Ausstellung Kunstverein Braunschweig: Was Mütter manchmal so kritzeln
In der Show „Das, was nicht geerbt werden kann“ fragen Daniel Lie und Juliana dos Santos, wie Kunst ins Leben kommen kann – und machen eine Liebeserklärung.
Zwei Jahre lang, bis Ende Mai, wirkte der aus São Paulo kommende Kunsthistoriker und Kurator Nuno de Brito Rocha als Interimsdirektor des Kunstvereins Braunschweig. Und er hat dem Haus in der Zeit eine Ausstellungsreihe iberischer und südamerikanischer Künstler:innen beschert. Darunter war etwa die Medienkünstlerin Eli Cortiñas mit ihren bildstarken Videomontagen aus historischem Filmmaterial, aktuellem Found Footage und Selbstinszeniertem. Oder der portugiesische Maler João Gabriel mit farbintensiven Landschafts- und Körperbildern aus der schwulen Lebenswelt an den Stränden des Atlantiks.
Als Erbe de Brito Rochas ist jetzt in der Remise des Kunstvereins eine Duo-Show von Daniel Lie und Juliana dos Santos zu sehen. Von Lies großräumigen Stoff- und Keramikinstallationen hat man hier spätestens gehört, seit der Künstler als einer von vieren mit dem Preis der Nationalgalerie 2024 ausgezeichnet wurde. Lie, Jahrgang 1988, wuchs in Brasilien als Kind indonesischer Eltern auf, versteht sich selbst als non-binär und lebt heute in Berlin. Dos Santos wiederum, Jahrgang 1987, ist eine Schwarze Künstlerin aus São Paulo. Beide lernten sich an der dortigen Kunsthochschule kennen. In Braunschweig setzen sie nun einen künstlerischen Dialog fort, den sie vor knapp zehn Jahren begannen.
Unter dem Titel „Das, was nicht geerbt werden kann / Aquilo que não se herda“ lassen die zwei auf sehr persönliche Details ihrer Jugend blicken, nämlich auf die Zeichnungen ihrer Mütter.
Beide Mütter waren keine Künstlerinnen, aber das Zeichnen gehörte zu ihrem Alltag. Daniel Lies Mutter, Iranilda da Costa, scribbelte etwa während ihrer Telefonate. Auf einem ihrer Blätter in der Ausstellung ist ein seltsames, ringförmiges Objekt zu erkennen. Ein spontan ersonnenes Schmuckstück etwa, locker um den Hals zu tragen? Ihr beim Anfertigen dieser schnellen Skizzen zuzusehen, sei für ihn ebenso bedeutend gewesen wie die Zeichenkurse, die er besucht habe, so Lie.
Eliana de Oliveira, die Mutter von dos Santos, ging systematischer zu Werk. Sie legte Skizzenbücher mit geometrischen Zeichenübungen an, Polygone etwa, die sie per Zirkelschlag konstruierte. Während dieser konzentrierten Zeichenetüden durfte dos Santos sie nicht stören.
Bildliche Artefakte aus dem Lebensalltag
Lie und dos Santos machen diese bildlichen Artefakte aus dem Lebensalltag ihrer Mütter nun zum Ausgangspunkt für eigene künstlerische Überlegungen. Iranildas spielerische, fantastisch figurative Skizzen befinden sich nun auf Seidenstickereien, weiß auf weiß, und ragen wie luftige Flaggen unterschiedlicher Größe in den Innenraum der Remise. Und Elianas geometrisch strenge Linienwerke finden sich als Hochreliefs auf grobem Baumwollpapier wieder, entlang der Wände aufgereiht und erneut weiß auf weiß.
„Das, was nicht geerbt werden kann / Aquilo que não se herda“: Daniel Lie und Juliana dos Santos, Kunstverein Braunschweig, bis 1. Oktober
Beide Techniken spielen mit Licht und Schatten, Transparenz und Opazität: Die Stickereien sind zarte Gespinste im Gegenlicht, die Plastizität der körnigen Reliefs ist nur über ihren internen Schattenwurf richtig zu lesen. Mit weiteren Lichtmodulationen – einigen halb verstellten Fenstern, sommerlich grünen Reflexionen von der Gartenseite, scherenschnittartigen, sogenannten Lichtzeichnungen, die für wandernde Schatten auf den Wänden sorgen – erzeugen Lie und dos Santos ein sanft sich bewegendes Spiel der mütterlichen Bildmotive im Raum.
Mit ihrer biografischen Suche nach der Kunst bei ihren Müttern stellen die beiden auch die Frage danach, ob das künstlerische Tun vererbbar ist. Und was ein Erbe überhaupt bedeutet, wie binär es geprägt sein kann, welch traditionelles Bild von Frau und Familie es beinhalten kann.
Beide Mütter hätten die eigenen Arbeiten nicht als würdig für eine Ausstellung empfunden. Nun tun es Lie und Dos Santos, ihre Kinder. Die Ausstellung „Was nicht geerbt werden kann“ ist auch eine Liebeserklärung.
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