Autor über sein Leben als Transmann: „Ich war ein Rough-Ass-New-York-Kid“
Ein Gespräch mit iO Tillett Wright über queeren Aktivismus, die Vernachlässigung durch drogenabhängige Eltern und sein Buch „Darling Days“.
Die Mama war auf Speed, der Papa auf Heroin. iO Tillett Wright, 32, erzählt in seinem Debüt „Darling Days“, einem romanhaften Memoir mit Fotos, von seiner Kindheit in prekärer Boheme. Das Verhältnis zu den Eltern stand unter emotionaler Wechselspannung: Einerseits haben sie iO, in dessen Geburtsurkunde „weiblich“ steht, nie verwehrt, ein Junge zu sein. Andererseits glich die Wohnung der gladiatorhaften Mama einer Müllhalde, und iO wurde viel zu früh eine Verantwortung aufgebürdet, die ein Kind nicht tragen kann, ohne Schaden an der Seele zu nehmen. iO Tillett Wright kennt man in den USA auch als MTV-Moderator, Schauspieler („Sex in the City“), erfolgreichen Fotokünstler und Queer-Aktivisten (ein Vortrag bekam 2,6 Millionen Klicks im Netz). In dem Buch beschreibt er auch das Tohuwabohu, das ihn als Kind auf der Jungstoilette packte: die existenzielle Panik, bloßgestellt zu werden von einer Umwelt, die ihn abartig finden könnte. „Darling Days“ ist aber auch die Geschichte einer emotionalen Emanzipation, samt Empowerment.
taz: Mr Wright, Darling Days, das sind diese seltenen Tage, an denen alles perfekt ist. Warum haben Sie das ganze Buch so genannt, obwohl es darin so wenige Darling Days gibt?
iO Tillett Wright: Der Titel ist ein Wink auf den Optimismus, den Kinder an den Tag legen, wenn es um ihre Beziehung zu den Eltern geht. Wie sie ihnen immer wieder eine neue Chance einräumen, auch wenn alles schiefläuft. Meine Mama war für mich lange ein Vollzeitjob. Jedes Kind von Drogenabhängigen wird Ihnen das bestätigen. In der Beziehung zu meiner Mutter geschah das immer wieder: Ich wurde verletzt, ging davon, raffte mich zusammen, ging zurück und wurde immer wieder aufs Neue verletzt. Und trotzdem versiegte mein Optimismus nie.
Wie konnten Sie sich nur an all die Details aus Ihrer Kindheit und Jugend erinnern?
Ich habe die ganze Zeit Tagebuch geschrieben. Die ältesten Notizbücher, die ich wiederfand, waren aus der Zeit, als ich acht, neun Jahre alt war. Meine Mama hat außerdem ein Archiv mit 2.500 Fotos von mir. Sie hat quasi jeden Tag meiner Kindheit dokumentiert, bis ich ausgezogen bin. Meine Eltern sind übrigens beide davon überzeugt, dass sie sehr lebendige Erinnerungen an diese Zeit haben. Und trotzdem widersprechen sie sich in vielen Punkten. Ich hab das alles noch einmal gelesen und jedes einzelne Foto gescannt. Dabei habe ich realisiert, dass ich trans bin und auch damals schon war. Wenn man die Fotos sieht, kann man die Wahrheit nicht negieren, die dieses Kind von Anfang an auszudrücken versuchte.
Schon als Kind haben Sie einige Jahre lang offiziell, auch in der Schule, als Junge gelebt. Und trotzdem kamen Sie nie auf die Idee, dass Sie trans sind?
Das Wort gab es in meiner Welt nicht. Dort gab es auch sonst niemanden, der wie ich war.
Das Fotoprojekt In seinem Fotoprojekt „Self Evident Truths“ porträtiert iO Tillett Wright Menschen, deren Identität, wie es bei ihm heißt, „nicht hundertprozentig hetero ist“. www.selfevidentproject.com.
Das Buch „Darling Days. Mein Leben zwischen den Geschlechtern“. Deutsch von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Suhrkamp, Berlin 2017, 436 S., 15,95 Euro
Nicht mal im künstlerischen Umfeld Ihrer Eltern, in dem Dragqueens nicht weiter ungewöhnlich waren?
Nicht mal dort habe ich das Wort je gehört. Das passierte erst, als ich schon in meinen Zwanzigern war. Und selbst da noch schien es etwas Unheimliches, Stigmatisiertes. Ich war damals nicht queer-sensitiv, sondern einfach ein Rough-Ass-New-York-Kid.
Als Kind hatten Sie eine „Orangensaft-Theorie der Gefühle“. Wenn man jemand anderem erklären will, wie man sich fühlt, sei das, was beim Gegenüber ankommt, als würde man Orangensaft mit Wasser auffüllen: verwässerte Intensität, nicht mehr authentisch.
Um mein Trauma mitzuteilen, habe ich also übertrieben, als Kind und als Twen auch noch. Ich habe mir Pflaster aufgeklebt auf nicht vorhandene körperliche Wunden. Das war ein Hilfeschrei. Im Buch komme ich ja sogar auf meine eigenen Übertreibungen, meine Lügen zu sprechen. Ich blieb lange loyal gegenüber meiner Mama. Ich wollte Leuten nicht direkt sagen, dass es bei uns zu Hause an manchen Tagen kein Essen gab oder uns der Strom abgestellt wurde. Und trotzdem musste mein Schmerz irgendwie raus. Als ich erwachsen wurde, habe ich dann aber gemerkt: Wenn du willst, dass dich jemand versteht, musst du, statt zu übertreiben, eine bessere Sprache dafür finden. Heute ist mir das sehr klar, dass ich mein Buch nur Memoir nennen kann, wenn es wahrhaftig ist.
Wie war das für Sie, sich beim Schreibprozess mit all dem wieder zu konfrontieren?
Es war der Horror! Und das Kathartischste, das ich jemals getan habe. Ich hatte wirklich eine schwere Zeit, in New York als angehender Fotokünstler über die Runden zu kommen. Dass ich eine Posttraumatische Belastungsstörung aus meiner Kindheit mittrage, habe ich lange ignoriert. Irgendwann kocht das aber über und erwischt dich. Ich hatte einen Zusammenbruch. Inzwischen will ich alle Verdrängungsmechanismen vermeiden und mein Leben neu angehen. Ich bin nach Kalifornien gezogen, war in einem Zwölf-Schritte-Programm für Menschen mit drogenabhängigen Eltern.
Sie arbeiten schon eine ganze Weile an einem umfangreichen Fotoprojekt namens „Self Evident Truths“.
Leute hatten mich 2010 eingeladen, bei einer Ausstellung in Kalifornien mitzumachen. Das Thema war „Gleichheit“, angesichts von Proposition 8, dem Volksentscheid gegen die Ehe für alle von 2008. Ich war damals noch so jung und hab gar nicht ans Heiraten gedacht oder über meine Identität als queerer Mensch gegrübelt. Doch mit dem Volksentscheid wurde mir bewusst: Ich bin ein Bürger zweiter Klasse. Wie konnte so etwas in den USA geschehen, einem Land mit einer sowieso schon total kaputten Bürgerrechtsbilanz? Wer stimmt für eine solche Ungerechtigkeit? Ich glaube, es hat damit zu tun, dass Leute denken, sie kennen keine Schwulen, Lesben oder trans Menschen. Ich dachte also: Was geschieht, wenn ich durch meine Fotos einer besorgten katholischen Mama die wunderbaren queeren Menschen vorstelle, die ich kenne?
Sie halten auch Vorträge an Schulen.
Die Mehrheit der Eltern hat schlichtweg Angst um das Wohl ihres Kindes. Die Wurzel ihrer Angst ist Liebe. Sie machen sich einen Kopf darüber, dass ihr Kind einsam werden könnte oder krank oder arbeitslos. Viel hat sich seit 2010 geändert, als ich mit dem Projekt begann. Durch die vielen Coming-outs seitdem hat der Umgang mit dem Thema eine menschliche Note bekommen. Diese Humanisierung brauchen wir. Wenn sich jetzt ein Teenager im Midwest der USA outet, kennt hoffentlich jede Mama schon andere queere Menschen.
Es geht Ihnen um Sichtbarkeit.
Ja. Ich dachte: Wenn ich etwas kann, um zu helfen, dann ist es Fotografieren. Es hat begonnen mit 45 Porträts von Menschen, die nicht heterosexuell sind. Ich wollte auch das Gegenteil der gängigen Klischees abbilden, die Leute so im Kopf haben. Ein landesweites Projekt, in jedem Bundesstaat. Ich bin jetzt bei 9.807 Porträts. Bah!
Sie fragen die Menschen, die Sie fotografieren, inzwischen, wo sie sich auf dem Spektrum von Homosexualität und Gender verorten würden.
Ich bin trans. Mein Girlfriend hat also einen Boyfriend. Aber einen Boyfriend mit Titten und Vagina. Da wird’s schon komplizierter. Mit meinem ursprünglichen Fragebogen hatte ich einen gängigen Fehler fortgesetzt, binär zu denken.
Und wie konfrontieren Sie Menschen mit Ihrem Projekt?
Ich gebe die Fotos kostenfrei weiter, wann immer sie jemand drucken oder sonst wie zeigen will, und hoffe, dass das zu vielen Gesprächen anregt. Das Thema ist ja so ziemlich das persönlichste, worüber man als Individuum sprechen kann. Zudem ist die Mentalität, je nachdem, wo man wohnt, sehr unterschiedlich. In Alabama hilft es vielleicht mehr, wenn man 60 queere Menschen zeigt, die beim Militär waren, weil das dort was zählt. In Boston dagegen wäre es vielleicht besser, Menschen mit irischen Vorfahren zu zeigen. Damit Leute etwas sehen, das sie einfach zu sich in Beziehung setzen können. Meine Taktik ist also, die Bilder wegzugeben an Leute, um sie damit bei ihren persönlichen Gesprächen starkzumachen. Viel queere Rhetorik ist sehr jargonhaft, intellektuell und akademisch. Aber viele Menschen haben nicht die Bildung, um zu verstehen, worüber wir, verfickt noch mal, überhaupt sprechen.
Wie wichtig ist es Ihnen, Aktivist zu sein?
Das bedeutet mir alles. Aber es ist gar nicht so leicht. Der Untertitel der deutschen Übersetzung lautet „Mein Leben zwischen den Geschlechtern“. Das habe ich aber niemals so geschrieben. Auf Englisch heißt mein Buch einfach „Darling Days“. Das schmerzt mich, auf diese Transgender-Narrative reduziert zu werden. Ja, es gibt in meinem Buch ein Kind, mich, das transgender lebt, aber das Buch dreht sich nicht bloß um diese Transgender-Erfahrung. Es geht auch um Vernachlässigung, Drogenabhängigkeit, Armut, psychische Krankheit und Eltern-Kind-Beziehung. Mir geht es nicht nur um LGBT-Zeug. Das ist bloß ein Bein an einem Oktopus von Themen, die mir wichtig sind. Ich bin kein Trans-Aktivist, sondern radikaler Humanist.
Sie sind also unzufrieden mit dem deutschen Untertitel.
Ich bin relativ jung und Debütant. Ein Baby in einem Raum mit Titanen: HarperCollins, Suhrkamp, Ecco. Ich glaube, sie wissen, wie man Menschen am besten dazu anregen kann, mit meiner Story zu interagieren. Das ist wohl das Kreuz, das ich tragen muss, damit Leute dem Buch Beachtung schenken. Das tut aber auch weh, und manchmal fühle ich mich wie ein Zirkusaffe. Gestern in einem Radio-Interview war die zweite Frage, ob ich eine Geschlechtsumwandlung hatte. What the fuck?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kürzungen im Kulturetat von Berlin
Gehen Kassiererinnen in die Oper?
FDP und D-Day
Staatstragende Partei, die von Kettensägenmassakern träumt
Argentinien ein Jahr unter Javier Milei
Arm sein im Anarcho-Kapitalismus
„Kanzlerkandidatin“ der AfD
Propagandashow für Weidel
Social Media erst ab 16?
Was Kindern nicht gut tut
Offensive in Syrien
Ist ein freies Syrien möglich?