Autorin über Mütter in der Wissenschaft: „Meetings nach 16 Uhr sind nicht in Ordnung“
Zwischen Dissertation und Mental Load: Warum Mutterschaft ein Karrierenachteil für Wissenschaftler*innen ist und was dagegen helfen könnte.
taz: Frau Vogelaar, Ihr Buch richtet sich an schreibende Mütter in der Wissenschaft. Brauchen Väter keine Tipps?
Wiebke Vogelaar: Mir geht es darum, die spezifischen Probleme von Müttern anzusprechen, die noch immer den Hauptteil von häuslicher Sorgearbeit leisten. Care-Arbeit und Mental Load haben großen Einfluss auf die Frage, wie produktiv und konzentriert eine Person sich ins wissenschaftliche Denken und Schreiben vertiefen kann. Gleichzeitig schreibe ich aber von Müttern*: Das heißt, alle, die sich in der beschriebenen Situation wiedererkennen, sind angesprochen.
Wiebke Vogelaar, Jahrgang 1986, ist promovierte Politikwissenschaftlerin, zertifizierte Schreibberaterin und Autorin des Buchs „Schreiben trotz Care-Arbeit. Strategien für Mütter* in der Wissenschaft“. Verlag Barbara Budrich, 2024.
taz: Wo liegen die Probleme für Mütter in der Wissenschaft?
Vogelaar: Die Zahl der Mütter in der Wissenschaft steigt zwar, verhältnismäßig aber sind es noch immer wenig. Von insgesamt nur 25 Prozent Professorinnen sind längst nicht alle Mütter. Wissenschaft ist kein Job, in dem man gut pausieren kann, um sich intensiv um etwas anderes zu kümmern. Daher wird die Zeit mit Babys und Kleinkindern schnell problematisch: Wer nichts veröffentlicht, kommt nicht weiter. Zudem ist inzwischen klar, dass Mütter eine Muttertät durchleben.
taz: Was ist das?
Vogelaar: Der Prozess des Mutterwerdens. Ein genauso radikaler, jahrelanger Transformationsprozess wie die Pubertät. Bei Wissenschaftler*innen fällt der oft in die Qualifikationszeit. Wenn genau dann Dissertationen nicht zu Ende geschrieben werden oder die Zeit und die Kraft fehlen, sich auf Stellen zu bewerben, hat das einen langfristigen Nachteil auf die Karriere.
taz: Ist das der Grund, dass Frauen vor allem in der Zeitspanne zwischen Studium und Professur verloren gehen?
Vogelaar: Mütter sind untererforscht, Frauen sind untererforscht. Aber ich vermute: Mutterschaft ist ein enormer Faktor. Das liegt auch daran, dass Mütter Prozesse und Strukturen neu hinterfragen: Kann ich Teil des Wissenschaftsbetriebs sein – und will ich es?
taz: Sie prägen Wörter, um derlei Prozesse zu beschreiben, zum Beispiel Academic Mom Guilt. Was bedeutet das?
Vogelaar: Die Academic Guilt besagt: Es gibt keinen Feierabend in der Wissenschaft. Man kann immer noch weiter schreiben, lesen, Veranstaltungen besuchen. Das hat Parallelen zur Mutterschaft: Mütter können nie gut genug sein, weil es gesellschaftlich völlig überzogene Erwartungen an sie gibt. Dieses doppelte Spannungsfeld betrifft Mütter in der Wissenschaft ganz anders als Väter. Einfach mal fertig zu sein,gibt es in beiden Lebensbereichen nicht.
taz: Was raten Sie?
Vogelaar: Tatsächlich müssen sich Mütter in der Wissenschaft zuerst fragen, wie es ihnen gerade geht. Haben sie genug Kraft und Freiraum, sich selbst zu spüren, kreativ und konzentriert zu sein? Jenseits dessen müssen sie die Baustelle angehen, wie Care-Arbeit zu Hause verteilt ist. Und drittens müssen sie prüfen, ob das Forschungsprojekt, das sie vor der Mutterschaft anfangen wollten oder bereits angefangen haben, noch das ist, was sie verfolgen wollen und können.
taz: Und die praktischen Schritte?
Vogelaar: Es ist wichtig, in kleinen Zeitfenstern zu denken. Es ist gerade zu Beginn leichter, eine Stunde nicht daran zu denken, welche Matschhose in welcher Größe noch bestellt werden muss, das Handy wegzulegen und so Konzentrationszeitfenster zu schaffen, die im Gesamttag meistens nicht möglich sind.
taz: Das klingt recht naheliegend. Was ist neu an Ihren Strategien?
Vogelaar: Vieles ist naheliegend – aber es fällt schwer, diese in dem Rennen, es allen recht zu machen, wirklich zu praktizieren. In der oft neuen Situation der Mutterschaft muss man erst wieder ein Verständnis für sich entwickeln, den neuen Kontext verstehen und die Produktivitätsmethoden mit diesem zusammenbringen.
taz: Sie schreiben, sowohl Muttersein als auch Wissenschaft seien jeweils Vollzeitjobs. Sie selbst haben sich gegen ein Leben als Mutter in der Wissenschaft entschieden. Weil es eben doch nicht geht, beides in Einklang zu bringen?
Vogelaar: Ich habe während meiner Promotion selbst Schreibcoaching in Anspruch genommen und gemerkt, dass das ein Berufsfeld für mich ist. Aber ich wünsche mir wesentlich mehr Mütter in der Wissenschaft, weil deren Perspektive sonst fehlt. Es ist wichtig, wer welche Erfahrung mitbringt und wer welche Themen auf die Agenda schreibt, das macht etwas mit der Wissenschaft. Aber jede Person muss für sich selbst entscheiden können, ob sie sich diesen besonderen Herausforderungen stellen kann und will.
taz: Trotzdem: Ist eine gesunde Vereinbarkeit nicht letztlich ein Ding der Unmöglichkeit?
Vogelaar: Meetings nach 16 Uhr sind nicht in Ordnung. Es ist belastend, wenn Semesterferien und Schulferien verschieden liegen. Es gibt viele systemische Faktoren, die an den Unis geändert werden müssen, und Vereinbarkeit sollte nicht in der Verantwortung Einzelner liegen. Ich selbst engagiere mich für die politische Ebene zum Beispiel im Netzwerk Mutterschaft und Wissenschaft und dem neu gegründeten Roten Tisch Berlin. Aber die, die gerade in der Situation sind, trotz Care-Arbeit schreiben zu müssen und zu wollen, haben akuten Bedarf nach Unterstützung. Ich richte mich an die, die nicht warten können, bis sich der Wissenschaftsbetrieb verändert hat.
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