Ausstellung „Fluidity“ in Syke: Zurück in der Defensive
Die Ausstellung „Fluidity“ hinterfragt die Kategorien Mann und Frau. Offenbar wird dabei der Rollback, den der Lockdown mit sich gebracht hat.
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Die Kategorien Mann und Frau sollte die Ausstellung hinterfragen, draußen auf dem Land Zweifel aussähen, dass mit der Unterscheidung von heterosexuell hier und homosexuell dort schon alles gesagt sei: ein Abarbeiten an also genau jenen vermeintlichen Gewissheiten, die im Lockdown-Alltag so unerwartbar laut zurückgeschlagen haben.
Die Kultur war kaum abgeschaltet und die Frauen waren noch gar nicht wieder richtig angekommen am Herd, da gibt die „Werteunion“ als populistischer Rechtsausleger der CDU den Ton vor: „Diese schlimme Zeit macht jetzt hoffentlich auch dem Letzten klar, dass Professoren für Medizin, Chemie und Biologie unendlich viel wichtiger sind als solche für Gender Studies.“ Eine kleine Blödheit auf Twitter, klar, aber eben auch ein Beispiel für sehr viele weitere.
Die Krise lehrt jedenfalls große Vorsicht vor Sätzen, die damit anfangen, „worauf es jetzt wirklich ankommt“. Welche Prioritäten Staat und Gesellschaft im Ausnahmezustand setzen, bestimmt die Debatten seit dem ersten Lockdowntag und bis zur letzten Lockerungsstufe wird sich auch nichts daran ändern.
Die verwalteten Ungerechtigkeiten sind dabei im Kern gar nicht neu: Wer heute alleinerziehend auf Honorarbasis im Homeoffice schuftet, der (oder in der Regel die) hatte auch vor Corona wenig zu lachen. Und trotzdem beunruhigt die Leichtfertigkeit, mit der die kleinen Erfolge etwa in Sachen Inklusion, Gleichberechtigung oder auch Menschenwürde Geflüchteter aufgegeben werden, weil sie offenbar doch nur ein Luxus waren in Zeiten des Überschusses.
Mehr als erfreulich ist jedenfalls, dass Nicole Giese-Kroner und Alejandro Perdomo Daniels, die Macher:innen der Syker Ausstellung, unter widrigen Umständen noch einen ausgesprochen sehenswerten Katalog produziert haben und „Fluidity“ auch soweit verlängern konnten, dass die Ausstellung nun immerhin noch ein paar Tage zu sehen sein wird.
Über zwei Stockwerke zieht sich die Schau aus inhaltlich herausfordernden Positionen und großen Namen der queeren Kunstszene. Cassils aus Los Angeles etwa hat sich seit Jahren als Multimedia-Künstler:in verdient gemacht und dafür zahlreiche angesehene Preise und Stipendien erhalten.
Das Werk in Syke ist Cassils’ eigener Körper, der sechs Monate lange mit Bodybuilding und Aufbaupräparaten in ein Muskelpaket verwandelt wurde. Videoaufnahmen dokumentieren diese Veränderungen im Zeitraffer, ästhetisch überzeichnet ist das Pillenfressen zu sehen. Am Ende sind Cassils’ weibliche Brüste so gut wie verschwunden – gehen jedenfalls unter zwischen allerlei Muskelbergen und -tälern dieser hypermaskulinen Actionfigur.
Bei den markant gesetzten Brüchen wie Cassils’ knallrotem Lippenstift und einem betont lässig geschwungenen Seitenscheitel geht es allerdings nicht um weibliche Attribute, sondern eher grundsätzlich ums Inszenieren: um Zweifel am Bild und dem Selbstbewusstsein, dass die Körperhaltung lediglich behauptet.
Noch ausdrücklicher suchend ist nebenan die Fotoserie „Relationship“ von Zackary Drucker. In 46 Bildern dokumentiert Drucker tagebuchartig ihre Entwicklung von männlich zu trans-weiblich, während sich ihr Partner Rhys Ernst gleichzeitig auf den Weg von weiblich zu trans-männlich begibt. Die in den USA als pornographisch zensierte Arbeit – auch das eine Backlash-Anekdote – handelt von Zärtlichkeit und Nähe, auch wenn die beiden nur selten als Paar zu sehen sind. Vor allem aber offenbart sie die Verletzlichkeit nicht abschließend kategorisierbarer Menschen.
„Fluidity“: verlängert bis Montag, 1. Juni, Syke, Syker Vorwerk
Auch hier geht es um Inszenierungen. Die intimen Bilder sind keine Schnappschüsse, folgen aber auch keiner naiven Dramaturgie. Es ist eine freischwingende Bewegung zwischen unklaren Zuständen. Interessant und vielleicht erstaunlich ist, dass sich nicht der Mann und die Frau entgegenkommen, wenn sie äußere Merkmale wie Muskelaufbau und Brüste austauschen, sondern dass sich zwei Menschen vielmehr auf einen gemeinsamen Weg ins Undefinierte machen.
Unter den insgesamt neun Positionen der Gruppenausstellung zeigt „Relationship“ vielleicht am deutlichsten, wie zwei Monate Lockdown den Blick verschieben können. Wirkte die in der Kleinstadt mutig ausgestellte Unentschlossenheit damals noch als Ausdruck einer verhalten optimistischen Aufbruchstimmung, geht sie heute nahtlos auf im Verteidigungsdiskurs hinter verschlossenen Türen: als einer dieser Luxuserfolge, die dem Krisenmob so egal sind wie die Kunst im Ganzen. Bleibt zu hoffen, dass auch dieser Zustand eine Momentaufnahme bleibt.
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