Bauernproteste in den Niederlanden: „Das ganze Land stilllegen“
Die Bauernproteste in den Niederlanden verschärfen sich. Um neue Stickstoffregeln allein geht es den Landwirten dabei längst nicht mehr.
Die Proteste ausgelöst hat eine Krise, die das Land nicht erst seit diesem unruhigen Sommer beschäftigt. In den Niederlanden sind die Stickstoff-Emissionen mehr als dreimal so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Einer Studie aus 2019 zufolge ist die Landwirtschaft mit 61 Prozent die wichtigste Quelle. Jüngste Zahlen berichten freilich, dass der durch Viehausscheidungen freigesetzte Stickstoff im letzten Jahr deutlich gesunken sei.
Stickstoffoxide und Ammoniak, zu denen der Stickstoff in der Luft reagiert, sind Vorläufersubstanzen von gesundheitsgefährdendem Feinstaub und Ozon und schädigen Ökosysteme. Deshalb kündigte die Regierung in Den Haag Mitte Juni an, den Ausstoß von Stickstoff um 50 Prozent zu reduzieren. Eine detaillierte „Stickstoff-Karte“ gliedert das Land in Zonen, in denen man die Emissionen je nach Nähe zu den Naturgebieten um 12 bis 95 Prozent senken will. Im Detail sollen sich dann die Provinzen um die Umsetzung kümmern.
Seither halten die Demonstrationen an. Vor einer Woche kamen im Dorf Stroe im Zentrum der Niederlande Zehntausende Landwirte zusammen. Es war eine friedliche Kundgebung, auf der die Initiatoren aber ankündigten, man werde zu anderen Maßnahmen greifen, sollte die Regierung ihre Pläne nicht ändern. Der Unmut der Bauern speist sich aus dem Frust, jahrelang ihre Betriebe an neuen Umweltauflagen ausgerichtet zu haben, und der Furcht, ihre Höfe trotzdem aufgeben zu müssen. In Den Haag wird seit Jahren erwogen, Landwirte auszukaufen und den Viehbestand zu halbieren
Umweltministerin privat besucht
Innerhalb der vergangenen Woche haben sich die Proteste erheblich verschärft. Mehrfach blockierten die Landwirte Autobahnen mit Traktoren, zündeten Heuballen an, zweimal versammelten sie sich abends vor dem Haus von Umweltministerin Christianne van der Wal, was zu starker Kritik führte. Beim letzten Mal wurde dabei eine Polizeiabsperrung durchbrochen.
Premier Mark Rutte verurteilte die Aktion. Auch vor dem Parlament fanden Anfang der Woche Proteste statt. Die Mehrheit der Abgeordneten sprach sich am Mittwoch für die vorgesehene Stickstoffreduzierung aus.
Im Telegram-Aufruf räumen die Initiatoren der Regierung nun im Stil eines Ultimatums „Zeit, um die Pläne in den Papierkorb zu werfen“ ein. Ihr einschüchterndes Auftreten bringt den Protestierenden nun zunehmend die Wut weiter Teile der Bevölkerung ein. Trotzdem erklärten 45 Prozent der Teilnehmenden einer Umfrage in der vergangenen Woche, vollkommen hinter den Protesten zu stehen. Im Oktober waren es noch 38 Prozent.
Bei Kundgebungen sieht man derweil vermehrt Plakate, man kämpfe „für die Freiheit aller Niederländer “ – oder dass 90 Prozent der Bevölkerung die Proteste guthießen. Diese Zahl entbehrt zwar jeder Grundlage, unabhängig davon aber haben sich die Bauernproteste, die schon im Herbst 2019 ein ähnliches Publikum anzogen wie die späteren Corona-Demonstrationen, zu einem symbolträchtigen Feld dieser Szene entwickelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative