Bedeutung des Begriffs „Neutralität“: Legal, egal, klimaneutral
Alle wollen Emissionen reduzieren. Aber was heißt Klimaneutralität genau? Man kann es sich leicht machen – oder der Realität ins Gesicht blicken.
U nsere Schweizer FreundInnen habe ich oft beneidet. Nicht nur um ihre glasklaren Bergseen und manchmal um ihre direkte Demokratie, sondern auch um ihre Chance auf einen argumentativen Notausgang: Ski-Abfahrt oder Langlauf? Anreise per Auto oder Zug? Abends Spaghetti oder Risotto? „Wir halten uns da raus“, sagen die EidgenossInnen dann gern, „wir sind neutral.“
Das hilft natürlich nicht. Aber in der Klimadebatte findet man das inzwischen toll: Jedes Buch, jeder Kongress, jede Kreuzfahrt, alles „klimaneutral“. Sogar dieses Land und dieser Kontinent wollen bis 2050 „treibhausgasneutral“ sein. Die Regierung hat das entschieden, Bundestag und -rat haben es beschlossen. Was es bedeutet, weiß allerdings niemand. Und wie sehr das unser tägliches Leben auf den Kopf stellen wird, ahnen nur wenige Mutige. Viele bisherige Konzepte klingen mehr so nach Gruselthriller. Der Bericht der Agora-Thinktanks und der Stiftung Klimaneutralität war also dringend nötig.
Denn dass der Klimawandel irgendwie ein Problem ist, haben inzwischen alle begriffen, die nicht in den US Supreme Court berufen werden wollen. Aber dass die Lösung darin bestehen soll, möglichst bald nur noch so viele Treibhausgase in die Luft zu pusten, wie man einlagern kann, etwa in Bäumen, ist unklar.
Und daher schneidert sich gerade jede Stadt, jedes Land, jede Behörde und jedes Unternehmen seine eigene Idee von „Klimaneutralität“: Alle eigenen Emissionen runter auf null? Was ist mit Zulieferern? Oder nur die Hälfte einsparen und den Rest per CO2-Lizenzen „kompensieren“? Und rechnen wir nur Kohlendioxid und lassen Methan, Lachgas und andere Treibhausgase unter den Tisch fallen (das nennen wir dann „CO2-neutral“, und keiner merkt den Unterschied), um die Bauern zu erfreuen?
Ähnlich schwammig wie „Nachhaltigkeit“
Was „Klimaneutralität“ ist und wie sie aussieht, wird inzwischen ähnlich schwammig wie „Nachhaltigkeit“. Deshalb lieben jetzt auch alle den Begriff – er klingt ja auch zu gut und klinisch sauber. Neutral sein heißt: Wir machen uns die Hände nicht schmutzig. Neutralseife ist gut für die Umwelt. Neutral heißt: weder gut noch böse; wir sind stets dabei, aber nie verantwortlich. Wir beurteilen alles von einem objektiven Standpunkt aus. Wir halten uns raus und verdienen damit gutes Geld – wie die Schweiz.
Neutral heißt aber auch: mir doch egal. So meint es Amy Coney Barrett, erzkonservative Richterin auf dem Weg in den Obersten US-Gerichtshof. Weil sie „keine Wissenschaftlerin“ sei, leiste sie sich keine „Meinung bei einer sehr umstrittenen Frage“. Neutral kann also auch bedeuten: zu feige, um die Realität zu sehen.
Das ist das Problem mit der „Klimaneutralität“. Die Bezeichnung suggeriert Raushalten, Abstand, Abwarten, Zurückhaltung. Motto: Legal, egal, klimaneutral. Dabei brauchen wir genau das Gegenteil: Einmischen, Anpacken, klare Entscheidungen treffen, volle Kanne loslegen. Wer den ganzen Wahnsinn aus vornehmer Distanz betrachtet, wird nie klimaneutral.
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