Ausstellung zu „Bravo“-Starschnitten: Madonna zusammenkleben
„Bravo“-Starschnitte holten die Welt ins Jugendzimmer. Nun werden die 50 Jahre westdeutscher Popgeschichte mit einer Ausstellung gewürdigt.
Eine verpasste Bravo-Ausgabe hatte dramatische Folgen. Plötzlich fehlten Füße, Haare, Knie oder Ellbogen, die unübersehbare Lücken ins Gesamtbild rissen. Zum Glück gab es einen emsigen Schwarzmarkt, auf dem die fehlenden Fragmente im besten Falle getauscht oder erworben werden konnten.
Besser war es, sich selbst in Langmut zu üben: Nach und nach materialisierten sich so eines Tages die Hard-Rock-Schocker von Kiss oder das vom schwulen Muskelmann bis zum Apachenhäuptling fröhlich unkorrekt die Klischees abarbeitende Disco-Sextett von Village People an einer Zimmerwand.
45 Jahre lang war der Starschnitt Herzstück der Jugendzeitschrift Bravo. Die Fragmentierung der Körper gehörte zum Konzept – den Anfang machten 1959 die Füße von Brigitte Bardot, in Netzstrumpfhose und Lackheels. Eine geniale Kundenbindung: Wer beispielsweise den Starschnitt der Beatles besitzen wollte, musste 39 Wochen lang jedes einzelne Heft kaufen. Und das entsprechend kostspielige Porträt dabei sorgfältig selbst ausschneiden sowie Stück für Stück zusammenkleben, was dem Jagen und Sammeln noch eine haptische Komponente verlieh.
Der Bravo-Starschnitt, der als Markenname auch gut 20 Jahre nach seinem Ende immer noch selbstverständlich über die Lippen geht, war derart larger than life, dass er sogar falsche Erinnerungen hervorruft. Man meint, sich dunkel an einen solchen von Michael Jackson oder der Kelly Family zu erinnern. Den hat es aber nie gegeben. Wer es wirklich in die Star-Auswahl von 1959 bis 2004 schaffte, lässt sich jetzt in den Opelvillen Rüsselsheim nachprüfen.
Taschengeld ausgeben für E.T. und Eminem
Gleich zu Beginn der Ausstellung sind die Miniaturen aller Starschnitte aneinandergereiht, die es je gegeben hat: 118 sind es. Sehr viel mehr Männer als Frauen. Es ist dies auch ein Schnellabriss der westdeutschen Popkulturgeschichte. Anfangs orientierte man sich in der BRD noch an Hollywood, bald folgten deutsche TV- und Pop-Persönlichkeiten, später Rock, bevor alles Populärkultur werden konnte. Sogar E.T., der Außerirdische, wurde mit einem entsprechend lebensgroßen Starschnitt bedacht. Unübertroffen auch Eminem und Britney Spears.
Emanzipation und Konsum schlossen sich selbstredend nicht aus. Für ein zusammengespartes Taschengeld ließ die 1956 erstmals publizierte Bravo ihre junge Leserschaft als kaufkräftige Kunden fühlen und vermittelte dafür Selbstbewusstsein und Aufklärung. Die Sorge mancher Mahner war berechtigt. Denn obwohl sie keine merkliche politische Richtung kannte, war die Bravo auch Ausdruck eines Gegenentwurfs – weg von der eigenen Scholle, raus in die Welt.
Die Zeitschrift konnte auch Mackertum reproduzieren – Juliane Werding pries sie 1976 auf dem Motorrad als „Chopper-Mieze“ an. Zugleich klärte sie junge Frauen über ihre Rechte und die eigene Sexualität auf. Heute wäre manche Abbildung aus der Bravo sicherlich strafrechtlich relevant, seit 2021 die damalige SPD-Bundesjustizministerin Christine Lambrecht den Paragrafen über die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte (§ 184b StGB) massiv verschärfen ließ. Unter anderer Gesetzeslage wurde schon 1972 eine Ausgabe mit visuell expliziter „Dr. Sommer“-Reportage auf den Index gesetzt.
Die Starschnitte blieben demgegenüber nahezu jugendfrei. Nackte Haut gab es mit dem ersten Starschnitt Brigitte Bardots, später waren die Rock-, Pop- und Filmstars für gewöhnlich bedeckter. Interessanter war, was getragen wurde – Madonna im Keith-Haring-Rock, Kiss in überkandidelter Bühnenmontur. Mit dem Starschnitt drang auch die Mode ins Kinderzimmer. Durchtrainiert oder sehr schlank waren, wenig überraschend, fast alle Stars. Und trotzdem wirken ihre Silhouetten hier noch einen Tick kleiner oder schmaler, wie um extra nahbar für ihre junge Zielgruppe zu bleiben. Eine Illusion der Sehgewohnheit? War man einfach kleiner?
Fototapete und Starschnitte an der Schrägdecke
Aufschlussreich auch die Körperhaltung der hier Abgelichteten: Zwar gibt es die berühmt einstudierten Posen. Doch lässt sich ein medientechnischer Shift erkennen, der die historischen Star-Bilder eindeutig vom Heute trennt. Die Selbstverständlichkeit einer Generation, aufgewachsen mit der Kamera als permanentem Inszenierungswerkzeug, lag noch in der Ferne: beinahe schüchtern, wie die Glamrocker von T-Rex in die Bravo-Kamera blicken.
Und Mick Jagger kommt hier geradewegs domestiziert daher: Im Schneidersitz freundlich lächelnd, erkennt man nur mit Mühe den Derwisch, den er auf der Bühne gern gab – wie in der Schau zur Vergewisserung auf anbeigestellten Schwarz-Weiß-Fotografien nachzusehen ist. Die zeitweilige Millionenauflage des Marketingimperiums Bravo könnte erklären, warum Rockstars hier bereitwillig für Kinderzimmerwände posierten.
Jahrzehnte, bevor die Bilder eines Thomas Ruff oder Andreas Gursky die XXL-Fotografie einläuteten, lebte man in der West-BRD nicht nur mit landschaftlichen Fototapeten, sondern eben auch schon lebensgroßen Starschnitten zusammen. Bilder von AusstellungsbesucherInnen zeigen, wie das seinerzeit ausschaute: eine herrlich groteske Selbstverständlichkeit, mit der die berühmten Objekte der Begierde an der Schrägdecke im Partyzimmer abhingen oder hinterm Kinderbett hervorlugten.
Die Porträts wurden zu Begegnungsportalen, in die man sich träumen konnte. Mindestens aber zur Fototapete mit coolen Leuten drauf, deren Gesellschaft zum Angeben taugte. In jedem Fall sind die Angebeteten als Außenstehende noch erkennbar. Die libidinös besetzten Star-Abbilder erschienen nicht rein internalisiert wie heute jegliches Gegenüber auf den privaten Displaymedien, sie konnten den Raum der Vorstellung zwischenzeitlich verlassen.
„Bravo-Starschnitte. Eine Sammlung von Legenden“: Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, bis 1. Oktober 2023
Als Phänomen erzählen der Starschnitt und damit die Schau in Rüsselsheim von einem trotz aller Subkulturen noch immer linearen Jugenderlebnis. Jung war man ja bloß ein paar Jahre. In dem Zeitraum wurde gesammelt, was die Bravo vorgab. Der allerletzte Starschnitt erschien 2004. Auf Pop-Superstar Christina Aguilera folgte dann – sehr erfolgreich seinerzeit – der Komiker Michael „Bully“ Herbig. Darüber wundert man sich vielleicht kurz. Dann ergibt alles einen Sinn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern