Beginn des Jazzfest Berlin: Die Jazzpilze sprießen wieder
Am Donnerstag startet das Jazzfest Berlin. Im Fokus der Ausgabe 2019 steht die Verknüpfung von Akteuren der freien Szene mit internationalen Stars.
Und doch schien die hiesige Jazzszene und die Berichterstattung darüber ein bisschen überfordert, als 2018 tatsächlich das Unvorstellbare eintrat: Eine Frau übernahm erstmals die künstlerische Leitung. Nadin Deventer wurde angegriffen und abgefeiert. „Das ist schon erstaunlich, dass es in einer europäischen Großstadt wie Berlin so ein großes Ding ist.
Das spricht Bände für den Stand der Debatte um Gender und Diversität in dieser Gesellschaft. Mich als Frau Anfang 40 wundert das aber eigentlich nicht, ich kenne die patriarchalen Strukturen“, sagt sie nun, wenige Tage vor der zweiten Ausgabe des Festivals, das sie kuratiert. „A Mother’s Work Is Never Done“, ein Zitat der norwegisch-texanischen Gruppe The Young Mothers um Bassist Ingebrigt Håker Flaten, steht jetzt als Slogan im Programmheft: Es muss ja doch weitergehen, nach dem Einschnitt, den Deventers erste Festivalausgabe darstellte.
AACM in Chicago
Das Jazzfest beginnt am 31. Oktober und endet am 3. November. Das vollständige Programm finden Sie hier
Nachdem Afrofuturismus und die Szene von Chicago im Fokus standen, ist es diesmal tatsächlich die lokale Berliner Szene, die stärker in den Blick rückt. Und das nicht nur weil US-Jazz-Legende Anthony Braxton, Mitglied der jazzhistorisch hoch relevanten Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) und ein Grenzüberschreiter, der Jazz und Neue Musik immer wieder verschmolzen hat und mittlerweile Notationen beinahe von der grafischen Wirkung her setzt, für sein monumentales Projekt „Sonic Genome“ mit vielen Berliner Musiker*innen zusammenarbeitet.
Bei Braxtons Ensemble wirken nun Combos wie das Andromeda Mega Express Orchestra und das Trickster Orchestra mit. Bei aller Grenzenlosigkeit, aller Ungebundenheit von Jazz und allen neuen Kommunikationswegen sei Musik noch immer an einen Entstehungsort gebunden, meint Deventer: „Du musst dich irgendwo ansiedeln, um zu wachsen, und da haben Metropolen noch immer Anziehungskraft. Und in Berlin ist es superinternational. Deutsche Musiker sind in der Minderheit. Wir sprechen hier von der ganzen Welt.“
Das Jazzfest hat es lange versäumt, ein gutes Verhältnis zur freien Szene aufzubauen. Erst unter Deventers Vorgänger, dem Briten Richard Williams, mit dem sie eng zusammenarbeitete, öffnete sich das Festival auch der Stadt. „Ich empfinde es als ein Vergnügen, mit Akteuren der lokalen Szene zusammenzuarbeiten, außergewöhnliche Projekte zu kreieren. Das ist meine Hauptaufgabe: Freiräume zu schaffen und Möglichkeiten“, sagt sie heute.
Zum Beispiel: das Berliner KIM Collective, das sehr interdisziplinär arbeitet. 2018 bespielten sie die Unterbühne und luden in den Keller des Hauses der Berliner Festspiele, diesmal wachsen sie durch das Haus als „Pilz des Festivals“, entwickeln Performances und Installationen – und führen am Abschlussabend eine „Fungus-Oper“ namens „The Mass of Hyphae“ auf.
Spiritualität und Politik
Kollektive und Szenen: Rückte das Jazzfest vor wenigen Jahren noch mit der Einführung einer „Residency“ Künstlerpersönlichkeiten in den Vordergrund, die den Jazz aktuell prägen, ist es diesmal eher die Art, wie diese Persönlichkeiten miteinander interagieren. Dies wird ins Licht der Großen Bühne der Festspiele geholt – die in diesem Jahr als Amphitheater angeordnet wird: ZuschauerInnen, die nah am Geschehen sein möchten, dürfen auf Matratzen Platz nehmen.
Zwar gibt es klassische Konzerte, etwa von der Free-Jazz-Künstlerin Angela Bat Dawid, deren im Frühjahr erschienenes Debütalbum „The Oracle“ Spiritualität und Politik verbindet und die am Freitag ihre Deutschlandpremiere gemeinsam mit der Gruppe The Brothahood spielen wird.
Doch im Fokus steht das Experiment. So treffen in den „Late Night Labs“ außergewöhnliche Konstellationen aufeinander: Das Projekt T(r)opic um den französischen Gitarristen Julien Desprez entwickelt etwa gemeinsam ein Programm mit dem brasilianisch-amerikanischen Trio São Paulo Underground und den beiden Tänzerinnen Pauline Simon und Ana Rita Teodoro, die den traditionellen brasilianischen Tanz Coco neu denken.
Anthony Braxton, der das Festival am heutigen Donnerstag mit seinem über Stunden aufgerichteten Klangkosmos im Gropius-Bau eröffnet, ist mittlerweile 74, aber den Glauben, dass nur junge Menschen die Musik verändern können, hält Deventer für reichlich naiv. Die Balance zwischen dem Blick auf die Stellen des Etablierten, wo der Staub noch nicht so dick aufliegt, und der Lust auf das Neue kennzeichnet auch in diesem Jahr ihre Programmauswahl.
Eine Ausnahmeerscheinung im Metier will sie damit aber auf keinen Fall sein. „Es steht ein Generationswechsel an: Die meisten Institutionen des Jazz sind vor 30, 40 Jahren gegründet worden und werden ganz natürlich einer jüngeren Generation übergeben werden. Ich bin eine der Ersten. Das gibt mir große Sichtbarkeit. Aber es wird passieren, immer mehr.“
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