Ausstellung über Zärtlichkeit: Erzählende Teekessel
Erstmals bespielt Adam Budak als neuer Direktor der Kestner-Gesellschaft das Haus selbst – und tut das mit einer ambitionierten Ausstellung.
![Auf einem Ausschnitt eines Fotos tanzt eine unbekleidete Frau, über ihre Finger hat sie Saugaufsätze für Babytrinkflaschen gezogen, auch ihre Maske hat solche Aufsätze Auf einem Ausschnitt eines Fotos tanzt eine unbekleidete Frau, über ihre Finger hat sie Saugaufsätze für Babytrinkflaschen gezogen, auch ihre Maske hat solche Aufsätze](https://taz.de/picture/5727286/14/Renate-Bertlmann-Zaertlicher-Tanz-1976-1.jpg)
Als Adam Budak zum 1. November 2020 seine Stelle als Direktor der Kestner-Gesellschaft in Hannover antrat, wusste er natürlich, auf was er sich einlässt. Amtsvorgängerin Christina Végh hatte reichlich Programm vorstrukturiert, das Budak noch bis in den Mai 2022 abarbeitete – nicht ohne dabei eigene Akzente zu setzen.
Die Zeit nutzte er aber überaus sinnvoll und im Interesse der Institution: Gemäß seinem Credo, als „Gastgeber“ nicht ausgeschöpfte Potenziale zu erschließen, richtete er die kostenfreie Kestner Cinémathèque im Erdgeschoss ein, ferner ein üppiges Buchhandelsangebot im unteren und eine kleine Kaffeebar im oberen Foyer.
„That other world, the world of the teapot. Tenderness, a model“, lautet nun der vollständige Titel von Budaks erster, selbst konzipierter Ausstellung; der Titel ist ein Manifest, Budaks Vision für die Kestner-Gesellschaft als ein Lebensraum der Gastfreundschaft, aber zudem auch der Liebe zur Welt; als Ort des zärtlichen Erzählens und der aktiven Beziehung zur Kunst. So fasste der Direktor es bereits im vergangenen Jahr einmal in eigene Worte.
That other world, the world of the teapot. Tenderness, a model;
Joanna Piotrowska: Sleeping Throat, Bitter Thirst;
Shilpa Gupta: Untitled (Videoinstallation auf dem Dach):
alles bis 25. 9., Hannover, Kestner-Gesellschaft
Assistiert von Alexander Wilmschen sind diese Gedanken Budaks nun in rund 150 Exponaten von mehr 44 historischen und gegenwärtigen Künstler:innen visualisiert: Malerei, Grafik, Plastik, Video- und Klangkunst, Fotografie – und neun Teekannen verschiedenen Entwurfsalters.
Geistige Referenzgröße ist Olga Tokarczuk, wie Budak aus Polen; die Schriftstellerin erhielt 2018 den Nobelpreis für Literatur. Die andere Welt, die sie 2019 dann in ihrer Stockholmer Nobelvorlesung skizzierte, ist eine utopische Harmonie, die Verbundenheit alles Sichtbaren und Unsichtbaren. Und eine Welt des genaueren Hinsehens, der Wertschätzung und des Entdeckens von Gemeinsamkeiten.
Selbst leblose Dinge beginnen so zu erzählen, wie die Teekanne im Märchen von Hans Christian Andersen. Das elegante, stolze Gefäß musste erleben, wie durch ungeschickten Gebrauch seine lange Tülle und der Henkel zu Bruch gingen. Der Torso diente dann als improvisierter Pflanzbehälter für eine Blumenzwiebel. Immerhin: Ein zweites Leben, jenseits des Status als wertloser Abfall, begann – bis die aufgekeimte, schöne Pflanze und ihre Blüte eines besseren Behältnisses für würdig erachtet wurde. Die Teekanne wurde endgültig zerschlagen und weggeworfen; ihr blieb die Erinnerung, die nicht verloren gehen kann.
Budak bringt nun die Kunst zum Erzählen. Einen ersten Dialog eröffnet gleich im Erdgeschoss etwa die sommerliche Strandszene der schwedischen Malerin Cecilia Edefalk: Ein Mann cremt seiner Partnerin den Rücken ein. Edefalk verwendet Werbefotografien, generiert daraus Bildserien oft nur minimaler thematischer Variation. Ihr antwortet Maria Lassnig, deren Bilder nackter menschlicher Leiber ein „Körpergefühl“ ausdrücken wollen; einerseits der liebevollen Selbstwahrnehmung, andererseits auch einer physischen wie psychischen Verletzlichkeit.
Die Bildintention, von der Künstlerin aus Österreich international verständlich als „Body Awareness“ bezeichnet, spiegeln dann wiederum die teils monochromen Großformate von Pamela Rosenkranz zurück: Sie simulieren standardisierte, mitteleuropäische Hautfarben oder Substanzen und Ausscheidungen des menschlichen Körpers; der changierende Farbauftrag mit Schlieren und Narben verweigert sich jedoch jeglicher Mimesis.
Weitere Arbeiten Lassnigs ziehen sich wie ein Subtext durch drei anschließende Säle. Dabei treffen sie unter anderem auf die kraftvollen, textilen Installation der Polin Barbara Levittoux-Świderska und die konzeptionell feministischen Fotoinszenierungen einer weiteren Polin, Ewa Partum.
Oder die minimalistisch filigranen Gebilde von Joana Escoval: Mit Drahtkonstrukten montiert die Portugiesin zarte Naturelemente – das Barthaar einer Katze, eine kleine Feder, eine verschlungene Weinrebe – auf Untergründe oder in Raumecken. Ortsspezifischen Ritualobjekten gleich, scheinen sie in feiner Geste und umso größerer Spannung alles in Beziehung setzen zu können.
So wie es insgesamt der Ausstellung gelingt, trotz ihrer schier überwältigenden Ideen- und vor allem Materialfülle aus Hannoverschen, deutschen und internationalen Sammlungen, zu einem Ganzen zu finden. Sicher: Kaum jemand wird alles entsprechend würdigen können – und etwa die eingestreuten literarischen Exzerpte der ukrainisch-brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector vielleicht übersehen; so wie die weiteren aktuellen Ausstellungen im und am Hause.
Aber eine, wenn man so will, zärtliche Atmosphäre trägt einen durch die Räume. Der geistige Erkenntnisanspruchs der Kunst bleibt dabei, auch in der Ausstellungsarchitektur, ein offenes Versuchsfeld.
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