Bachmannwettbewerb in Klagenfurt: Mit Leberwurst und Gurkerl

Die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt waren ein trotziges Ausrufezeichen. Denn die Buchbranche ist von Krisen geplagt.

Ferdinand Schmalz sitzt im dunklen Anzug vor applaudierendem Publikum, er selbst ist auf dem Bild unscharf.

Der Schriftsteller Ferdinand Schmalz warb in seiner Eröffnungsrede des Bachmannwettbewerbs um Verständnis für Unverständlichkeit Foto: Johannes Puch

Am Anfang stand die Leberwurst, genauer gesagt: mit „hoppla, die leberwurst!“ der etwas rätselhafte Titel der traditionellen „Klagenfurter Rede zur Literatur“, die Schriftsteller Ferdinand Schmalz zur Eröffnung des diesjährigen Bachmannwettbewerbs hielt. In dem Text, der von Schmalz als kleines und konsequent klein geschriebenes Kunstwerk mit großer Verve vorgetragen wurde, geht es um Schreibkrisen und das „nicht-schreiben, das den geschriebenen text formt“.

Gute Literatur, so Schmalz, sei vor allem jene, die ihre inneren Krisen offenlege und es dem Publikum nicht zu leicht mache. Als Leser hätten ihn Werke geprägt, die „beim ersten lesen so etwas wie ein lustvolles nicht-verstehen auslösten“. Besonders erkenntnisreich seien für ihn Werke, die von Schreibkrisen und Gesellschaftskrisen gleichermaßen handelten, die also jenem Punkt nachspürten, „in dem plötzlich das, was mit dem text scheiße läuft, genau mit dem zusammenfällt, was mit der welt scheiße läuft.“

Lustigerweise kam dem Festredner dieser Gedanke, als er Kinder hörte, die nach der Melodie von Paul McCartneys „Hope of Deliverance“ von der Leberwurst sangen und damit Schmalz aus einer Klemme halfen, der lange Zeit nicht wusste, worüber er in Klagenfurt vor den Honoratioren sprechen soll.

Erstaunliche Breite von Textformen und Themen

Es gehört zum guten Ton der seit 48 Jahren abgehaltenen „Tage der deutschsprachigen Literatur“, dass im Verlauf des Wettbewerbs auf die Eröffnungsrede eingegangen wird, was sich in diesem Fall als Problem herausstellte, weil sich ein lustvolles Nichtverstehen erschöpfen und die Jury sich nicht vornehmlich damit beschäftigen kann, unverständliche Texte nachvollziehbar zu machen. Nicht nur einmal diskutierte die Jury über die Frage, was es für die Bewertung eines Textes heißt, wenn er eine literaturwissenschaftliche Begleitanalyse oder einen geeigneten Vortrag braucht.

Insgesamt durfte sich das Publikum beim diesjährigen Wettlesen am Wörthersee über eine erstaunliche Breite von Textformen und Themen freuen. Fantasy und Familiendramen, wilde Wortkaskaden und präzise entwickelte Plots. Die vierzehn geladenen Autorinnen und Autoren beschrieben konkrete Körpererfahrungen, erkundeten aber auch abstrakte Gedankenräume.

In auffällig vielen Beiträgen sprachen Räume, Wände oder Heizkörper über leidvolle Erfahrungen. Nicht jede Personifikation glückte; die trostlose Beziehungsgeschichte von Sarah Elena Müller mochte nicht überzeugen, auch wenn darin eine vorwitzige Türschwelle zur Protagonistin wird.

Henrik Szántó beeindruckte hingegen mit der Prosapartitur „Eine Treppe aus Papier“, in der Stimmen von Hausbewohnern als mannigfaltige Echoräume in einem Gebäude über sechs Jahrzehnte übereinander gelagert werden. Dabei handelt es sich nicht nur um ein Formexperiment in der ersten Person Plural, es geht um die Geschichte eines deutschen Verbrechens, um die Verschleppung und Ermordung einer jüdischen Familie. Leider erhielt diese formal wie inhaltlich wichtige Prosa keine Auszeichnung.

Perfekt kalkulierte Schimpf­arie

Der Wettbewerb war schon fast zu Ende, als die österreichische Autorin Johanna Sebauer eine groteske Satire präsentierte, in der ein Streit über die Gefährlichkeit von Essiggurken die Gemüter in den unsozialen Medien eskaliert: „Er habe also ein Gurkerl herausgefischt aus diesem fetzengeschissenen Gurkerlglas, habe abgebissen und das Gurkerl, das von ihm erwählte, sei von einer solchen Knackigkeit gewesen, gefedert habe es, das Gurkerl, beim Abbeißen, und habe ihm einen Tropfen dieses scheißdrecks­gschissenen Hurnsgurkerlwassers in sein linkes Auge geschossen, wo es jetzt brannte wie das Höllenfeuer und seinen gesamten Augapfel würde wegätzen, so nämlich fühle sich das an.“

Sebauer widerlegte mit ihrer perfekt kalkulierten Schimpf­arie auch Festredner Schmalz, indem sie eindrucksvoll bewies, dass ein aufs Verstehen abzielender, weil unmittelbar komischer Text, selbst wenn er mit dialektalen Kunstworten spielt, zu literarischer Qualität führen kann. In einer seltsam umständlichen und intransparenten Punktevergabe erhielt die Autorin den mit 7.500 Euro dotierten 3sat-Preis der Jury. Zudem durfte sie die 7.000 Euro für den Publikumspreis nach Hause nehmen.

Zwei Wettbewerbsbeiträge korrespondierten auf unheimliche Weise: Zum einen Tijan Silas familiäre Kriegsfolgengeschichte „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ und Tamara Štajners emotionales Mutter-Tochter-Stück „Luft nach unten“. Sila erzählt von Mutter und Vater, die auf unterschiedliche Weise irre an der Welt werden. Die Familie hat die mörderische Belagerung Sarajevos erlebt, die vom 4. April 1992 bis zum 29. Februar 1996 dauerte. Verwandte sind gestorben, Freunde schwer verletzt.

Die mentalen Auswirkungen auf die Überlebenden zeigen sich Jahre später. An einer Stelle heißt es: „das Nebeneinander von Wut und Wahn sollte ein wesentliches Merkmal der Krankheit meiner Mutter bleiben.“ Sie wittert überall eine Verschwörung, und daran zerbricht auch der Vater des Erzählers, der sich zu einem Messie entwickelt. Er sammelt kaputte Elektrogeräte, weil er denkt: „Man kann alles reparieren.“ Doch das Leid, das sich in seine Seele gefressen hat, wird nicht mehr heilen.

Auch der Ich-Erzähler des vermutlich autofiktionalen Textes erinnert sich an die Todesangst im Bombenschutzkeller und versucht seitdem nicht durchzudrehen. Er flüstert sich ein psychostabilisierendes Mantra zu: „Bleib da! Bleib da!“

Wutbrief an die Mutter

Während Sila in einer zwar nüchternen, aber eben auch skurrilen Tonlage erzählt, ist die Geschichte Tamara Štajners ein emotionaler Grenzgang. Hier erinnert sich eine Tochter nicht nur an die beengten Familienverhältnisse und den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens. Die Ich-Erzählerin schreibt einen Wutbrief an die Mutter, die zugleich eine Liebeserklärung ist. Jeden Sonntag musste das nackte Kind zum Wiegen ins Wohnzimmer. Die Mutter ereifert sich über die körperlichen Mängel der heiratsfähigen Tochter – eine kaum auszuhaltende Szene.

Später, als die Mutter im Sterben liegt, kommen die Erinnerungen an die Schmach zurück, und die Tochter hadert mit dem Verzeihen. Wie wird sie es schaffen, die Traumata, die über Generationen wirken, nicht auch durchs eigene Leben zu tragen? Gegen Ende des Vortrags weinte die Autorin und konnte kaum weiterlesen. Sie erhielt den mit 10.000 Euro dotierten Kelag-Preis. Die 25.000 Euro für den Bachmannpreis darf, völlig verdient, Tijan Sila einstreichen.

„Die Möglichkeit einer Ordnung“ heißt eine konzis erzählte Trauergeschichte von Denis Pfabe, die in einem Baumarkt spielt. Er durfte sich über den Deutschlandfunk-Preis und 12.500 Euro freuen. Weniger preiswürdig war teils die Arbeit der Jury. Oft erging sich die Debatte in Geschmacksurteilen. Neuzugang Laura de Weck blieb erstaunlich blass. Ansonsten spielten alle ihre bekannten Rollen.

Thomas Strässle gab sich zurückhaltend-wissenschaftlich, Mithu Sanyal gestikulierte wild mit ihren Armen und redete gerne über ihre Gefühle beim Lesen. Philipp Tingler beharrte auf Sprachanalyse und machte sich gerade deshalb wie in den Vorjahren unbeliebt. Dabei mag man sich die Jury-Runde ohne seine meinungsstarken Kommentare gar nicht mehr vorstellen. Es war ein Sieg der literarischen Vernunft, dass seine Kandidaten, Sila und Pfabe, mit Preisen ausgezeichnet wurden.

Klaus Kastberger interpretierte die Rolle des Vorsitzes, indem er sie weitgehend ignorierte und so launig-erratisch weitermachte wie bisher („Ich hasse Baumärkte!“). Am besten vorbereitet waren Brigitte Schwens-Harrant und Mara Delius, deren Ausführungen oft gehaltvoller waren als die Texte.

Entspannter an der Zukunft arbeiten

Wie auch immer man diesen oder jenen Text, diese oder jene Juryleistung im Detail beurteilen mag, der Bachmannwettbewerb wirkte in diesem Jahr wie ein trotziges Ausrufezeichen in einer von Krisen geplagten Buchbranche: Selten kamen so viele Medien- und Verlagsleute, ehemalige Preisträger und Kulturprominenz, vor allem aber auffallend viele junge Literaturfans nach Klagenfurt. Der ORF-Sendesaal und die Presseräume waren genauso überfüllt wie der Garten vor dem Studio.

Das öffentliche Lesen und Diskutieren von Literatur scheint in Zeiten, in denen Rezensionsplätze in Zeitungen reduziert und Literaturformate im Fernsehen verschwinden, einen Höhenflug zu erleben. Das ist keineswegs selbstverständlich. Der Bewerb erlebte Finanzierungs- wie Sinnkrisen. Nach der Pandemie und digitalen Sonderausgaben war völlig unklar, ob das professionelle Publikum wieder zurückkäme.

Die Organisatoren und vielen Sponsoren des sommerliche Wettlesens am Wörthersee können nun etwas entspannter an der Zukunft der traditionellen Veranstaltung arbeiten und dafür sorgen, dass der Bachmannwettbewerb auch künftig das wichtigste Literaturereignis im länderübergreifenden, öffentlich-rechtlichen Rundfunk bleibt. Vielleicht sollten die Medienmanager, die anderswo kürzen, das nächste Mal explizit zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur nach Klagenfurt eingeladen werden.

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