Aus „Le monde diplomatique“: Spaniens neue Radikale
Empörung - Bewegung - Partei: Die spanische „Podemos“ ist erst ein Jahr alt. Doch sie könnte als Sieger aus den nächsten Wahlen hervorgehen.
Madrid am 15. Mai 2011: Hunderte, dann Tausende Demonstranten kommen auf der Puerta del Sol im Herzen der Stadt zusammen und schlagen ihre Zelte auf. Die Bewegung „15-M“ wehrt sich gegen die Übernahme der Wirtschaft durch die Banken und gegen eine Demokratie, die sie „nicht repräsentiert“. Man nennt sie „Indignados“, die Empörten. Bei ihren Versammlungen dulden sie keine Fahnen, Symbole und Redebeiträge von politischen Organisationen. Einer ihrer Slogans lautet: El pueblo unido / no necesita partido! Das vereinte Volk braucht keine Partei.
Inzwischen sind die Demonstranten von der Puerta del Sol verschwunden. Doch der Wunsch nach Veränderung ist nicht verschwunden, er artikuliert sich nur anders. Die Hoffnung hat mittlerweile eine neue politische Adresse: eine Partei namens Podemos („Wir können“). Deren Aufstieg kam sogar für den Europaabgeordneten Pablo Echenique überraschend: „Man kann es kaum glauben. Unsere Partei wurde erst im Januar 2014 gegründet. Schon im Mai kamen wir dann bei den Europawahlen auf 8 Prozent!“
Einer Umfrage – nach dem Wahlsieg der Syriza in Griechenland – zufolge liegt Podemos mit 26,3 Prozent nur noch knapp hinter der PP (27,1 Prozent) und deutlich vor der PSOE (21,4 Prozent). Ein Sieg von Podemos bei den landesweiten Wahlen, die spätestens am 20. Dezember 2015 stattfinden müssen, scheint nun durchaus möglich.
„Unserer Ansicht nach hatte sich 15-M in ein politisches Konzept verrannt, das ausschließlich auf Bewegung setzt“, meint der Soziologe Jorge Lago, Mitglied des sogenannten Bürgerrats, der erweiterten Führung von Podemos. „Aber die Vorstellung, dass ein Kräftezuwachs automatisch zur politischen Umsetzung über Vollversammlungen führt, hat sich als falsch erwiesen.“ So sind inzwischen zwar Bündnisse zum Kampf gegen Zwangsräumungen oder gegen die Zerschlagung des Gesundheitswesens entstanden, aber der Bewegung als solcher ist die Luft ausgegangen.
Dieser Artikel, übersetzt von Raul Zelik, stammt aus der deutschen Ausgabe von „Le Monde diplomatique“. LMd ist die weltweit größte Monatszeitung für internationale Politik, sie liegt am zweiten Freitag im Monat der taz bei. Außerdem gibt es die Ausgabe separat am Kiosk und im Abo. Weiter zur aktuellen Ausgabe unter www.monde-diplomatique.de.
Ähnlich enttäuschend verliefen die Wahlen: „80 Prozent der Bevölkerung gaben bei Umfragen an, dass sie die Ziele von 15-M befürworten, aber gewählt haben sie wie immer.“ Die Parlamentswahlen im November 2011 endeten mit einem Erdrutschsieg der Konservativen. Die Gründung von Podemos beruhte auf zwei Annahmen: Ein Teil der Sympathisanten der Bewegung 15-M wünsche sich – zumindest zeitweise – eine politische Repräsentation; und der Weg zu sozialen Veränderungen führe über die staatlichen Institutionen.
Wir-Gefühl gegen die Elite
Dennoch hält die Partei am „Geist des Mai“ fest, etwa indem sie sich zu Transparenz, Eigenfinanzierung und kollektiven Entscheidungsprozessen verpflichtet. Bestimmte Aspekte der direkten Demokratie sehen die Podemos-Mitglieder aber offenbar kritisch. Zum Generalsekretär der Partei wählten sie Pablo Iglesias, der für strengere Organisationsformen eintrat als Echenique sie vorgeschlagen hatte. Ehemalige Demonstranten vom Mai 2011 werfen Podemos bereits Verrat vor: Die neue Partei mache sich zum nützlichen Idioten des Systems.
„Podemos macht Karriere, indem es die soziale Energie und die kollektiven Experimente institutionalisiert“, schreibt die Aktivistin Nuria Alabao aus Barcelona. Lago hält dagegen: „Die sozialen Bewegungen können sehr wohl ihre Autonomie wahren und zugleich, wenn sie das vernünftig finden, eine Regierung unterstützen, die weit mehr Verständnis für sie hat als die spanischen Regierungen der letzten Jahre.“
Der Aufschwung von Podemos wäre ohne die Bewegung 15-M nicht möglich gewesen; nur durch sie, sagen die Podemos-Gründer, habe die Partei ein in Europa seltenes politisches Subjekt gewonnen: das Volk. „Nicht ´das Volk` bringt den Aufstand hervor, sondern der Aufstand produziert erst sein Volk“, schreibt das französische „Unsichtbare Komitee“.
Das Entstehen dieses Wir-Gefühls hat viel mit den Schandtaten der spanischen Eliten zu tun, die von Podemos „die Kaste“ genannt werden. Die Korruption hat ungeheure Dimensionen angenommen: Derzeit sind rund 2.000 Korruptionsfälle vor Gericht anhängig. Betroffen sind mindestens 500 hohe Mandatsträger, der Schaden für die öffentliche Hand wird auf 40 Milliarden Euro geschätzt. Die beiden großen Parteien, die regierende rechte PP und die PSOE, haben in ihrer Amtszeit die Strafen für „Empfänger illegaler Spenden“ reduziert. Und gegen die politischen Parteien, die von dieser Praxis profitieren, wurden keine Strafverfahren eingeleitet. Selbst die als unantastbar geltende Monarchie ist durch die Infantin Cristina de Borbón in einen Finanzskandal verstrickt.
Für ökonomische Demokratie
Wenn Korruption ein solches Ausmaß erreicht, schreibt Pablo Iglesias, wird sie „strukturell“. Sie gehört dann also schlicht zum politischen System: Während die Hälfte der Arbeitslosen Spaniens keine staatliche Unterstützung mehr erhält, zahlen 33 der 35 Firmen, die den spanischen Aktienindex Ibex ausmachen, keinerlei Steuern mehr. Seit 2009 sind 500.000 Kinder in die Armut abgestürzt, zugleich sind die großen Vermögen unter der Regierung Rajoy um durchschnittlich 67 Prozent gewachsen. Seit Dezember 2014 schränkt ein „Gesetz zum Schutz der Bürgersicherheit“ die Demonstrationsfreiheit deutlich ein und hindert die Bürger an Aktivitäten, wie sie im Mai 2011 an der Tagesordnung waren.
Aus Sicht von Podemos hat das Platzen der spanischen Immobilienblase die materiellen Grundlagen für den gesellschaftlichen Konsens hinweggefegt, den die Verfassung von 1978 etabliert hatte. Fundament dieses Konsenses wa-ren das Bündnis verschiedener Machtgruppen, die heute diskreditierte Monarchie sowie die allgemeine Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Die ökonomische Krise hat die politische Krise ausgelöst, meint Lago, und damit „die Voraussetzung für tiefgreifende soziale Veränderungen“ geschaffen. Dabei sieht er allerdings auch große Gefahren im Hinblick auf die extreme Rechte, die in die PP integriert ist.
Aber die dramatische Krise allein kann den Aufstieg von Podemos nicht erklären. Die Vereinigte Linke (Izquierda Unida) vertritt seit Langem ein ähnliches Programm, ohne dass die politische Ordnung erschüttert worden wäre. Es ist also auch eine Frage der Methode. Am 30. Juli 2012 erklärte Pablo Iglesias in einer Rede: „Die Leute wählen niemanden nur, weil sie sich mit seiner Ideologie, seiner Kultur, seinen Werten identifizieren, sondern weil sie mit ihm einverstanden sind.“ Und dazu sind sie eher bereit, wenn diese Person normal, sympathisch und witzig auftritt.
Podemos bemüht sich, den traditionellen linken Diskurs in Argumentationslinien zu „übersetzen“, um größtmögliche Zustimmung zu erreichen, erläutert Largo: „Wir sprechen zum Beispiel nicht von Kapitalismus. Wir sind für die Idee einer ökonomischen Demokratie.“ Auch die Unterscheidung links/rechts spielt keine Rolle, wenn man Reden von Pablo Iglesias hört: „Die Bruchlinie verläuft von nun an zwischen denen, die wie wir die Demokratie verteidigen, und denen, die auf der Seite der Eliten, Banken und des Markts stehen.“ Die Konfrontation verläuft also zwischen „Elite und Mehrheit“.
Arbeiter, Bauern und Angestellte
Die Wächter der marxistischen Orthodoxie kritisieren solche undifferenzierten Gesellschaftsanalysen. Als Iglesias gefragt wurde, warum er nie den Begriff „Proletariat“ verwende, berichtete er über seine Erfahrungen: „Am Anfang der 15-M-Bewegung gingen Studenten meiner Fakultät – sehr politisierte Studenten, die Marx und Lenin gelesen hatten – erstmals zu Vollversammlungen mit ’normalen‘ Leuten. Sie meinten ganz verzweifelt: ’Aber die kapieren ja gar nichts!‘ Und wollten ihnen klarmachen: ’Du bist ein Arbeiter, auch wenn du es nicht weißt!‘ “ Dieses Unverständnis für „normale Leute“ gefalle der Rechten, meint Iglesias, damit bleibe man stets in der Minderheit: „Solange wir da bleiben, kann sich unser Gegner sicher sein, dass wir keine Gefahr darstellen.“
Heute stellt Podemos erfreut fest, dass 10 Prozent seiner Wähler aus dem konservativen Lager kommen. Die gesellschaftliche Verankerung der Partei wurde mit der Gründung von mehr als 1 000 „Zirkeln“ im ganzen Land verstärkt. Zu den jungen, hochqualifizierten, urbanen Anhängern der ersten Stunde sind Arbeiter, Angestellte und Landbewohner hinzugekommen. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass derartige schichtenübergreifende Bündnisse wieder zerfallen, sobald diejenigen ihr Ziel erreicht haben, die sozial besser gestellt sind.
Doch die Podemos-Gründer haben ihren Gramsci gelesen und gehen davon aus, dass der politische Kampf nicht auf den Umsturz der existierenden sozialen und ökonomischen Strukturen beschränkt sein darf. Er müsse auch auf das Feld der Kultur ausgeweitet werden, wo die Mächtigen ihre Herrschaft legitimieren und ihre Codes, ihr Vokabular und ihre Dramaturgie durchsetzen. Das gilt vor allem für das entscheidende Medium: das Fernsehen.
Pablo Iglesias und seine Weggefährten – wie der Politikprofessor Juan Carlos Monedero, der mit ihm an der Spitze von Podemos steht – haben ab 2003 ihre eigenen Radio- und Fernsehprogramme etabliert. Dazu gehört „La Tuerka“, ein Debattenformat, das in lokalen Fernsehsendern und im Internet zu sehen ist. Laut Iglesias soll es zur Reflexion anregen, „um die Welt aus einer leninistischen Perspektive zu verstehen“.
Kein Rechts-links-Schema
Weil sie bisweilen auch Rechte einluden, wurden die jungen Protagonisten von „La Tuerka“ so bekannt, dass sie inzwischen auch zu den Diskussionsrunden der großen Fernsehsender eingeladen werden. Am 6. Dezember 2014 trat Pablo Iglesias in „La noche en 24h“ auf, einer der wichtigsten Politsendungen des spanischen Staatssenders TVE. Dabei stellte er als Erstes klar, wem er seinen Auftritt zu verdanken hatte: „Es hat Kämpfe gegeben, sonst wäre ich nicht hier.“ Und wandte er sich explizit an die „Arbeiter dieses Hauses“.
Das spanische Wahlsystem begünstigt auf nationaler Ebene die beiden großen Parteien und in den Autonomieregionen die starken nationalistischen Parteien. Wie der Soziologe Laurent Benelli errechnet hat,braucht die Geroa Bai, die Regionalpartei Navarras, für einen Parlamentssitz 42 411 Stimmen, die regierende PP 60 000 und die PSOE 64 000 Stimmen, die sozialistische Izquierda Unida (IU) dagegen 155 000.
Podemos schließt jede Art von Wahlbündnis aus: Die Partei will keine „Buchstabensuppe“, mit der sie Gefahr liefe, sich ins traditionelle Rechts-links-Spektrum einzuordnen und damit Stimmen von Linksnationalisten oder IU-Anhängern zu verlieren, die Podemos bereits jetzt „historische Verantwortungslosigkeit“ vorwerfen. Dennoch ist die iberische Elite offensichtlich beunruhigt: Am 1. Dezember 2014 forderte der Chef des spanischen Unternehmerverbands, Juan Rosell, Konservative und PSOE zu einer großen Koalition auf – „wie in Deutschland“.
Nach Darstellung von Pablo Iglesias ist das Programm von Podemos „alles andere als maximalistisch“. Es sieht vor: eine verfassunggebende Versammlung direkt nach der Regierungsübernahme, eine Steuerreform, die Restrukturierung der Schulden, die Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre, den Übergang zur 35-Stunden-Woche, ein Referendum über die Monarchie, industriellen Wiederaufbau und die Rückforderung der an Brüssel abgetretenen Souveränitätsrechte und Selbstbestimmung für die spanischen Regionen.
Dieses Programm wird von den spanischen Machtzentren, die Podemos als das „deutsche Europa“ und „die Kaste“ bezeichnet, als bedrohlich empfunden. Entsprechend gehen diese Kräfte verbal in die Offensive. Der Kolumnist Salvador Sostres zum Beispiel verglich Iglesias in der Tageszeitung El Mundo vom 2. Dezember mit dem rumänischen Staatschef Nicolae Ceausescu. Auch Iglesias habe nur eines im Sinn: „Das Blut der Ärmsten muss fließen, und zwar bis zum letzten Tropfen.“ Ein Abgeordneter der Regierungspartei PP hatte sich ein paar Wochen vorher noch klarer ausgedrückt: „Dem sollte man einen Genickschuss verpassen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste