Autor über globale Verflechtungen: „Man muss die Wörter schreien“
Er will Sprache entfesseln und schreibt über modernen Rohstoff-Kolonialismus: Fiston Mwanza Mujila gastiert beim Hamburger Literaturfest „Europa 24“.
taz: Herr Mwanza Mujila, warum ist es wichtig, Literatur auch laut zu lesen?
Fiston Mwanza Mujila: Weil Sprache einen Geschmack hat. Sie kann bitter, süß oder salzig sein, und wenn ich laut lese, versuche ich das zu genießen. Ich glaube, dass Sprache nicht nur eine Seele, sondern auch einen Körper hat, dass sie etwas Physisches ist. Schreiben ist für mich etwas Handwerkliches, ja Haptisches. Ich experimentiere damit und versuche bis zu ihrer Essenz vorzudringen. Deshalb ist es für mich wichtig, manchmal laut zu lesen, mit einem Repertoire an Timbres und Rhythmen. Denn für mich ist der geschriebene Text wie ein Gefängnis, und man muss die Wörter schreien, um sie zu befreien.
Jedes Buch ein Gefängnis?
Aus meiner Perspektive schon. Ich komme aus einer mündlichen Kultur, und für uns Menschen aus dem Globalen Süden ist „Land“ ein kolonialer Begriff. Vor der Kolonisierung gab es dort keine Länder. Es gab Völker, und jedes hatte sein Gebiet, seine Sprache, seine Weltanschauung. Ich zum Beispiel gehöre dem kongolesischen Luba-Volk an. Da wird viel gesungen, da kann ein Erzähler die gleiche Geschichte 30-mal vortragen, aber jedes Mal kommt etwas Neues heraus. So ist es auch, wenn ich heute meine Texte singe, schreie, rappe: Sie bekommen jedes Mal einen neuen Aspekt.
In Ihren Romanen kommen Diamantminen vor, Kolonialismus und Bürgerkriege. Sind Sie ein politischer Autor?
geboren 1981 in Lubumbashi in der Demokratischen Republik Kongo, lebt seit 2009 in Graz. Für seinen Debütroman „Tram 83“ über den Nachtclub einer afrikanischen Großstadt (2016) erhielt er zahlreiche Preise. „Tanz der Teufel“ (2022) spielt in den Diamantminen im kongolesisch-angolanischen Grenzgebiet.
Ich empfinde mich nicht als politischen Autor. Ich gehöre eigentlich zur Gruppe 47. Deren Autoren – etwa Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Siegfried Lenz – schreiben über die Nachkriegsrealität, sind aber nicht unbedingt politische Autoren. Im Kongo ist es derzeit ähnlich: Nach dem Bürgerkrieg ist alles zerstört, wir müssen ein Land neu aufbauen. Kongolesische Autoren sind heutzutage Kriegs- beziehungsweise Nachkriegs-Autoren. Denn wenn ein Land im Krieg ist, liegt es in der Verantwortung des Schriftstellers, davon zu erzählen und das Land sichtbar zu machen. Ich bin in der Mobutu-Diktatur aufgewachsen. Meine Großeltern sind in der Kolonialzeit aufgewachsen. Das heißt, es gibt eine Genealogie der Gewalt. Und Literatur kann diese Gewalt sichtbar machen.
Empfinden Sie Verbitterung wegen der Kolonialzeit? Oder ist die lange her?
Ich glaube, Traumata können über drei, vier oder fünf Generationen weitergegeben werden. Und der Kolonialismus ist insofern nah, als meine Großeltern in der Kolonialzeit geboren sind. Und die erlebte Gewalt ist wie eine Krankheit, die sich über Generationen fortsetzt. Insofern prägt der Kolonialismus die Gesellschaften Afrikas bis heute. Und manche Länder sind heute moderne Kolonien, die weiterhin ausgebeutet werden.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Der Kongo ist reich an Rohstoffen, von denen große Konzerne aus Europa, China oder den USA profitieren. Deshalb ist es meine Aufgabe, als Kongolese, als Betroffener, auch darüber zu schreiben, denn die Krisen der Welt sind ja alle verbunden. Die Tatsache, dass der Regenwald des Kongo für den Abbau von Bodenschätzen abgeholzt wird, wirkt sich im Zuge des Klimawandels auch auf Europa aus. Ganz zu schweigen etwa von Kinderarbeit in Asien, die in Europa Fast Fashion möglich macht und noch dazu extrem umweltschädlich ist.
Sie leben seit 2009 in Graz. Können Sie den Kongo aus der Distanz schärfer sehen?
Ich glaube, schon. Das Zentrum für mich als Person, als Schriftsteller ist meine Wohnung, mein Bett. Von hier aus schaue ich auf die Welt – als Kongolese, und als Schwarze Person, die in Europa lebt. Daher ist meine Realität in Europa auch mit Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus verbunden. Aber mein Leben – und die Geschichte Afrikas – ist nicht nur Rassismus, Kolonialismus und Sklaverei. Im Kongo trifft man Leute, die wie ich in Europa leben. Und in Europa trifft man Kinder in Armut und Obdachlose, die im Kongo durch die Familien aufgefangen würden. All diese Realitäten sind verwoben. Deshalb brauchen wir eine globale Solidarität.
Wie hat sich Ihr Leben durch Europa verändert?
In Europa hatte ich – und das war die größte Überraschung – erstmals das Gefühl: Ich bin schwarz. Bis dahin hatte ich mich keine Sekunde lang schwarz gefühlt. Im Kongo wird Identität über die Genealogie definiert: Wenn ich dort jemanden treffe, ist die erste Frage: „Wessen Sohn bist du?“, und danach erst: „Wie geht es dir?“ Als ich nach Europa kam, war ich plötzlich der Schwarze, der Kongolese, der in Europa lebt.
Zwei Tage lang bringt „Europa 24 – Was ist Literatur?“ zwölf Autor:innen im Hamburger Literaturhaus zusammen, um über Motivation, Adressaten, Bedeutung von Literatur zu debattieren – tagsüber in Workshops unter sich, abends vor Publikum und im Livestream.
Mi, 29. 5. 19 Uhr: „Warum schreiben? / Why write?“ mit Francesca Melandri, Fiston Mwanza Mujila und Dorota Masłowska;
20.30 Uhr: „Für wen schreiben? / Who do you write for?“ mit Monica Ali, Nino Haratischwili und Alain Mabanckou
Do, 30. 5.
19 Uhr: „Wer schreibt? / What is the role of the writer?“ mit Aris Fioretos, Drago Jančar und Sasha Marianna Salzmann;
20.30 Uhr: „Was bedeutet Literatur heute? / Does literature matter today?“ mit Zsófia Bán, Tanja Maljartschuk und Arnon Grünberg
Programm und Tickets, auch für den Life-Stream: https://t1p.de/php1j
Wie empfinden Sie das heute?
Inzwischen sehe ich mich als Europäer. Ich habe in mehreren europäischen Ländern gelebt, spreche drei europäische Sprachen, wohne in Graz und beobachte von dort aus die Welt. Für mich als kongolesischen und frankophonen Schriftsteller ist es spannender, in Mitteleuropa zu leben als etwa in Paris. Denn aufgrund der geographischen Nähe kann ich hier viel lernen über deutschsprachige, osteuropäische, natürlich auch über französische Literatur. Mein Blick ist immer plural, und die Peripherie, in der ich lebe, ist mein Zentrum.
Wird Ihre Literatur im Kongo rezipiert?
Sie wird gelesen und anerkannt, aber meine Bücher sind dort schwer zu bekommen. Es ist fast unmöglich, in Kinshasa ein Buch eines europäischen Verlags zu bekommen. Das war schon während meiner Kindheit so. Da gab es in meiner Stadt so wenige Bücher, dass ich dasselbe Buch 50-mal gelesen habe, sogar Koch- und Mathebücher. Mein Durst nach Büchern war riesengroß.
Hat sich das geändert?
Kaum. Zwar gibt es jetzt das Internet. Bücher sind im Kongo immer noch schwer zu bekommen. Wenn jemand ein Buch hat, wird es im Viertel, in der Stadt zirkulieren. Wenn es dann 20, 30 Leute gelesen haben, sieht es aus wie ein Museumsstück, mit Tomatensoße und Kerzenwachs drauf. Denn auch das hat sich nicht geändert: Wenn es mal ein, zwei Wochen keinen Strom gibt, liest man bei Kerzenlicht. Ich habe Marguerite Duras, Toni Morrison, Böll bei Kerzenschein gelesen, und dabei tropft es eben mal aufs Buch. Aber diese Gebrauchsspuren haben auch etwas Verbindendes. Es ist schön zu wissen, dass viele Leute dieses Buch gelesen haben und es schon an so vielen Orten war.
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