BGH-Urteil zum digitalen Erbe: Auslagerungen unseres Selbst
Digitale Kommunikation gilt künftig als Erbe. Das Urteil musste zwischen dem Schutz des Privaten und dem Seelenfrieden der Angehörigen abwägen.
Wer einmal die Wohnung eines Verstorbenen aufgelöst hat, wird sich an das seltsame Gefühl beim Durchschauen des materiellen Nachlasses, beim Durchwühlen der Unterwäscheschublade oder der Brieffächer erinnern. Schließlich berührt man Intimstes.
Wir empfinden ein doppeltes Schamgefühl: Können wir uns doch vorstellen, wie es wäre, wenn jemand unsere Sachen durchsuchte. Zugleich wollen wir auch nicht, dass unser Bild des Verstorbenen durch – für ihn wie uns – peinliche Enthüllungen verändert wird. Mit der Ausweitung der Intimsphäre in die Domäne des Digitalen potenzieren sich die Möglichkeiten der posthumen Beschämung. Wenige von uns können wollen, dass nachträglich intime Chats von Dritten gelesen und ausgewertet werden.
Und doch können wir den Wunsch der Mutter der verstorbenen Fünfzehnjährigen, die das Urteil des Bundesgerichtshofs nun nötig machte, verstehen. Wie schrecklich muss die Ungewissheit über die Todesumstände sein, wenn die Lösung womöglich Schwarz auf Weiß, oder eben auf digitalem Grund, vorliegt? Die Mutter hält gewissermaßen den Schlüssel zum digitalen Tagebuch der Tochter in der Hand, kennt das Facebook-Passwort, aber Facebook verwehrt ihr die Einsicht: Das in den Gedenkmodus versetzte Konto sperrt die Mutter aus; die enthaltenen Informationen sind begraben wie die Tochter.
Allzu leichthändig wollen wir den Schutz des Privaten und Vertraulichen nicht aus der Hand geben. Man könnte nun eine Art Dammbruchszenario herbeifantasieren: Da könnte ja jeder kommen! Es gibt doch ziemlich viele Gründe, warum man Einsicht in die private Kommunikation anderer erlangen wollen könnte. Zugleich geht es um den Seelenfrieden der Angehörigen, die schon viel Schmerz ertragen mussten – ein schwieriger Fall eben.
Sexting am Tisch
Vielleicht erinnern wir uns in diesem Kontext auch an Franz Kafkas Wunsch, der Freund Max Brod möge nach seinem Tod sämtliche Texte und Briefe vernichten. Gerade der Leser der nachgelassenen Briefe an Felice Bauer ergötzt sich nicht wenig an den intimen, teils schrecklich peinlichen, wenn auch wunderbar geschriebenen Liebeswindungen. Wir wären natürlich hochgradig traurig über den Verlust bedeutender literarischer Texte, auch wenn Generationen von Abiturienten dadurch von „Vor dem Gesetz“-Interpretationen verschont geblieben wären.
Vor dem Gesetz steht auch die Mutter der verstorbenen Fünfzehnjährigen, wobei sich ausgerechnet Facebook als Hüter und Wahrer der Privatsphäre der Tochter aufspielt. Das mag überraschen, besteht doch das Geschäftsmodell des sozialen Netzwerks darin, mit Privatem Geld zu verdienen. Man darf es dann schon als zynisch betrachten, ausgerechnet der Mutter das Eindringen in die Intimsphäre der Tochter vorzuwerfen.
Eigentlich formierte die schützenswerte Intimsphäre sich einst nicht gegen das persönliche Umfeld, sondern vor allem gegen die Zugriffe des Staats. Heute treten an seine Seite als Gefährder der Privatsphäre die Datenkonzerne und sozialen Netzwerke, Facebook, Google und Co. Der heimlich mitlesende Dritte, gegen den sich das schützenswerte Private formiert, ist nicht mehr zwangsläufig nur der Staat, schon gar nicht neugierig schnüffelnde Verwandte, sondern das soziale Netzwerk selbst.
Jeder Facebook-User wird mit dem Problem konfrontiert, dass er die Grenzen, die zwischen privat oder öffentlich sein soll, zunächst einmal abstecken muss. Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass etwas, das so mächtig ist wie der Staat – ein milliardenschweres Unternehmen immerhin – als parasitärer Dritter beim Chatten, Texten und Sexting am Tisch sitzt und die Brosamen der Kommunikation gierig aufliest und verwertet. Natürlich könnte man argumentieren, dass im Falle einer Privatnachricht ein besonderer Grad der schützenswerten Intimität besteht. Aber Facebook ist eben kein Postbote, der einen versiegelten Brief übergibt.
Ganz real getroffen
Auf seltsame Art zeigt der Streitfall, den der BGH beilegen musste, die seltsame Vernetzung von Virtuellem und Realem, wobei die Trennung von Anfang an problematisch ist. Auch und gerade vor dem Hintergrund von Onlinemobbing von Teenagern auf sozialen Plattformen, das das reale Schulmobbing in die Welt des Virtuellen verlagert, wo es ja nicht weniger wehtut, sondern eher weitere Kreise zieht und sich im Netzwerk verbreitet, scheint die Intuition, dass sich Gründe für den Tod der Tochter auf ihrem Account finden lassen könnten, nachvollziehbar.
Soziale Medien greifen grundlegend in unsere Alltagskommunikation und damit in unser Leben ein, dass sie von diesem kaum noch zu trennen sind. Sie sind dabei letztlich mehr als Tagebuch oder Brief, weil sie nicht nur Medium des Austauschs sind, sondern als Teil unserer Außendarstellung und Selbstinszenierung eben Auslagerungen unseres Selbst sind. Wer online verletzt wird, fühlt sich ganz real getroffen, und so ist es auch ganz nachvollziehbar, dass die ganz real verletzten Eltern eines real verstorbenen Mädchens den digitalen Nachlass der Tochter einsehen möchten.
Nicht nur als Hinweisgeber auf mögliche Ursachen für ihren vorzeitigen Tod. Sondern auch als Teil der persönlichen Zeugnisse einer Tochter, die einen Teil ihres Lebens auch online lebte. Und im digitalen Raum gewissermaßen weiterlebt.
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