Ausbeutung bei Lieferdiensten: Nur zum Schein beschäftigt
Wer für Wolt oder Uber arbeitet, arbeitet oft für Subunternehmen. Die Konzerne ziehen sich damit aus der Verantwortung – mit fatalen Konsequenzen.
„Wolt ows us money and rights“, also auf Deutsch „Wolt schuldet uns Geld und Rechte“, steht auf einem mehr als zehn Meter langen Banner, das trotz des Getümmels von der Straße, dem Radweg und aus den Bussen gut sichtbar ist. Nach einer Viertelstunde sind schon mehr als 50 Protestierende auf dem Platz vor dem Zentrum Kreuzberg zusammengekommen. Unterstützt werden sie vom Lieferando Workers Collective, auch einige Passant*innen bleiben stehen und gesellen sich dazu. „Stop the Pseudo Subcontracting System“, ist eine ihrer Forderungen, die auf kleineren Schildern geschrieben steht.
Es ist nicht die erste Demonstration dieser Art: Bereits Anfang April hatten die Fahrer*innen vor der Wolt-Zentrale in Friedrichshain gegen den „Lohndiebstahl“ protestiert. Das Management im Firmensitz an der Spree reagierte nicht gerade konstruktiv: Ein Video dokumentiert, wie sich die Büromitarbeiter*innen mit einem Fahrradschloss im Gebäude verbarrikadierten, statt auf die Beschwerden einzugehen. Wolt selbst gibt gegenüber der taz an, lediglich 29 Mitarbeiter*innen über einen Personaldienstleister eingestellt zu haben, der die Auszahlungen nicht weitergegeben haben soll. Die Fälle würden juristisch geprüft, heißt es.
Fahrer bei Wolt
Seit November 2022 stellt Wolt Fahrer*innen in Berlin teilweise nicht mehr direkt an. „Sie verstecken sich hinter Subunternehmen, sie sparen Geld und am Ende leiden die Fahrer*innen“, sagt ein Fahrer bei der Kundgebung im April. Für ihn und seine Kolleg*innen scheint der Fall klar: Die Kund*innen bestellen über die Wolt-App, die Fahrer*innen bekommen die Aufträge über die Software von Wolt, sie tragen die typische blaue Kleidung mit dem Firmenlogo, wenn sie die Bestellung liefern – also soll Wolt auch zahlen.
Studie untersucht System mit Subunternehmen
Das Prinzip Subunternehmen ist nicht neu und Wolt ist keine Ausnahme in der Branche. Eine Studie, die im März dieses Jahres im Rahmen des Projekts „Platform Labour in Urban Spaces“ veröffentlicht wurde, hat die Arbeitsbedingungen beim Fahr-Dienstleister Uber beleuchtet. Das Unternehmen operiert seit 2014 in Berlin, seit 2016 mit Subunternehmen. Die Umstrukturierung könnte eine Art Vorbild in der Branche gewesen sein.
Denn auch Uber spart, zu Lasten der Beschäftigten. Valentin Niebler aus dem Forschungsteam der Studie erklärt im Gespräch mit der taz, dass die Fahrer*innen seitdem vor allem bei Subunternehmen angestellt sind, manche mit wenigen, manche mit mehr als hundert Mitarbeitenden. In jeder Stadt gibt es einen „Generalunternehmer“, dem diese Betriebe untergeordnet sind. Der agiert im Auftrag von Uber.
Die Studie nennt neben Lohndiebstahl, wie ihn auch die Wolt-Rider beklagen, Verdienste unter dem Mindestlohn als häufiges Problem der Fahrer*innen. Auch werden Krankheitstage und Urlaub oft nicht bezahlt. Versicherungen oder Sozialversicherungsbeiträge werden nur zum Teil oder gar nicht übernommen. Viele der Fahrer*innen hätten trotz Vollzeitarbeit nur den Status von Minijobber*innen. Das Konstrukt erleichtert es den Plattformkonzernen, sich vor den Pflichten als Arbeitgeber zu drücken.
Valentin Niebler, Studienautor
„Wenn ein Problem auftritt, zeigt sich keine der Instanzen verantwortlich“, sagt Valentin Niebler. „Dann verweisen zum Beispiel die Subunternehmer auf die anderen Subunternehmer, die verweisen auf Uber und Uber gibt das Problem zurück.“ Für die Fahrer*innen sei das so, als wäre niemand zuständig. „Das macht es schwer, Arbeitnehmerrechte einzufordern.“ Er sieht starke Ähnlichkeit mit den Berichten der Wolt-Beschäftigten.
Von Scheinselbstständigkeit zur Scheinbeschäftigung
Valentin Niebler und seine Kolleg*innen haben für diese Verhältnisse den Begriff der „Scheinbeschäftigung“ erfunden. Der Begriff meint, dass es zwar formal ein Beschäftigungsverhältnis gibt, die Angestellten aber wenig davon profitieren.
In der Vergangenheit waren Dienstleistungsplattformen in die Kritik geraten, weil sie auf einem scheinbar gegensätzlichen Prinzip basierten: Auf dem Modell der Scheinselbstständigkeit. In den Jahren nach der Gründung 2014 in den USA waren die Fahrer*innen bei Uber nicht angestellt. Die Plattform gab an, nur die Fahrten zu vermitteln.
Die Fahrer*innen waren offiziell Soloselbstständige, die sich allerdings nach den Vorgaben des Unternehmens richten mussten, als wären sie Angestellte. Aber sie kosteten das Unternehmen keine Sozialabgaben. Genau diese Einsparung machte das Modell in der Branche so attraktiv. Essenlieferdienste und auch Helpling übernahmen in dieser Zeit das Konzept.
Nach Angaben des Rats der Europäischen Union sind in der EU mehr als fünf Millionen Menschen in der Plattformarbeit fälschlicherweise als Selbstständige eingestuft. Um das zu ändern und die Plattformen offiziell als Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen, legte die Europäische Kommission 2020 einen ersten Vorschlag zur Regulierung der Plattformarbeit vor. Diese Richtlinien sollen es leichter machen zu erkennen, dass jemand Arbeitnehmer*in ist und entsprechende Rechte hat. Das betrifft zum Beispiel Pausen, bezahlten Urlaub oder Zahlungen bei Krankheit.
Am 1. Dezember 2020 entschied das Bundesarbeitsgericht, dass Plattformerwerbstätige als Arbeitnehmer*innen einzustufen sind, wenn sie in Organisationsstrukturen der Plattform eingebunden sind und weisungsgebunden arbeiten. Das gilt ausdrücklich auch, wenn die Weisungen durch Apps oder Algorithmen gegeben werden. Und auch dann, wenn im Vertrag von „selbstständigen“ Dienstleister*innen die Rede ist.
Immer neue Schlupflöcher
Scheinselbstständigkeit oder Scheinbeschäftigung? Für Rahid, der nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen will, macht das am Ende kaum einen Unterschied. Wie viele andere in Berlin hat er zeitgleich für Wolt und für Uber gearbeitet. Die Fahrer*innen nutzen beide Apps, um möglichst viele Aufträge zu bekommen und weniger unbezahlte Wartezeiten zu haben, die den Verdienst drücken.
Eigentlich wollte er den einen Job mit dem anderen ergänzen, weil er zu wenig Geld verdiente. Jetzt hat er durch die ausstehenden Löhne bei Wolt zusätzlichen Ärger und noch knappere Einkünfte, sagt er der taz. Was die fehlende Verantwortung angeht, findet er die beiden Arbeitgeber recht ähnlich: „Es ist das Gleiche, auch wenn es zwei Gesichter sind“, sagt er.
Die Studie zur Scheinbeschäftigung und auch die Situation in der Lieferbranche zeigt, dass der Status Arbeitnehmer*in nicht automatisch zu besseren Arbeitsbedingungen führt. „Die Gefahr ist groß, dass die Konzerne schnell neue Schlupflöcher finden werden, um die Regeln zu umgehen“, warnt Valentin Niebler. Obwohl die Fahrer*innen noch immer auf ihre Löhne warten, läuft das Geschäft von Wolt weiter.
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde nachträglich geändert. Ursprünglichen hieß es, dass Wolt seit November 2022 Fahrer*innen in Berlin generell nicht mehr direkt anstellt werden, das trifft aber nur auf einige zu.
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