Ausstellung Berliner Schinkel-Pavillon: Verschlingende Gedärme

Der Berliner Schinkel Pavillon holt den Künstler HR Giger aus der Fantasy-Nische – kombiniert mit Arbeiten der koreanischen Künstlerin Mire Lee.

Echsenartige Gebilde und Knochengerüste von HR Giger und Mire Lee

Skulpturen und Gebilde von HR Giger und Mire Lee im Berliner Schinkel Pavillon Foto: Frank Sperling

Ende der 1970er Jahre bekam der US-Regisseur Ridley Scott einen Künstlerbuch namens „Necronomicon“ in die Hände. Drehbuchautor Dan O'Bannon, mit dem er gerade an einem neuen Werk arbeitete, hatte es ihm gezeigt – und damit ins Schwarze getroffen. Niemals zuvor sei er von etwas so sehr überzeugt gewesen, erzählt Scott später in einem Videointerview.

Fasziniert hatte ihn vor allem ein Airbrushgemälde, das ein fischig durchscheinendes, metallisch glänzendes Wesen aus einer anderen Welt zeigt, ein extraterrestrisches übertrieben phallisches Monster, eklig, furchteinflößend, aber dennoch von gewisser Eleganz. Der Künstler, von dem das Bild und das Buch stammten, hieß Hans Ruedi Giger, der Film, um den es ging, „Alien“.

Echsenhafte Weltraumbestie

„Necronom IV“ (1976), jenes Bild, hängt momentan im Untergeschoss des Schinkel Pavillons, in der Schinkel Klause, gleich im ersten Raum an der Wand. In direkter Nachbarschaft dazu lässt sich vergleichen, wie Giger das Vorbild für die „Alien“-Reihe umsetzte. Eine Skulptur seiner als Xenomorph bekannt gewordenen Hollywood-Weltraumbestie sitzt da lauernd herum, echsenhafter ist sie als das Ungetüm auf dem Bild und weniger aggressiv sexuell konnotiert.

HR Giger – wo hat man von dem eigentlich zuletzt etwas gesehen? In irgendeinem jener Fantasy-Magazine vielleicht, die in nach Patchouli riechenden Geschäften herumliegen, ziemlich sicher nicht im Kontext zeitgenössischer Kunst. Dass der Schinkel Pavillon dem 1940 im schweizerischen Chur geborenen und 2014 gestorbenen Künstler eine Ausstellung ausrichtet, ist gewiss die überraschendste Idee dieses Berliner Kunstherbstes

bis 2. Januar 2022 im Schinkel Pavillon-Berlin

Agnes Gryczkowska heißt die Kuratorin, die diese hatte. Seit 2019 ist sie am Schinkel Pavillon beschäftigt und hat dort bereits die vielbeachtete Gruppenausstellung „Sun Rise | Sun Set“ gemeinsam mit Nina Pohl konzipiert. Über Giger denkt sie schon länger nach.

Noch als sie an der Londoner Serpentine Gallery arbeitete, habe sie unbedingt eine Ausstellung mit Werken von Giger kuratieren und ihn als Visionär und Neo-Surrealisten zeigen wollen, so erzählt sie es bei einer Vorbesichtigung während der Berlin Art Week. Nicht möglich war das dort, zu wenig family friendly sei dessen Kunst für die Serpentine gewesen, darum ergriff sie nun im Schinkel Pavillon die Gelegenheit. Auch auf die Gefahr hin, dafür anzuecken.

Visionär und Neo-Surrealist

Nie zuvor wurden einige der wirklich spektakulären Arbeiten außerhalb des Giger Museums gezeigt. Doch so ganz scheint selbst Gryczkowska nicht auf Gigers Wirkung allein vertraut zu haben und hat ihm eine Partnerin zur Seite gestellt, die sein Werk tatsächlich ziemlich genial ergänzt – ästhetisch wie inhaltlich.

Was Mire Lee, die 1988 in Seoul geboren ist und heute in Amsterdam lebt und arbeitet mit Giger verbindet (dem sie auch selbst einen großen Einfluss auf ihr Werk zuschreibt) ist ihre Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Fetischen, mit dem Begehren und dessen düsterer Seite, mit Lust und Ekel.

„Carriers“ heißen einige von Lees kinetischen Skulpturen, Gedärmen oder Nabelschnüren ähnelnde, mit rosafarbenem glibbrigem Silikon überzogene Gebilde, die sich um sich selbst drehen und dabei zähe Flüssigkeit laut schlürfend einsaugen und wieder ausspucken. Die Künstlerin verweist mit ihnen auf die sogenannte Vorarephilia, eine sexuelle Spielart, bei der Erregung mit der Vorstellung von dem oder der Part­ne­r*in verschlingen zu werden oder die­se*n selbst zu verschlingen einhergeht.

In ihrer Brachialität ist sie damit nah dran an Giger und an den Bildern der Gier und Maßlosigkeit, die dieser etwa mit seiner Harkonnen-Möbelserie evoziert. Die menschlichen Skeletten nachempfundene Sitzgruppe, entworfen für die am Ende nie realisierte „Dune“-Verfilmung Alejandro Jodorowskys, steht im Mittelpunkt des achteckigen Pavillon, umgeben eben von Lees „Carriers“.

Trauma der Geburt

An einen Mutterleib soll das ganze Ensemble dort erinnern. Neben Sex und Gewalt, sind Geburt und Tod die Buzzwords, mit denen auch der Saaltext überschrieben ist. Von Giger heißt, er habe von seiner eigenen Geburt ein Trauma mitgenommen. Visualisiert hat er das auf mannigfaltige Art und Weise, mit bewaffneten Föten im künstlichen Uterus beispielsweise, auch seine „Birthmachine“ (1967 und 1965/66) ist in der Schau zu besichtigen.

Heute denkt man bei deren Anblick möglicherweise weniger an Freud als an moderne Reproduktionsmedizin, an sämtliche Formen körperlicher Selbstbestimmung für Menschen mit oder ohne Gebärmutter. Das mag an Gryczkowskas deutlich mitschwingender Behauptung liegen, Giger ließe sich queerfeministisch deuten. Schlicht aber durchaus schlüssig ist ihre Begründung dafür. Seine Wesen weisen schließlich oft Merkmale beider Geschlechter auf, sie sind non-binär, wie man es heute bezeichnen würde.

Im Grunde geht es in der Schau, wenn man es einmal total herunterbricht, um die Beziehung zum eigenen Körper und zur eigenen Existenz. Ob man Giger mit dieser progressiven Sichtweise gerecht wird, ist vielleicht gar nicht mal so wichtig. Viel interessanter ist ja die Auseinandersetzung damit.

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