Aus Le Monde diplomatique: Kein Weg mehr durch Agadez

Die Stadt in Niger lebte früher von durchreisenden Migranten. Das ist nach der Verabschiedung eines Gesetzes gegen „Menschenschmuggel“ nun vorbei.

Die Grosse Moschee von Agadez im Norden von Niger

Einst als „Tor zur Wüste“ gepriesen: Agadez Foto: imago images/epd/Bettina Ruehl

Der Busbahnhof von Agadez liegt wie im Dornröschenschlaf. Die warme Jahreszeit schickt ihre Vorboten. Schon im Morgengrauen hat sich eine feine Staubschicht über die Stadt gelegt. Das Wetter ist jedoch nicht der Grund für die wenigen Reisenden. „Es gibt schon lange keine mehr“, beklagt ein Schalterbeamter, der auf einer Matte neben seinem schlafenden Kollegen liegt. „Die Leute, die nach Norden wollen, halten sich versteckt.“

Agadez, die bevölkerungsreichste Stadt im Norden Nigers, wurde von den Reisebüros einst als „Tor zur Wüste“ gepriesen. Früher war der Busbahnhof, von dem die Konvois nach Dirkou und weiter nach Libyen starteten, das pulsierende Herz der Stadt. Jeden Montag fuhren von hier bis zu 200 Fahrzeuge mit Vieh und Menschen beladen Richtung Wüste.

Die Passagiere kamen aus Westafrika, seltener aus Zentral- und Ostafrika, und die meisten wollten nach Libyen, um von dort, inschallah, nach Europa zu gelangen. Die nigrische Armee begleitete die Konvois bis an die libysche Grenze. Für die Migranten waren die Konvois ein Synonym der Hoffnung, für die Einwohner von Agadez eine wichtige Verdienstmöglichkeit. „Die ganze Stadt profitierte davon“, erinnert sich Mahaman Sanoussi. „Die Migra­tion war legal, die Transportunternehmen verdienten gut und zahlten ihre Steuern. Mit dem Gesetz 2015-36 hat sich alles geändert.“

Das Gesetz vom 26. Mai 2015 gegen „Menschenschmuggel“ erklärte von einem Tag auf den anderen für illegal, was bis dahin ein Gewerbe wie jedes andere gewesen war. Dutzende junge Nigrer wanderten ins Gefängnis. 2015 war das Jahr, in dem die EU beschloss, eine unsichtbare Mauer zu errichten, um die Migration aus dem Süden zu stoppen. Bei einem Gipfeltreffen in der maltesischen Hauptstadt La Valetta berieten die 28 Staats- und Regierungschefs über eine europäische Migrationsagenda und wie sie ihren Kampf gegen die Zuwanderung an ausgewählte afrikanische Staaten outsourcen könnten.

Den mittellosen Regierungen wurden insgesamt mehr als 2 Milliarden Euro versprochen, wenn sie den Europäern dabei helfen würden, jeden zurückzuhalten, der die lange Reise wagen will. Ein Nothilfetreuhandfonds „zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung der Ursachen von irregulärer Migration und Vertreibungen in Afrika“ finanziert seitdem zahlreiche Projekte in Nigeria, Senegal, Äthiopien, Mali und Niger.

Die Migration nach Europa stoppen, wenn nötig mit Gewalt

Niger grenzt an Algerien und Li­byen, weshalb das Land in der euro­päi­schen Strategie einen zentralen Platz einnimmt. Nachdem eine internationale Koalition 2011 das Gaddafi-Regime in Libyen hinweggefegt hatte, wurde Agadez zum wichtigsten Transitort in Richtung Europa. Auch wenn die Stadt bereits 2015 im Fokus der EU-Politik zur Eindämmung der Migration stand, machten noch 2016 rund 400.000 Mi­gran­ten auf dem Weg Richtung Norden hier Halt.

Niger, laut Entwicklungsprogramm der UN das ärmste Land der Welt, sieht sich an seinen Grenzen mit zahlreichen Bedrohungen konfrontiert – Boko Haram im Südosten, bewaffnete malische Gruppen im Nordwesten und Tubu-Milizen im Norden. Der von Mahamadou Issoufou, einem Verbündeten Frankreichs, regierte Staat braucht Geld und militärische Unterstützung. Der Nothilfefonds hat Niger in drei Jahren mehr bewilligt als jedem anderen Land: 266 Millionen Euro. Offiziell spricht man von Entwicklungshilfe oder vom Kampf gegen Menschenhandel. In der Praxis will man die Migration nach Europa stoppen, wenn nötig mit Gewalt.

Man sehe zwar die Migranten heute nicht mehr, „aber sie sind immer noch da“, sagt Nana Hekoye vom Verein Alternative Espaces Citoyens in Agadez. Sie beklagt die Folgen des Gesetzes 2015-36 zur Bekämpfung des Menschenschmuggels: „Schon früher wurden sie Opfer von Gewalt. Aber jetzt sind sie für die Schlepper noch leichtere Beute. Man nimmt ihnen die Papiere weg, gibt ihnen verdorbenes Essen und pfercht sie in dreckstarrenden Behausungen zusammen. Frauen werden vergewaltigt. Jetzt, wo sie für illegal erklärt wurden, können sie sich bei niemandem mehr beschweren. Außerdem sind die Preise explodiert.“ Seitdem das Gesetz in Kraft ist, muss man bis zu 500.000 CFA-Franc (762 Euro) zahlen, um nach Libyen zu gelangen, vorher waren es 150.000.

Die Migranten müssen ständig ihr Quartier wechseln, um nicht entdeckt zu werden. Anstatt zwei, drei Tage Zwischenstopp zu machen, bevor sie weiter nach Norden fahren, warten sie jetzt oft zwei oder drei Monate in Agadez. Aufgrund des Klimas leiden viele an Verdauungsstörungen und Lungenproblemen. Wer krank ist, traut sich nicht mehr zu den öffentlichen Gesundheitszentren zu gehen.

Ibrahima F., ein 24-jähriger Senegalese, ist der Haft und Folter in einem von Milizen betriebenen Lager in Libyen entflohen. Er erzählt, dass er nach seiner Rückkehr in einem der „Ghettos“ von Agadez nur knapp dem Tode entgangen sei: „Wir waren sehr viele Menschen, auf sehr engem Raum. Wir hatten nicht genug zu essen und ich wurde krank. Es war das Rote Kreuz, das mich gerettet hat.“

Eine weitere Folge des Gesetzes ist, dass viele Migranten mittlerweile den Weg über Mali wählen, trotz der dort herrschenden Unsicherheit. Von hier hoffen sie über Algerien und Marokko nach Spanien zu gelangen. Die gut organisierten Schlepper wählen allerlei Umwege. „Das führt dazu, dass die Flüchtlinge beim Aufbruch nicht wissen, ob sie unterwegs Wasser finden, um ihren Vorrat aufzufüllen“, erklärt ein Mitarbeiter der Internationalen Organisation für Migration (IOM).

Die Schlepper sind allmächtig geworden. Youssouf N., ein Malier, der es am Ende nach Europa geschafft hat, erzählt, dass er auf der Straße nach Dirkou mitten in der Sandwüste im Stich gelassen wurde. „Der Schlepper sagte, dass uns ein anderes Fahrzeug abholen wird. Aber das ist nie gekommen. Schließlich haben wir jemand anderen gefunden. Bis zur Grenze haben wir zehn Tage gebraucht.“ In Libyen wurde seine Gruppe von einer arabischen Miliz erpresst. „Wer Geld hatte, konnte seinen Weg fortsetzen. Ich hatte nichts mehr. Sie brachten mich in ein Haus in Sebha, wo ich zehn Monate lang eingesperrt war, bis mich eine Hilfsorganisation rausholte.“

Auch wenn die Angaben der IOM unvollständig sind, lässt sich an ihnen ablesen, wie sich die Situation entwickelt hat: 2016 rettete die Organisation 147 Migranten in der nigrischen Wüste; 2018 waren es 9419 Menschen, allein im Januar 2019 waren es 1145. Die Zahl der Personen, die auf den Fluchtrouten durch Alge­rien und Libyen starben, stieg zwischen 2015 und 2017 von 71 auf 427. Und das sind nur die, deren Leiche man gefunden hat. „Tatsächlich sind es viel mehr“, ist sich Nana Hekoye sicher.

Ein Teil des Gelds ist für den Aufbau des Staats und für die Grenzsicherung bestimmt: Die nigrischen Sicherheitskräfte wurden durch die Schaffung einer Elitetruppe für den Kampf gegen die Migration gestärkt. Eine gemeinsame Ermittlergruppe soll die „kriminellen Netze des Menschenschmuggels“ zerstören. In Agadez wurde ein Standort der zivilen Aufbaumission Eucap Sahel Niger eingerichtet. Seit 2015 organisiert die „Migrationseinheit“ der Mission die Ausbildung von Sicherheitskräften und stellt Ausrüstung zur Verfügung. Offiziell werden die Polizisten aus verschiedenen europäischen Ländern selbst nicht aktiv: Sie würden lediglich Informationen sammeln und technisches Know-how vermitteln.

Die Ausarbeitung der EU-Migra­tions­agenda und die Verabschiedung des Gesetzes 2015-36 lagen zeitlich verdächtig nah beieinander. In der nigrischen Regierung bestreitet niemand, dass das Gesetz von Europa angeregt, wenn nicht gar erzwungen wurde. Teilweise feilten sogar französische Beamten an den Formulierungen. „Es stimmt, es gab Druck“, gibt General Mahamadou Abou Tarka zu. Er ist Präsident der Behörde zur Festigung des Friedens (HACP), die dem Präsidenten untersteht und die Umsetzung des Gesetzes überwachen soll. „Aber wir hatten auch schon seit einer Weile darüber nachgedacht. Die Explosion der Flüchtlingsströme hat uns seit 2012 sehr beschäftigt. Zuerst haben wir sie toleriert, vor allem, weil unsere Landsleute damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Aber auch der Schmuggel nahm zu. Und als die Europäer sagten: ,Wir geben euch Geld', haben wir die Gelegenheit beim Schopf gepackt.“

Seit Einführung des Gesetzes riskiert jeder, der einem Migranten gegen einen finanziellen oder materiellen Vorteil hilft, das Territorium illegal zu betreten oder zu verlassen, fünf bis zehn Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von bis zu fünf Millionen CFA-Franc (7.630 Euro). Wer ihm während seines Aufenthalts Unterkunft gewehrt, ihm Essen oder Kleidung gibt, muss mit einer Gefängnisstrafe zwischen zwei und fünf Jahren rechnen. Seit 2016 wurden fast 300 Personen, Fahrer oder „Fluchthelfer“, verhaftet und mehr als 300 Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen.

Die Befürworter des Gesetzes argumentieren, es kriminalisiere allein die „Schleuser“ und nicht deren Kunden. Eine Strafe für Letztere, die oft alles zurückgelassen haben, um Libyen, Algerien und schließlich Europa zu erreichen, ist es aber allemal. Wer nördlich der Linie Agadez–Dirkou – hunderte Kilometer von der algerischen beziehungsweise libyschen Grenze entfernt – aufgegriffen wird und seine nigrische Staatsangehörigkeit nicht nachweisen kann, wird als potenziell illegaler Migrant behandelt. Der bloße Verdacht reicht aus, um jemanden sofort oder nach kurzem Gefängnisaufenthalt in den Süden des Landes zurückzuschicken.

„Tatsächlich hat die Umsetzung des Gesetzes de facto zum Verbot jeder Reise nördlich von Agadez geführt“, sagt Felipe González Morales. Nach einem Besuch in Niger im Oktober 2018 stellte der UN-Berichterstatter für Menschenrechte von Migranten fest, dass „die fehlende Klarheit des Textes und seine repressive Umsetzung zur Kriminalisierung jeglicher Form der Migration geführt hat“. Anstatt sie zu schützen, zwinge das Gesetz die Migranten, sich zu verstecken. „Das macht sie noch verletzlicher für Missbrauch und Menschenrechtsverstöße.“

Für Europa ist diese Politik ein Erfolg. Doch um welchen Preis? Nach Angaben der Eucap ist die Zahl der Mi­gran­ten, die Italien erreichten, in drei Jahren um 85 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Ankömmlinge in Agadez soll von 2016 bis 2018 um mehr als zwei Drittel gesunken sein. In Séguédine, einem Wüstenort auf der Strecke zwischen Dirkou und der libyschen Grenze, sank die Zahl der registrierten Personen von 290.000 (2016) auf 33.000 Menschen (2017).

Neue, gefährlichere Routen

Trotz strenger Verbote haben die Fluchtbewegungen aber nicht aufgehört. Die Migranten verschwinden einfach vom Radar. Dadurch wird jede Zählung unzuverlässig. Nach Aussage eines Wissenschaftlers, der die Entwicklung der Fluchtrouten im Niger untersucht und anonym bleiben möchte, „hat es vor allem die kleinen Transportunternehmen getroffen. Die großen, die über Kontakte in die Politik verfügen und das Geld haben, die Sicherheitskräfte zu bestechen, machen weiter.“ In dem von Korruption zerfressenen Land genügen einige zehntausend CFA-Franc pro Migrant, um das Schweigen der Patrouillen zu erkaufen.

Zudem werden neue, gefährlichere Routen gewählt, um den Kontrollen zu entgehen. In Agadez gleichen die „Ghettos“, die großen Häuser, in denen die Migranten untergebracht und versorgt werden, immer häufiger Gefängnissen. Seit sie für illegal erklärt wurden, können die Migranten sie nicht mehr verlassen, ohne das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Die Preise für den Transport haben sich verdreifacht. Sobald die Polizei auftaucht, machen sich die Fluchthelfer aus dem Staub und lassen ihre Passagiere, darunter teilweise auch Kinder, mitten in der Wüste zurück.

Auch für die lokale Bevölkerung hat sich die Situation verschlechtert. Verschiedene Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Haushalte in Agadez von der Migration lebte: Fast 6.000 Menschen verdienten ihr Geld als Fluchthelfer, als Coxer (Mittelsmänner), als „Ghetto“-Besitzer oder Fahrer; tausende andere profitierten indirekt – sei es als Köchin, Händler oder Taxifahrer.

Mohamed Abdoul Kader war einer von ihnen. In seinem Viertel, nicht weit vom historischen Zentrum entfernt, nennt man ihn „Boss“. Kader ist 48 Jahre alt, in Agadez geboren und hat eine Weile in Libyen gelebt. Ende der 1990er Jahre fing er an, Migranten zu beherbergen. Das „Business“ kam langsam in Gang. Die Routen in Richtung Europa über Mali, Mauretanien und Marokko waren wegen der Tuareg-Rebellion nicht passierbar. Als einzige Alternative blieb die Reise durch den Niger.

Agadez, wo sich mehrere Handelsstraßen kreuzen, war schon immer ein Transitort – früher für Salz, Sklaven und Vieh. „2002 habe ich eine Reiseagentur gegründet“, erzählt Kader. „Wir hatten ein Büro am Bahnhof. Damals kamen die Migranten mit dem Bus an und fuhren auf Kippladern nach Dir­kou weiter. Von dort ging es mit Geländewagen Richtung Libyen.“

Ein kleines Vermögen

Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der Kunden und Kader erweiterte sein Geschäftsfeld; seine Mittelsmänner riefen ihn aus Nigeria, Ghana, Gambia, Burkina Faso und aus dem Senegal an. Er nahm die Ankömmlinge in Empfang und kümmerte sich bis zur Abreise um alles: Papiere, Unterkunft, Essen. „Wir arbeiteten wie eine ganz normale Reiseagentur. Wir mussten ein Vertrauensverhältnis zu den Kunden und den Vermittlern im Herkunftsland aufbauen, also auch dafür Sorge tragen, dass die Kunden wohlbehalten ans Ziel kamen, wenn wir weitere haben wollten“, erklärt er. Er weiß, dass sich das Bild des „Fluchthelfers“ mittlerweile sehr verändert hat.

Auch nach der EU-Wahl ist unklar, wie sich Europas Asylpolitik entwickelt. Auf dem Mittelmeer spielen sich derweil täglich neue Dramen ab. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet die taz ab dem 3. bis zum 24. Juni schwerpunktmäßig in Berichten, Reportagen, Interviews und Livestreams zu den globalen Flüchtlingszahlen, Protesten und Rettungen auf dem Mittelmeer, der Lage an den EU-Außengrenzen sowie zu den Asyl-Plänen von Innenminister Horst Seehofer. Die gesamte Berichterstattung finden Sie auf taz.de/flucht

Alles war genau geregelt: Wenn die Migranten den Stadtrand von Agadez erreichten, zahlten sie den Polizisten eine Gebühr. Am Bahnhof wurden sie von den Agenturen in Empfang genommen und in ihr „Ghetto“ gebracht. Wenn sie weiterzogen, zahlten sie beim Verlassen der Stadt wieder eine Gebühr – zugunsten der Gemeinde. 1.100 CFA-Franc (1,68 Euro) pro Person, ein kleines Vermögen. Teilweise lagen die Einnahmen der Stadt bei drei bis sieben Millionen CFA-Franc pro Woche, was die Finanzierung zahlreicher Projekte ermöglichte.

Die Regeln waren überall dieselben, die Preise auch: Um nach Libyen zu gelangen, musste man 150.000 CFA-Francs (etwa 230 Euro) zahlen. Das ist für die meisten Afrikaner viel Geld, für einen Nigrer ist es ein Vermögen. „Ich habe viel verdient“, gibt Mohamed Abdoul Kader zu. „15 Leute arbeiteten für mich. Jede Woche schickten wir 400 bis 450 Migranten nach Libyen. Jeder von uns verdiente fünf Millionen CFA-Franc in der Woche.“ Jeden Montag, wenn die Konvois aufbrachen, waren die Banken und Wechselstuben voll. Auf dem Markt herrschte Festlaune.

Bei der Abreise stellten die Agenturen für jeden Kunden ein Dokument mit Namen und Staatsangehörigkeit für die Polizei aus. Die Regierung ermunterte sogar ehemalige Tuareg- und Tubu-Rebellen, die nach 1990 zu den Waffen gegriffen hatten, in das Geschäft einzusteigen, um dem Krieg endgültig den Rücken zu kehren. „Sie hatten Fahrzeuge, sie hatten keine Arbeit und sie kannten die Straßen“, erzählt Mohamed Anako. Er war einst selbst ein Anführer der ersten Tuareg-Rebellion (1991–1995) und hat sich diesen Plan zur Reintegration in seiner Zeit als Leiter der HACP-Behörde ausgedacht: „Wir haben ihnen geholfen, ihre Autos anzumelden und sich registrieren zu lassen. Alles ganz legal. Dafür hielten sie uns auf dem Laufenden, was in der Wüste los war.“ Heute ist Anako Präsident des Regionalrats von Agadez.

Die Schwierigkeiten begannen nach dem Sturz Gaddafis 2011. Der libysche Staatschef hatte die europäischen Küsten zuverlässig abgeschirmt. Es war beinahe unmöglich, über das Mittelmeer zu gelangen. Dafür konnte man in Libyen bleiben: Arbeit gab es genug, und sie wurde gut bezahlt. „Nach Gaddafis Sturz öffneten sich die Tore nach Europa. Es war wie ein Sog und hier kamen immer mehr Migranten an“, erinnert sich Kader. Ihre Zahl soll sich in Agadez zwischen 2013 und 2016 vervierfacht haben. 2016 zählte die Polizei fast 70 „Ghettos“.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique, der großen Monatszeitung für internationale Politik. LMd gibt es jeden Monat neu gedruckt und digital sowie zum Anhören. Das komplette Inhaltsverzeichnis der neuesten Ausgabe kann man hier nachlesen: www.monde-diplomatique.de/zeitung.

„Es hätte eine Übergangsphase geben müssen“

Der Unternehmer Kader bekam Konkurrenz. Zahlreiche Nigrer, die in Libyen gelebt hatten, flohen vor Krieg und Chaos und stiegen in das Transportgeschäft mit Migranten ein. Aber die Neuen respektierten die Regeln der Alteingesessenen nicht. „Banditen ohne Glauben und Gesetz“, schimpft ein Mittelsmann. Sie hätten sich nicht gescheut, von den Migranten mitten in der Wüste Schutzgeld zu erpressen, sie beim ersten Problem im Stich zu lassen oder sie an libysche Milizen zu verkaufen, die sie erneut erpressten. Diese Verbrechen, zu denen noch der Schmuggel von Drogen, Tabak, und Waffen kam, zwangen die Behörden, zu reagieren und mit der EU zusammenzuarbeiten.

Wie das Haus von Kader steht auch das „Ghetto“ von Mohamed D. am Stadtrand von Agadez leer. Im Innenhof zeugen in die Wände eingeritzte Namen oder Telefonnummern noch von den früheren Kunden. „Ich habe nichts mehr“, schimpft der ehemalige Fluchthelfer. „Meine beiden Wagen wurden beschlagnahmt, und ich war sechs Monate im Gefängnis. Jetzt habe ich kein Einkommen mehr.“ Und wo ist das Geld, das er in der Zeit des Überflusses verdient hat? „Das habe ich aufgegessen; zusammen mit meiner ­Familie habe ich es aufgegessen.“

Die Frustration ist umso größer, weil das Gesetz ohne Vorankündigung kam. Niemand in Agadez war informiert, nicht mal die lokalen Volksvertreter. „Es war an einem Montag“, erinnert sich ein Fluchthelfer. „Der Konvoi mit Migranten wurden am Stadtrand von Agadez gestoppt. Wir dachten, es gäbe ein Sicherheitsproblem in der Wüste. Aber keineswegs. Die Fahrer wurden ins Gefängnis gesteckt und die Fahrzeuge beschlagnahmt. Erst danach haben sie uns das Gesetz erklärt.“

Mohamed Anako ist zwar nicht gegen das Verbot, er bedauert aber sehr, dass die Behörden die wirtschaftliche Situation der Region nicht berücksichtigt haben: „Es hätte eine Übergangsphase geben müssen. Die Projekte, die die EU finanziert, zeigen vielleicht irgendwann Wirkung, aber wie viele Jahre wird das dauern? Die Leute brauchen jetzt Arbeit und es gibt keine.“

In den 1980er Jahren kamen tausende Touristen aus Nordamerika und Europa nach Agadez, um die Wüste Ténéré, die Dünen von Bilma und das Aïr-Gebirge zu sehen. Damals lebte die Stadt im Rhythmus der Großraumflugzeuge, die auf dem internationalen Flughafen landeten. Aber nach der zweiten Tuareg-Rebellion 2007 stufte das französische Außenministerium die Stadt als rote Zone ein, von Reisen wurde „dringend abgeraten“. Die Besucher blieben weg. Auch der Uranabbau ist seitdem im Niedergang begriffen, wie die gesamte Industrie.

Über den Nothilfefonds finanziert die EU ein Programm zur Wiedereingliederung ehemaliger Fluchthelfer in Höhe von acht Millionen Euro. Doch der Name „Aktionsplan für rasche ökonomische Verbesserung in Agadez“ will nicht so recht passen. Jeder erfasste „ehemalige Dienstleister“ mit einem anerkannten Anspruch auf Wiedereingliederung soll eine Unterstützung von 1,5 Millionen CFA-Franc (2.290 Euro) erhalten.

Ehemalige Fluchthelfer jagen heute Migranten

Die Überprüfung gestaltet sich allerdings langwierig: Bisher wurden erst 400 von insgesamt 5.000 Anträgen geprüft. 1.500 wurden gar nicht erst angenommen, besonders die von „Ghetto“- und Fahrzeugbesitzern. Die EU stuft sie als ohnehin privilegiert, oder schlimmer, als kriminell ein. Tatsächlich haben sie verglichen mit dem Durchschnittseinkommen im Niger jahrelang gewaltige Summen verdient. Die Vertreter der Eucap-Mission im Niger mahnen, nicht zu vergessen, dass es „um Menschenhandel“ gehe: Diejenigen, die davon profitieren, täten dies auf Kosten anderer.

Natürlich gibt es unter den ehemaligen Fluchthelfern auch Kriminelle. Aber in den allermeisten Fällen war die Realität eine ganz andere: „Die Preise waren rechtlich korrekt. Sie haben so viel verdient, weil es so viel Nachfrage und so viele Kunden gab“, sagt der bereits zitierte Wissenschaftler. Das Problem sei nicht die vermeintliche schamlose Ausbeutung der Migranten, sondern die Verschlechterung der ökonomischen und politischen Situation in der Sahelzone.

Bachir Amma, einst Fluchthelfer, ist heute Vorsitzender des Komitees ehemaliger Migrationsdienstleister. 2016 hat er den Verein als Schnittstelle zwischen den Geldgebern, den Behörden und den Betroffenen gegründet. Sein Büro befindet sich in einer Loge des Stadions von Agadez, wo jeden Tag die Mannschaften des von ihm geleiteten Fußballklubs trainieren. Amma gibt zu, dass bei der Antragstellung Missbrauch getrieben wurde: „Einige Antragsteller hatten gar nichts mit der Migration zu tun. Dafür hatten sie Beziehungen, gehörten zur richtigen Familie.“

Die EU hat die lokale Ökonomie aus dem Gleichgewicht gebracht und für viel Frust gesorgt. „Man hat uns getäuscht“, beschwert sich Amma. „Man hatte uns schnelles Geld versprochen. 371 Projekte wurden finanziert. Aber aus unserer Sicht ist das keine Wiedereingliederung. Es ist einfach eine Nothilfe. Leuten, die früher fünf Millionen CFA-Franc in der Woche verdient haben, bietet man jetzt 1,5 Millionen an! Wie sollen sie das akzeptieren?!“

Wegen der gestiegenen Arbeitslosigkeit nimmt bereits das Bandenwesen zu: Wegelagerer errichten Straßensperren, um von Migranten Geld zu erpressen, ehemalige Fluchthelfer satteln wieder auf den lukrativen Drogenhandel um. Andere treten in den Dienst einer der zahlreichen bewaffneten Gruppen, die sich im Dreiländereck zwischen Niger, Tschad und Libyen aufs Plündern verlegt haben. 2016 brach eine Tubu-Rebellion in den Provinzen Kawar und Manga östlich von Agadez aus. Eine der Forderungen war die Rückgabe der im Rahmen des Gesetzes 2015-36 beschlagnahmten Fahrzeuge.

Quelle der Zwietracht

Agadez, das „Tor zur Wüste“ und ehemaliger Knotenpunkt der Migra­tion von Süd nach Nord, schickt sich derweil an, zum größten Transitort der Gegenrichtung zu werden. 2016 eröffnete die Internationale Organisa­tion für Migration (IOM) am nördlichen Stadtrand ein Aufnahmezentrum für Migranten, die aus Algerien und Li­byen ausgewiesen wurden.

2017 folgte ein Lager des UN-Flüchtlingskommissariats (­UNHCR) zwölf Kilometer südlich der Stadt. Dort sind 2.000 asylsuchende Sudaner untergebracht, die vor den katastrophalen Zuständen in Libyen geflohen waren. Ihre Aufnahme und Betreuung sorgte in Agadez für Spannungen. So beschwert sich Mohamed El-Hadi, ein ehemaliger Coxer: „Für die Migranten tut man viel, aber für uns, die wir unsere Arbeit verloren haben, nichts. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?“

Früher als Einnahmequelle mit offenen Armen empfangen, sind die Migranten zu einer Quelle der Zwietracht geworden. Es ist ein Teufelskreis: Das Gesetz hindert die Migranten daran, nach Libyen weiterzuziehen, gleichzeitig sind die Möglichkeiten begrenzt, in der Gegend um Agadez zu bleiben, weil die örtliche Bevölkerung den Vorwurf des Menschenschmuggels fürchtet, wenn sie ihnen hilft.

Mittlerweile jagen ehemalige Fluchthelfer Migranten im Auftrag der EU; ähnlich wie in Libyen, wo Europa kriminelle Milizen mit der Bewachung der Küste betraut. So wird die Verfolgung illegalisierter Flüchtlinge zu einer Einkommensquelle für diejenigen, die ihnen früher halfen.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

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