Autor über Terror und die Schweiz: „Nur Mitleid kann etwas ändern“
Der Schriftsteller Lukas Bärfuss gilt als streitbarer Intellektueller. Er kritisiert seine Schweizer Heimat und beschreibt die Ästhetisierung von Gewalt.
taz.am wochenende: Herr Bärfuss, Sie wurden in die Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, als Rainald Goetz den Büchner-Preis bekommen hat. In seiner Dankesrede fiel der Begriff des „politischen Schriftstellers“. Müssen Schriftsteller die Rolle des öffentlichen Intellektuellen stärker wahrnehmen?
Lukas Bärfuss: Ich glaube nicht, dass sich Schriftsteller um sämtliche Mechanismen des Politischen zu kümmern haben. Ganz gewiss ist die Öffentlichkeit eine Größe, ein Gegenüber, ein Partner, wie es bei Max Frisch heißt. Sie kann der Schriftsteller schlechterdings nicht ignorieren. Ich weiß nicht, wie man publizieren möchte, ohne sich zu fragen, an wen man sich wendet. Welcher Art sind die Interessen, was sind die Bedingungen des Denkens, der Form, der Sprache? No man is an island: Solange dieser Satz gilt, bleibt es meine Aufgabe, mit der Öffentlichkeit in ein Verhältnis zu treten und darüber Rechenschaft zu geben.
Die Anschläge von Paris waren äußerst brutal. Die Zürcher Anglistin Elisabeth Bronfen hat versucht, jene Gewalt anhand von fiktionalen Gewaltästhetisierungen zu erklären.
Die Ästhetisierung von Gewalt ist eine kulturelle Konstante. Neulich habe ich in Florenz mit meinen Kindern die Uffizien besucht: Wenn man an den Caravaggio-Gemälden vorbeigeht, zieht man den Kopf ein und hofft, die Kinder blieben nicht zu lange davor stehen.
Seit Caravaggios blutrünstigen Bildern gab es ja noch die Aufklärung.
Auch danach ist diese Ästhetisierung eine Konstante geblieben. Nehmen Sie Netflix: Gewalt ist dort das wichtigste Stilprinzip.
Wir schauen US-Serien, aber deswegen erschießen wir nicht Besucher eines Konzerts.
Natürlich nicht. Aber wir sollten uns eingestehen, dass uns Gewalt nicht nur empört, sondern auch fasziniert und anzieht. Und es ist dieser Mechanismus, den die Terroristen ausnutzen. Wir können uns von diesen Bildern nur schwer lösen. Sie werden im kollektiven Gedächtnis zu Ikonen des Schreckens. Diese Wirkungsmacht erstaunt uns immer wieder, und ich glaube, darin liegt eine Falle: Staunen bedeutet auch erstarren, die Faszination paralysiert uns.
Person: Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, Schweiz, arbeitete nach dem Abitur als Gabelstaplerfahrer und Gärtner, bevor er eine Buchhändlerlehre abschloss. Seit 1997 ist er als Schriftsteller und Dramatiker tätig und avancierte zu einem vielbeachteten Autor. Er erhielt zahlreiche Preise. Seine Stücke werden weltweit gespielt. Bärfuss lebt heute mit seiner Familie in Zürich.
Werk: Seine Romane, darunter „100 Tage“ über den Wahnsinn des Völkermords in Ruanda, sind inzwischen in 20 Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschien „Stil und Moral. Essays“, eine Sammlung von Rezensionen, Aufsätzen und Essays im Wallstein Verlag, Göttingen, 2015, 235 S., 19,90 Euro.
Was fällt Ihnen an der Sprache des IS auf? Von dem Konzert sprachen die Terroristen etwa als „perverse Feier“.
Auch das kennen wir schon aus anderen Zusammenhängen. In evangelikalen Sekten war schon vor Jahren vom „teuflischen Gehalt der Rockmusik“ die Rede. Vielleicht würde es ganz grundsätzlich helfen, wenn wir die Konstanten in den Methoden erkennen, die Konstanten auch in unserer Reaktion darauf. Europa wird ja nicht zum ersten Mal vom Terror heimgesucht.
An was dachten Sie zuerst?
Die mediale Hegemonie, die solche Gewalttaten in kürzester Zeit erreichen, verunmöglicht das klare Denken. Wir sehen zwar, aber wir erkennen nicht. In diese mediale Hektik hinein öffentlich zu denken, finde ich schwierig. Dazu muss ich dies alles mit einer sehr persönlichen Erfahrung verbinden. Meine Frau, eine Französin, war an jenem Freitag in Paris, ihr Sohn sogar im Stade de France. Ich habe viele Freunde in Paris.
Was hat die Gesellschaft jetzt zu tun?
Wie gesagt: zuerst aus der geschichtlichen Erfahrung lernen. Viele der Diskussionen, etwa jene über den Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheitsrechten, wurden bereits früher geführt. Und schon da hat weniger Freiheit niemals zu mehr Sicherheit geführt. Eine andere Erfahrung ist auch, dass Kriegsrhetorik den Terroristen in die Hände spielt. Sie treibt die Eskalation weiter an. Und schließlich ist jeder Terrorismus auf ein spezifisches Milieu angewiesen, das sich mit der Ideologie in unterschiedlichster Weise solidarisiert. Diese Solidarität muss man angehen, und das wird nur gehen, indem man diesem Milieu Angebote macht, zurück in die Gesellschaft zu kommen.
Ein Essay von Ihnen heißt „Freiheit und Wahrhaftigkeit“. Es ist seit Paris viel davon die Rede, dass wir unser Leben nicht ändern sollen. Würden Sie Freiheit und Wahrhaftigkeit nun anders definieren?
Es ging mir in dem Aufsatz zunächst um die Frage, wie weit unsere Sprache mit unserer Lebenswirklichkeit übereinstimmt. Hannah Arendt hat über die Loslösung und anschließende Petrifizierung gewisser Begriffe im Zuge einer Ideologisierung gesprochen. Durch diese Petrifizierung entfernen sich die Worte immer mehr von der Lebenswirklichkeit. Diese Dialektik wollte ich untersuchen. Ich wollte wissen, ob unser Freiheitsbegriff noch eine Verankerung in der politischen Partizipation hat oder wir ihn bloß wie eine Monstranz vor uns hertragen. Ich glaube nicht, dass man sich mit Redensarten begnügen sollte. Das Pathos etwa, das wir uns vom Terrorismus unsere Freiheit nicht nehmen lassen, mag situativ seine Berechtigung haben, aber es sollte uns nicht davon abbringen, schärfer zu untersuchen, was Freiheit heute bedeutet.
Am 15. Oktober publizierte Lukas Bärfuss sein Essay „Die Schweiz des Wahnsinns“ in der FAZ anlässlich der Schweizer Parlamentswahlen am 18. Oktober, in dem er auf die seiner Meinung nach trostlose Situation der politischen Debatte in seiner Heimat Bezug nahm. Daraufhin erschienen in allen bedeutenden Schweizer Tageszeitungen, wie dem Zürcher Tagesanzeiger und der Neuen Zürcher Zeitung, teils wüste Repliken. So warf der designierte Leiter des NZZ-Feuilletons, René Scheu, dem Schriftsteller „mentalen Isolationismus“ vor. In der FAZ antwortete etwa der rechtspopulistische Politiker und Verleger der einst von Flüchtlingen aus Nazideutschland gegründeten Zürcher Weltwoche, Roger Köppel, und nannte Bärfuss einen „intellektuellen Geisterfahrer“. Im Netz kam es zu einem Shitstorm gegen Bärfuss. In unserem Interview, etwa im Hinblick auf den Terror in Paris, erweist sich Bärfuss auch sonst als streitbarer Intellektueller.
Sie haben in einer Rede in der Schweiz zwei Eigenschaften genannt, die Individuen in einer Gesellschaft eint: Nationalität und Sprache. Was reizt Sie an den Begriffen?
Ihre Ausweglosigkeit! In ihrer ganzen Unschärfe sind sie Fluchtpunkte. Man trifft auf eine Muttersprache, die man sich nicht wählt, man ist im Denken an eine Sprache gebunden, wie Wittgenstein zeigte. Sprache ist die Voraussetzung, obwohl ich der Ansicht bin, dass Erzählen auf etwas baut, das vorsprachlich ist. Und mehr als von der deutschen Sprache bin ich von der Weltliteratur geprägt. Was die Nation betrifft, die wir uns ja auch nur selten aussuchen, glaube ich, dass sie sich in einem Rückzugsgefecht befindet. Und weil es dabei um ihre Existenz geht, werden diese Gefechte verbissen geführt, mit viel Gewalt und vielen Toten. Der homogene nationale Raum ist zur Fiktion geworden. Grenzen gelten nur noch für die Schwächsten, für die Flüchtlinge. Die Warenströme zirkulieren weitgehend frei, und das Kapital kennt überhaupt keine Grenzen mehr. Doch der Nationalstaat hält weiter an einem Hoheitsgebiet fest und stößt dadurch an seine inhärenten Grenzen. Er ist kaum mehr zu legitimieren, nur noch zu behaupten.
Sie haben in jener Rede Flüchtlinge als „die Abwesenden“ bezeichnet. Vor Kurzem hat der bayerische Politiker Günther Beckstein in einem Interview humanitäre Flüchtlingspolitik kritisiert und die Schweiz als Gegenbeispiel genannt. Was gefällt ihm an der Schweiz?
Möglicherweise wird sich Beckstein bald lieber auf Polen beziehen, wo der Wille zur Abschottung noch größer ist. Die politische Reaktion feiert an vielen Orten in Europa Erfolge, sie tauscht sich aus und lernt voneinander. Wir sehen ähnliche Mechanismen in Polen, in der Schweiz und in Deutschland am Werk. Die schweizerische politische Reaktion hat den großen Vorteil von 3,6 Milliarden Franken Privatvermögen in den Händen von Christoph Blocher. Hierzulande sind die Mittel beinahe unbegrenzt, die Innovationskraft ist deshalb ebenso groß wie der Einfluss auf die Begriffsbildung.
In einem Essay Ihres Aufsatzbandes „Stil und Moral“ machen Sie sich Gedanken zum Begriff der Identität. Wie stehen Sie dazu?
Der Identitätsbegriff ist für mich problematisch. Erstens ist er nur möglich durch eine Definition ex negativo. Man definiert sich durch das, was man nicht sein will. Sobald man über Identität spricht, muss man über das Andere sprechen. Dieses Sprechen ist sehr komplex und letzten Endes auch fiktiv, weil es das Andere nur im dialektischen Zusammenhang gibt. Man kann es nicht isolieren, nicht aus sich selbst heraus definieren. Gerade in Gruppen, die wenig inneren Zusammenhalt haben, wie zum Beispiel eine gemeinsame Sprache oder eine gemeinsame Kultur, kann das zur Obsession werden. In der Schweiz ist das offensichtlich der Fall.
Was ist schweizerische Identität?
Das zu formulieren, ist noch niemandem gelungen. Regionale und örtliche Identitäten sind leicht zu definieren. Ich komme aus einem Winkel im Berner Oberland, mit einer sehr spezifischen Sprache und Geschichte. Ich kenne die Gepflogenheiten, die Tabus, die Codes. Ein Bewusstsein als Schweizer besitze ich hingegen kaum. Das muss ich mir durch sehr abstrakte Begriffe konstruieren. Aber da wir als Schweizer Staatsbürger trotz allem an diese Körperschaft gebunden sind, sind wir ständig gezwungen, uns zu fragen, wer wir sind. Historisch wurde diese Frage meistens durch die Bedrohung von außen beantwortet. Sie hat der Schweiz den Zusammenhalt geschenkt. Bedroht durch die französischen Revolutionstruppen, später dann durch den Kommunismus, durch Nazi-Deutschland. Und nach 1989 wurde die EU aufgebaut als Gegner, der das weggebrochene identifikatorische Feindbild restituieren musste.
Friedrich Dürrenmatt hat 1957 in seinem Roman „Justiz“ folgende Schweizer Hervorbringungen aufgezählt: Präzisionsuhren, Psychopharmaka, das Bankgeheimnis und ewige Neutralität. Wie ist es heute um sie bestellt?
Sarkastisch gesprochen: Die Psychopharmakologie hat über alle anderen Begriffe triumphiert! Der Einfluss der Medikamente auf unsere Gesellschaft kann gar nicht überschätzt werden. Man sieht es an den astronomischen Gewinnen und der politischen Macht der pharmazeutischen Industrie. Wir leben in einer Gesellschaft unter Drogen. Das wäre an sich nicht schlimm, aber die Wirkstoffe sind doch sehr bezeichnend. Leistungsfördernde Drogen sind hoch angesehen, bewusstseinserweiternde hingegen beinahe verschwunden. Das Amphetamin Ritalin etwa wird flächendeckend verschrieben.
Die anderen Eigenschaften?
Der Begriff der ewigen Neutralität ist porös geworden, er spielt heute in der politischen Auseinandersetzung kaum eine Rolle mehr. Präzision ist an sich eine gute Konvention, etwas, was ich an der Schweiz schätze, wie vieles, übrigens. Die bürgerliche Gesellschaft hat ja auch fruchtbare Eigenschaften ausgebildet. Aber viele grundsätzlich positive Werte, wie Pünktlichkeit oder ein gewisses Arbeitsethos, dass man sich selbst weniger wichtig nimmt als seine eigene Arbeit, all dies ist natürlich ausbeutbar.
Mitte Oktober sorgten Sie mit dem anlässlich der bevorstehenden Wahlen in Ihrer Heimat in der FAZ veröffentlichten Essay „Die Schweiz des Wahnsinns“ für eine Kontroverse. Was wollten Sie damit bezwecken?
Ich mache mir beim Schreiben keine Gedanken über die Wirkungen, ich folge einem Impuls. Alles andere wäre lebensverhindernd. Im Fall von „Die Schweiz des Wahnsinns“ war dieser Impuls ein polemischer. Er hat in der deutschen Literatur große Vorbilder: Der 17. Literaturbrief von Lessing etwa, in dem er sich gegen Gottsched wendet. Oder in Schopenhauers Essays über die Schriftstellerei in „Parerga und Paralipomena“. Und dann vor allem bei Walter Benjamin, der mir die Form in die Feder diktiert hat. In einem Brief an Horkheimer aus dem November 1937 spricht er davon, dass in einer geschichtlichen Situation, wo „die Befestigung der herrschenden Klasse in unverkleideten Marktpositionen“ so weite Fortschritte gemacht habe, es Kritik nur noch in der Form der Polemik geben kann. Ich finde, die Reaktionen auf meinen Artikel haben seine These und die Wirkungsmacht dieser Methode bestätigt.
Beim Lesen Ihres Essays fiel der ernste politische Ton auf. Das Privileg des Schriftstellers, sich auch politisch äußern zu können, war bereits zu einer Karikatur geworden. Wie beurteilen Sie die Chancen für eine neue Ernsthaftigkeit?
Ich war nie angekränkelt von dieser Heinrich-Böll-Angst, dass man als guter Mensch automatisch ein schlechter Schriftsteller sei und das Engagement das Werk gefährde. Über viele Jahrzehnte, eigentlich Jahrhunderte war die Beschreibung von Armut ein wesentlicher Bestandteil der erzählenden Literatur. Bei Baudelaire wird das manifest: In „Les Veuves“ zeigt er, wie ein geschichtliches Bewusstsein, überhaupt Erinnerung, nur möglich ist durch die Betrachtung des Schwachen, Ruinierten, Betrübten und Verwaisten. Das Nichtmarginalisierte grenzt den Schmerz aus, das Leid.
Warum?
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will der Bundeswehr ein neues Image geben: als Armee der Berater und Helfer. Wie das einer sieht, der in Afghanistan war, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28./29. November 2015. Außerdem: Wie Beautybloggerinnen im Kampf gegen den Terror helfen könnten. Und: Der Kabarettist Frank-Markus Barwasser hört auf. Ein Abschiedstreffen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Es ist gar nicht so sehr eine Frage des sozialdemokratischen, humanitären Realismus, dass man sich darum kümmert, sondern eine Frage der Epistemologie. Das Wissen, dass nur durch Mitleid und Empathie die herrschenden Zustände verändert werden können, dieses Wissen schwindet in unserer Kultur. Henning Ritter hat das in seinen „Notizheften“ klar formuliert. Die geschichtlichen Gründe dafür liegen vielleicht am Erfolg der neoliberalen Ideologie, die sich nur für Sieger interessiert, vielleicht liegt es auch an der Vernichtung der europäischen Juden. Wir sind von einer gewissen Tradition der Barmherzigkeit abgeschnitten, für die Simone Weil exemplarisch steht. Sie ist für mich die Referenz, wenn es darum geht, begrifflich scharf zu denken und gleichzeitig empathisch zu bleiben. Wie heißt es bei Baudelaire: „Und ich lege mich hin, stolz darauf, in jemandem anderen gelitten und gelebt zu haben.“
Ist das eine Frage des Stils?
Bei mir ist das eher biografisch bedingt und weniger eine poetische Position, die ich mir frei gewählt habe. Früh in meinem Leben war ich der Öffentlichkeit ausgeliefert. Einen privaten Raum besaß ich nur in Ausnahmefällen. Und so war ich dem Mitgefühl von Fremden ausgeliefert. Dass die Schwachen sich auf dieses Mitgefühl verlassen können, ist für mich der zentrale Wert einer Gesellschaft. Er bleibt in der Verantwortung des Einzelnen und kann nicht delegiert werden an die Institutionen.
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