Autorin Sanyal über Vergewaltigung: „Opfer müssen gut und rein sein“
Mithu Sanyal forscht zur Vulva und zur Kulturgeschichte der Vergewaltigung. Sie hat Gina-Lisa Lohfink unterstützt, beklagt aber fehlende Empathie für Männer.
taz.am wochenende: Frau Sanyal, vergangene Woche wurde Gina-Lisa Lohfink wegen falscher Verdächtigung verurteilt. Sie haben sich vorher als Teil des #TeamGinaLisa solidarisch mit ihr gezeigt. Wie gehen Sie nun damit um, eine potenzielle Lügnerin zu unterstützen?
Mithu Sanyal: Ich finde die Verurteilung von Gina-Lisa Lohfink nach wie vor sehr merkwürdig. In den Berichten ging es ja immer darum, dass jetzt noch einmal geklärt worden sei, ob sie denn nun vergewaltigt worden sei. Dabei ging es gar nicht darum, sondern, ob sie eine bewusste Falschaussage gemacht hat. Das ist aber nach allem, was wir als Öffentlichkeit erfahren haben, eben nicht wirklich verhandelt worden, und darum finde ich es richtig, dass sie Berufung einlegt. Gleichzeitig finde ich es aber auch wirklich wichtig, dass wir die Existenz von Falschaussagen anerkennen. Es gibt sie. Und sie haben massive negative Auswirkungen auf das Leben derjenigen, die wegen falschen Verdachts beschuldigt werden.
Wie es Männern nach einer Falschbeschuldigung geht, davon hören wir eher wenig.
Es gab einen besonders tragischen Fall um den Lehrer Horst Arnold in Hessen. Er wurde von seiner Kollegin wegen Vergewaltigung angezeigt, saß fünf Jahre im Gefängnis. Danach kam heraus, dass er unschuldig war und sie nur seinen Job wollte. Wenig später starb er an Herzversagen. Eine Falschbeschuldigung, wenn sie öffentlich verhandelt wird, bleibt immer an den verdächtigten Männern hängen. Die Öffentlichkeit muss anders mit vermeintlichen Tätern umgehen, damit Falschbeschuldigungen weniger hysterisch verhandelt werden.
Wir scheinen auch keinen gesunden Umgang mit denjenigen zu haben, die falsch beschuldigen. Warum tun sie das überhaupt?
Diese Menschen haben häufig gute Gründe dafür. Es ist nicht unbedingt die rachsüchtige Ehefrau, die die Eigentumswohnung haben möchte. Manchmal sind es Jugendliche, die nicht sagen dürfen, warum sie die letzte Nacht nicht nach Hause gekommen sind. Manchmal Menschen, bei denen es ein Missbrauchsverhältnis auf einer andere Ebene gibt, aber eine Vergewaltigung das ist, was man rechtsgültig formulieren kann.
Die Person: Sanyal, 45, ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin. 2009 erschien ihr vielbeachtetes Buch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“. Darin zeichnet sie die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechtsorgans nach.
Das Buch: Gerade ist Sanyals neues Buch „Vergewaltigung“ erschienen (Edition Nautilus), eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Sanyals These: Unser Sprechen über Vergewaltigung wird bestimmt von unseren Vorstellungen über Geschlecht und Sexualität.
Viele meinten, sie könnten bei dem Fall Lohfink mitreden, weil sie Ausschnitte aus einem Video der Nacht gesehen haben. War deshalb die Verlockung besonders groß, selbst ein Urteil zu fällen?
1999 gab es in Florida einen ähnlichen Fall: Die Stripperin Lisa Gier King zeigte eine Vergewaltigung an, als Beweis hatte sie eine Videoaufnahme. Mit Erlaubnis von King wurde aus der Aufnahme der Dokumentarfilm „Raw Deal“. Du schaust dir den an und bist immer wieder hin- und hergerissen. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass wirklich beide von ihren Sichtweisen völlig überzeugt waren. Sie fühlte sich vergewaltigt, er empfand das als einvernehmlichen Sex. Das ist der Punkt, an dem wir ansetzen müssten. Recht ist eine sehr große Etikette. Manches ist rechtlich nicht strafbar, aber es ist trotzdem falsch.
Viele kritisieren, dass heutzutage oft versucht wird, eine bessere Gesellschaft per Gesetzesänderung zu schaffen. Wie wirkmächtig kann ein Paragraf sein?
Als 1997 Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde, änderten sich auch die Texte darüber. Vorher gab es in den Medien große Angst vor Falschanzeigen. Dann sprachen alle selbstverständlich vom Schutz der sexuellen Freiheit anstatt vom Schutz der Familie. Das stellt heute niemand mehr infrage.
Rechtlich scheint die große Auswirkung ausgeblieben zu sein. Vor 20 Jahren wurden etwa 21 Prozent der angeklagten Täter_innen verurteilt, mittlerweile sind es nur 8 Prozent.
Die absoluten Zahlen sehen ein wenig anders aus. Seit der Änderung 1997 können insgesamt mehr Personen überhaupt klagen, deshalb ist die Zahl insgesamt höher. Aber ja, Vergewaltigung ist ein Verbrechen, das einfach schwierig zu beweisen ist. Gerade die Vergewaltigung in der Ehe. Interessant wird jetzt natürlich, wie sich die neue Gesetzgebung auf die Zahlen auswirkt. Mit dem Grundsatz „Nein heißt Nein“ wird rechtlich anerkannt, dass einer Person etwas zugestoßen ist, was wir als Gesellschaft ablehnen. Das ist ein wichtiges Zeichen, ein neuer Staatsvertrag sozusagen.
Für das „Nein heißt Nein“ haben Feminist_innen seit Jahrzehnten gekämpft. Was glauben Sie: Wie muss es von hier aus weitergehen?
Die Veränderung des Sexualstrafrechts kann zu einer Veränderung führen, wie wir als Gesellschaft mit Vergewaltigungen umgehen. Man muss dafür aber auch bestimmte Debatten führen. 1997 wurde nicht nur Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt, sondern auch Männer als Opfer von Vergewaltigungen ermöglicht. Vorher brauchte man als Täter einen Penis, um eine Frau, mit der man nicht verheiratet war, gewaltsam zu penetrieren. Bis heute fragen wir aber vor allem: Warum tun Männer das Frauen an? Diese Debatte müssen wir noch immer erweitern.
Welche Fragen sollte solch eine Debatte beinhalten?
Ich möchte über Geschlechtervorstellungen sprechen. Bis 1974 hat etwa die sexuelle Vergangenheit der Frauen vor Gericht eine Rolle gespielt. Da ging es um Ehrenraub, und wenn die Frau vorher schon keine Ehre hatte, weil sie etwa Prostituierte ist, dann konnte ihr die Ehre nicht mehr geraubt werden. Diese Logik auszuhebeln war ein Geniestreich der feministischen Bewegung damals.
Halten Sie die aktuelle Gesetzesänderung für genial?
„Wir schaffen das“ – wirklich? Flüchtlinge in Deutschland haben das Jahr nach dem Merkel-Versprechen unterschiedlich erlebt. Wie unter Flüchtlingen im vergangenen Jahr eine Klassengesellschaft entstanden ist, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 3./4. September. Außerdem: Die Jenischen wollen ein Kulturzentrum in Singen. Wer sind sie? Und: Mutter Theresa wird heiliggesprochen. Unser Autor erklärt, warum das gut ist. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Manche sagen, das sei ein großer Schritt für unsere Geschlechterverhältnisse, aber das ist es noch gar nicht. Wir schauen uns noch immer nur Frauen an und verhandeln entlang ganz bestimmter Vorstellungen. Ein Beispiel: Viele denken, Männer könnten nicht vergewaltigt werden, weil sie unter Zwang keinen hochkriegen würden. Dabei wissen wir aus Studien, dass alle Menschen Zeichen körperlicher Erregung zeigen können, ohne ein psychisches Äquivalent dazu. Es gibt auch Vergewaltigungen von Frauen, bei denen die Frau zum Orgasmus gekommen ist. Das Schlimme ist dann für die Betroffenen, dass sie sich von ihrem eigenen Körper betrogen fühlen. Oder die gesamte Situation in Frage stellen. Wir denken grundsätzlich aber immer die Frau als sexualisiert und den Mann als Aggressor. Wenn Männer sich nackt in der Öffentlichkeit zeigen, sind sie Exhibitionisten und ein Ärgernis, wenn Frauen das tun, freuen sich – vermeintlich – alle und es ist nicht strafbar in Deutschland.
Wie bringt uns dieses Umdenken von Geschlechterbildern weiter, wenn es um den Tatbestand der Vergewaltigung geht?
In meinen Recherchen hat sich gezeigt, dass je egalitärer eine Gesellschaft ist, desto seltener passieren Grenzüberschreitungen jeglicher Art, auch sexueller. Das ist einerseits nicht zufriedenstellend, weil es das Problem auf eine ganz hohe Ebene zieht, aber es heißt eben auch, dass jeder kleine Schritt hilft, der unsere Gesellschaft gleichberechtigter macht.
Ihr Fokus auf die männlichen Opfer von Vergewaltigungen ist spannend. Diesen Blick nehmen sonst nur Männerrechtler ein.
Ich finde manche Punkte, die Männerrechtler ansprechen, gar nicht so falsch. Etwa, dass Männer an vielen Stellen in der Gesellschaft benachteiligt werden und wir nicht darüber reden. Es ist schwieriger für Männer an staatliche Gelder heranzukommen, gerade was Vergewaltigungsopfer und -prävention angeht. Das stimmt. Aber deshalb auf Feministinnen einzubrüllen ist nicht zielführend. Denn letztlich ist Patriarchat ja auch nicht gut für Männer.
Das sagt man immer so. Aber was heißt das?
Hierarchische Gesellschaften sind nicht zu einer Hälfte nett und die andere ist unterdrückt. Männlichkeit bringt viele Nachteile mit sich. Männer werden in Kriegen verheizt, werden insgesamt öfter Opfer von Gewalttaten und sterben im Schnitt fünf Jahre früher. Letzteres hat nichts mit Genen zu tun, sondern damit, dass Männer nicht lernen, mit physischen und psychischen Problemen vernünftig umzugehen. Sie lernen: Stell dich nicht so an. Alles andere wäre weiblich. Diese Genderisierung von Gefühlen ist beeindruckend und bedrückend.
Über „toxic masculinity“ wurde nach den letzten Anschlägen, Amokläufen und Attentaten wieder häufiger geschrieben. Schließlich waren alle Täter männlich. Was halten Sie von dem Begriff?
Viel, aber leider wird er häufig missverstanden. Der Begriff kommt aus den Masculinity Studies, also von Männern, die sich kritisch-emanzipatorisch mit Männlichkeit auseinandersetzen. Da geht es in erster Linie darum: Was macht Männlichkeit mit mir? Also nicht: Wie gehe ich toxisch mit der Welt um, sondern wie wirkt Männlichkeit toxisch auf mich als Mann? Und dann erst im zweiten Schritt auch auf die Umgebung. Männlichkeit wird genauso erlernt, muss genauso performt werden und Männer erfahren genauso Druck, wenn sie nicht richtig performen. Deshalb verstehe ich das Gefühl der Machtlosigkeit vieler Männerrechtler.
Nach Hannah Arendt ist Gewalt eine Form von Machtlosigkeit. Kann uns diese These beim Thema Vergewaltigung helfen?
Wir kommen ja aus einer Generation der Überpsychologisierung und denken ohnehin immer schon mit: Der hat jetzt gerade so heftig reagiert, weil er früher geschlagen wurde. Aber das ist nicht dein Job. Wenn ich Opfer bin, muss ich kein Mitgefühl für den Täter haben. Als Opfer ist es erst einmal wichtig, die eigenen Gefühle wahrzunehmen. Als Gesellschaft oder als Therapeutin muss ich dagegen Menschen durchaus verstehen können. Arendts These ist dafür eine Hilfestellung.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass 15 Prozent der Tätern während der Vergewaltigung Potenzprobleme hatten, 16 Prozent Ejakulationsprobleme. Was sagt uns das in Bezug auf Macht?
Die Theorie früher war ja, dass Männer vergewaltigen, um Macht über eine Frau zu haben. Deshalb werde vergewaltigt. Dabei scheint der Körper hier zu sagen: Das will ich nicht. Man muss über viele Grenzen gehen und auch der Körper sagt stopp. Das macht auf eine Art Mut und erweitert den Blick.
Weil der Umgang mit Grenzüberschreitungen ein Punkt ist, an dem wir schon früher ansetzen können?
Natürlich. Männer lernen, über ganz viele Grenzen bei sich hinwegzugehen. Oft sagen sie: Ich beschwere mich doch auch nicht darüber. Anstatt anzuerkennen, dass Beschweren und das Formulieren von Wünschen etwas Gutes ist, wird es als anstrengend gelabelt. Wir müssen erst unsere eigenen Grenzen respektieren, um dann auch die anderer anzuerkennen.
Das klingt alles sehr versöhnlich und so wenig verurteilend. Welche Rolle spielt Empathie bei Vergewaltigungen?
Vergewaltigung hat viel mit fehlender Empathie zu tun. Wir können bestimmte Grenzen nur überschreiten, wenn wir keine Empathie für unser Gegenüber haben. Bei Empathie- und Konsenstrainings lernen wir das und erweitern so unsere Handlungsmöglichkeiten. Menschen gehen aus diesen Trainings gestärkt heraus und können etwa über sexuelle Vorlieben besser sprechen. Unser Umgang mit vermeintlichen Tätern ist allerdings völlig empathielos. Und wir können nicht von Menschen erwarten, dass sie sich für Empathie öffnen, wenn wir sie ihnen – als Gesellschaft – verwehren. Als Opfer brauche ich selbstverständlich keine Empathie haben. Mich interessiert als Kulturwissenschaftlerin immer die Möglichkeit der gesellschaftlichen Veränderung.
Eine ältere These von Ihnen ist: Vergewaltigung gibt es nicht. Das müssen Sie erklären.
Das hatte ich damals sehr bedauert. Was ich eigentlich damit meinte, war, es gibt nicht eine Vergewaltigung. Vergewaltigungen sind unterschiedlich und die Formen, sie zu verarbeiten, sind unterschiedlich. Ich möchte das Label „Opfer“ öffnen. Einerseits dahingehend, dass unter diesem Begriff nicht nur Frauen gedacht werden. Andererseits möchte ich die Vorstellungen dahingehend aufbrechen, dass wir uns ein Vergewaltigungsopfer nicht ausschließlich als extrem traumatisiert vorstellen. Opfer dürfen unserem Bild nach auch nie selbst etwas Grenzüberschreitendes gemacht haben. Opfer müssen gut und rein und hilflos bleiben, sonst bist du kein echtes Opfer. Das ist für eine Heilung auch nicht hilfreich, weil es statisch ist und dich entmächtigt. Wenn eine Frau sich so fühlt, hat sie jegliches Recht dazu. Aber es ist problematisch, wenn eine Gesellschaft dir sagt, dass du dich so fühlen musst.
Wir sagen Mädchen und Frauen immer wieder, dass sie aufpassen müssen, als ob eine Vergewaltigung ein integraler Bestandteil des Frauseins wäre. Ist die Vergewaltigung selbst dann eine Art selbsterfüllende Prophezeiung?
Zumindest als ich groß geworden bin, war das so. Ständig dieses: Pass auf! Wenn Freundinnen ein Mädchen bekommen, betonen sie immer, dass man sich um die ja mehr Sorgen machen müsse. Aber ich mache mir auch Sorgen um meinen Sohn. Schließlich wissen wir, dass Jungs und Männern Gewalt im öffentlichen Raum viel häufiger widerfährt als Mädchen. Aber warum sagen wir nur Mädchen, dass die Welt für sie ein gefährlicher Ort ist?
Die Botschaft an Mädchen dabei ist: Du bist dieser Form von Gewalt ausgeliefert, weil du schwach bist.
In der „King Kong Theorie“ scheibt Virginie Despentes, dass sie während ihrer Vergewaltigung immer dachte, sie könne nichts machen. Hätten die Männer aber versucht, ihre Jacke zu klauen, hätte sie sehr wohl darum gekämpft, diese zu behalten. Sie sei in dieser Situation aber pauschal davon ausgegangen, dass ihre Angreifer stärker seien. Wir müssen lernen, mit Aggressionen umzugehen.
Haben Sie schon mal einen Selbstverteidigungskurs gemacht?
Ich habe Wendo gemacht und das hat mein Leben verändert. Das war das erste Mal, dass ich mich mit Vergewaltigung auseinandergesetzt habe und ich dabei nicht als Opfer wahrgenommen wurde. Nach einem Wochenende war mein komplettes Auftreten anders und niemand hat mir mehr ständig den Platz im öffentlichen Raum weggenommen. Da lernst du, wie du damit umgehst, wenn dich jemand blöd anspricht. Wenn jemand zu viel Platz in der U-Bahn einnimmt. Aber eben auch, wie du damit umgehst, wenn dich jemand körperlich angreift. So ein Umgang mit Grenzüberschreitungen sollte an Schulen angeboten werden.
Ich könnte mir vorstellen, dass einige das ein bisschen zu Oldschool finden.
Junge Mädchen haben heute eine ganz andere Körperlichkeit als ich damals. Gerade mache ich einen Kurs im Pole Dancing. Da bin ich mit Abstand die Älteste. Jedenfalls ist bei den jungen Frauen dieser Gedanke, dass sie was mit ihrem Körper auch machen können, aktiv machen können, sehr präsent. Das ist gut. Da ist natürlich gleichzeitig auch der Wunsch, hübsch auszusehen. Aber das eine muss das andere ja nicht ausschließen.
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