beurteilt wird. Ab einer Punktzahl von 9 beginnt die leichte Depression, ab 25 Punkten die schwere. Der Proband mit dem Horrortrip hatte auf der Hamilton-Skala nur noch einen Punkt.
Wie genau Psychedelika Depressionen lösen können, ist wieder mal ungeklärt, doch es gibt Hinweise, dass sie die Hirnstruktur entscheidend verändern. In früheren Studien zeigten Hirnscan-Bilder aus dem MRT eine Zunahme der Verbindungen zwischen den Neuronen, und das über Wochen und Monate.
Das ist ein Zeichen für Neuroplastizität und somit des sich verändernden und anpassenden Gehirns. Die Proband*innen sprechen nach der psychedelischen Erfahrung von einer emotionalen Gelassenheit und erhöhten Flexibilität.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Ich glaube, dass Psilocybin vielen Menschen mit Depressionen helfen kann“, sagt Gerhard Gründer. „Allerdings wird es noch dauern, bis das in der psychiatrischen Regelbehandlung ankommt.“ Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte lehnte Gründers Vorschlag ab, schon Ersterkrankte mit dem Wirkstoff zu behandeln. Diese Art der Behandlung solle bis auf Weiteres Menschen mit therapieresistenten Depressionen vorbehalten sein.
Die Hoffnung auf Psilocybin ist groß – was die Ergebnisse der Studie verzerren kann. Denn wenn die Teilnehmer*innen auf eine schnelle Wunderheilung hoffen, nehmen sie kleinere Verbesserungen in ihrem Wohlbefinden weniger wahr. Und ein weiteres Problem: Die Versuchsperson weiß ziemlich genau, ob sie auf einem Pilztrip ist oder ein Placebo geschluckt hat.
Auch Oliver Vorthmann hat an Gerhard Gründers Studie teilgenommen. Sechs Monate Vorbereitung brauchte er dafür: „Um mitmachen zu können, musste ich mein Quetiapin ausschleichen. Bis zur ersten Sitzung habe ich durchgehalten. Ich saß in dem Zimmer und habe die Pille bekommen. Und nach einer Stunde war klar: Scheiße, Placebo.“ Das Psilocybin wäre Vorthmann erst in Runde zwei verabreicht worden. Dann hätte er noch einmal über Wochen ohne Schlaf auskommen müssen.
Er hat aber einen anderen wichtigen Schritt getan: Er geht mit seiner Krankheit aktiver, offensiver um. „Ich bin in die Depressionsliga eingestiegen, bin inzwischen im Vorstand und arbeite beim Gemeinsamen Bundesausschuss mit. Jetzt mache ich die Ausbildung zum Peer-Berater.“ Dabei würde er als Betroffener Betroffenen helfen. Schließlich weiß er am besten, wie lebenswichtig Hilfe in akuten Krisen sein kann.
„Ich will Menschen auf Augenhöhe begegnen, beim Antistigmatisieren helfen, Forschungsarbeit machen“, sagt Oliver. Er weiß, dass das Gespräch hilft, dass das soziale Umfeld hilft. „Die Arbeit gibt mir Hoffnung. Für mich ist das die beste Therapie. Es ist in etwa so, als würde ich meine Berufung zum Beruf machen. Nur halt nicht ganz so spaßig.“
Die kursiven Beschreibungen stammen von Menschen mit Depressionen, mit denen der Autor gesprochen hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos