Aus Le Monde diplomatique: Gerangel bis zum Super-GAU
Die Ukraine hat das größte Atomkraftwerk Europas. Aber es ist abhängig von russischen Brennstäben. Und der Krieg rückt immer näher.
An manchen Wintermorgen sind die Betonwürfel des Atomkraftwerks Enerhodar von dichtem Nebel umhüllt, der vom Dnjepr aufsteigt. Enerhodar liegt in der Oblast Saporischschja, im Südosten der Ukraine. Busse mit braun verkrusteten Schneeresten bringen täglich die 11 000 Beschäftigten über schnurgeraden Straßen ins Herz des Kraftwerkskomplexes. „Wir sind die Energiehauptstadt der Ukraine“, erklärt Oleg Oscheka stolz. „Die 54 000 Einwohner sind sich bewusst, dass sie Millionen Haushalte mit Strom versorgen.“
Der stellvertretende Leiter des Kraftwerksinformationszentrums ist Anfang der 1980er Jahre hierhergezogen. Damals war die Stadt noch neu und die Sowjetunion schien felsenfest und ewig. Die ersten Wohnblocks wurden im Jahr 1970 hochgezogen, für die Arbeiter eines Wasserkraftwerks am Fluss. Zwei Jahre später begann der Bau des Atomkraftwerks Saporischschja AES. Neben Atomkraftwerken entstanden Modellstädte, die den Mitarbeitern ideale Wohn- und Lebensbedingungen bieten sollten. Die berühmteste dieser Modellstädte ist inzwischen von Pflanzen überwuchert: Prypjat im ukrainischen Norden, im Herzen der verbotenen Sperrzone 30 Kilometer um Tschernobyl.
Das Atomkraftwerk Saporischschja ist das größte Europas: Sechs Reaktorblöcke mit einer Kapazität von je 1 000 Megawatt. Die Stromproduktion sorgt für relativen Wohlstand in der Stadt, in der Besucher sich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlen. „Die UdSSR ist zusammengebrochen, aber die Lebensweisen in Enerhodar haben sich nicht groß geändert“, meint Oscheka.
Auch wenn an den Wohnblöcken der Putz bröckelt – die Stadt ist ein attraktiver Wohnort, wie man an den vollen Schulen sehen kann. „Hier gibt es immer heißes Wasser, Strom kostet weniger als anderswo, die Gehälter sind gut und wir leben in Sicherheit“, sagt der Bogdan Stryjow. Er hat hier in der Gegend studiert und wollte danach nach Kiew oder ins Ausland gehen. „Aber dann hat man mir hier einen Job angeboten, deshalb bin ich zurückgekommen und habe geheiratet.“
Dieser Artikel, übersetzt von Sabine Jainski, stammt aus der deutschen Ausgabe von „Le Monde diplomatique“. LMd ist die weltweit größte Monatszeitung für internationale Politik, sie liegt am zweiten Freitag im Monat der taz bei. Außerdem gibt es die Ausgabe separat am Kiosk und im Abo. Weiter zur aktuellen Ausgabe unter www.monde-diplomatique.de.
Propagandakrieg um Störfall
Die ehrgeizige Energiepolitik der UdSSR hat der Ukraine 15 Atomreaktoren hinterlassen, allesamt Druckwasserreaktoren vom Typ WWER. Das Kraftwerk Südukraine in Mykolajiw/Juschnoukrajinsk hat drei Reaktoren in Betrieb, in Chmelnyzkyj sind es zwei, in Riwne vier und in Saporischschja sechs. Der letzte der drei Reaktorblöcke von Tschernobyl, die bei der Atomkatastrophe von 1986 intakt geblieben waren, hat man im Dezember 2000 endgültig abgeschaltet.
Im riesigen Turbinensaal von Block 1 in Saporischschja laufen die Maschinen seit nunmehr 30 Jahren. „Bei den Sicherheitstests schneidet Block 1 immer sehr gut ab“, berichtet Kraftwerksdirektor Wjatscheslaw Tischtschenko. „Alle zehn Jahre entscheidet die staatliche Atomregulierungsinspektion über die Verlängerung der Laufzeit. Wenn man sich die aktuellen Ergebnisse anschaut, dann können wir damit rechnen, dass die Reaktoren noch 60 Jahre genutzt werden können.“ Für die meisten Reaktoren wurde bereits eine Laufzeitverlängerung von 10 bis 20 Jahren bewilligt. Allerdings kam das AKW Saporischschja Anfang Dezember 2014 in die internationalen Schlagzeilen, als der ukrainische Regierungschef Jazenjuk bei einer Pressekonferenz über einen Störfall in Block 3 informierte. Am 28. November war es in einem Transformator zu einem Kurzschluss gekommen.
Da zu keinem Zeitpunkt ein Risiko atomarer Verseuchung bestanden haben soll, wurde der Störfall auf Stufe 0 – der niedrigsten von sieben Stufen – der Internationalen Bewertungsskala eingeordnet. Deshalb spricht Tischtschenko von einem „völlig unbegründeten Medienrummel“ und schimpft: „Die meisten Leute, die über Atomkraft reden, haben keine Ahnung – oder sie haben böswillige Absichten.“
Der Verdacht bezieht sich auf den Propagandakrieg, der seit Monaten zwischen der Ukraine und Russland tobt. Am 30. Dezember behauptete der kremlnahe Fernsehsender LifeNews, man habe in der Nähe des AKWs Strahlungswerte gemessen, die fast das 17-Fache des erlaubten Höchstwerts betragen. Mit solchen Meldungen sollte das Risiko radioaktiver Verseuchung mit den Lieferungen von Kernbrennstäben aus dem US-Unternehmen Westinghouse Electric in Verbindung gebracht werden.
Glücksfall Westinghouse
Seit 2008 bemüht sich Westinghouse, inzwischen zum japanischen Toshiba-Konzern gehörend, seine Brennelemente an die WWER-Reaktoren anzupassen. Damit will man das Monopol des russischen Staatsbetriebs Rosatom und dessen Tochter TWEL brechen, die noch immer die Atomkraftwerke der Ukraine und mehrerer EU-Staaten beliefern. Die russischen Unternehmen sind eng mit der ukrainischen Atomwirtschaft verflochten. Jährlich zahlt die Ukraine zudem 200 Millionen Dollar an Russland, um dort ihre abgebrannten Brennstäbe zu lagern; eine eigene Lagerstätte soll bis 2017 in der Region Tschernobyl errichtet werden.
Mike Kinst, Vizedirektor für Auslandsbeziehungen von Westinghouse Europe, sieht das so: „Unsere Brennelemente sind letzten Herbst von der Atomregulierungsinspektion zugelassen worden. Es ist ganz normal, wenn ein AKW mehrere Brennstofflieferanten hat. Die Lieferanten sollen miteinander konkurrieren, aber der Nachschub sollte auch gesichert sein.“ Im Hinblick auf die politische Lage seien die Lieferungen aus Russland für die Ukraine womöglich nicht garantiert. Umgekehrt hält er die Warnung des russischen Vizepremiers Rogosin für unbegründet. Der hatte im April 2014 erklärt, die Ukraine hätte „nichts aus dem Unfall von Tschernobyl gelernt“, falls sie die amerikanischen Brennelemente verwenden.
2011 hatte das ukrainische Staatsunternehmen EnergoAtom die Versuche mit westlichen Brennstäben als „erfolglos“ bezeichnet, damals mussten zwei Reaktoren heruntergefahren werden. Die Russen verwiesen zur Warnung auf weitere Störfälle, etwa in der Tschechischen Republik. Dennoch unterzeichneten Westinghouse und EnergoAtom am 30. Dezember 2014 einen Vertrag über Lieferungen von Brennstäben bis 2020.
Die genauen Bestimmungen blieben geheim, doch nach Auskunft von Kinst müsste Westinghouse „drei oder vier Reaktoren“ beliefern, damit sich das Geschäft rentiert. Sein Unternehmen hat als einziges weltweit seit Beginn der 1990er Jahre in die Entwicklung eines Brennstoffs investiert, der mit den WWER-Reaktoren kompatibel ist; Letztere waren bis dahin komplett vom russischen Brennelementehersteller TWEL abhängig.
Für Westinghouse war die neue ukrainische Regierung ein Glücksfall, meint der Kiewer Energieexperte Michail Gontschar: „Seit Jahren versucht die Ukraine, ihre Energiequellen zu diversifizieren. Uns ist sehr wohl klar, dass Präsident Putin den großen russischen Unternehmen die strategische Linie vorgibt. Im Augenblick erfüllt TWEL seine Verpflichtungen, und unsere Brennstoffreserven reichen noch bis Oktober, aber wer weiß schon, wie der Konflikt zwischen den beiden Ländern weitergeht?“
Probleme mit der Energieversorgung
Seit der Annexion der Krim im März 2014 und dem Beginn der Kämpfe im Donbass hat Kiew mit der Energieversorgung erhebliche Probleme. Denn von den Kohlebergwerken im Osten, die früher die Wärmekraftwerke belieferten, ist man abgeschnitten. Der russische Energieriese Gazprom droht regelmäßig mit einem Stopp der Gaslieferungen, sollte Kiew die ausstehenden Schulden nicht begleichen. Deshalb hat Präsident Poroschenko im September 2014 die „Strategie 2020“ vorgestellt, wonach künftig Wasserkraftwerke, erneuerbare Energien und vor allem die Atomenergie gefördert werden soll. Schon 2014 hat die Ukraine über 50 Prozent ihres Stroms in AKWs hergestellt (2013 nur 43 Prozent).
Um die Binnennachfrage zu befriedigen, musste die Ukraine bereits ihre Stromexporte in die Republik Moldau und nach Weißrussland drosseln. „Nach der Atomkatastrophe von Fukushima haben Euratom und die Europäische Bank für Wiederaufbau einen 600-Millionen-Kredit zur Renovierung der Kernkraftwerke bewilligt“, berichtet Olga Kocharna vom Ukrainischen Atomforum. Dabei gäbe es Alternativen. „Wir sind immer noch in der Energiepolitik aus den Zeiten der Sowjetunion gefangen“, sagt Olexi Pasyuk von der NGO Ökologisches Zentrum der Ukraine, „nicht ein Cent wurde investiert, um die Energieeffizienz zu verbessern.“
Die Kapazität des Leitungsnetzes reicht immer noch nicht aus, um den gesamten in den ukrainischen Reaktoren produzierten Strom zu transportieren. Deshalb produziert das AKW Saporischschja unterhalb seiner Möglichkeiten, und die beiden neuesten, 2004 fertiggestellten Reaktorblöcke in Riwne und Chmelnyzkyj laufen seit zehn Jahren nur alternierend. Auf diese Weise gehen jedes Jahr angeblich 1 700 Megawatt verloren.
Pasyuk hält die Energieunabhängigkeit, die man sich von der Atomenergie verspricht, für eine Illusion: „Wir importieren heute Brennelemente im Wert von 600 Millionen Dollar aus Russland, und Westinghouse wird niemals in der Lage sein, diese Lieferungen vollständig zu ersetzen.“ Im AKW Saporischschja behauptet Direktor Tischtschchenko, über die Brennstäbe von Westinghouse gar nichts zu wissen. Und bei Rosatom sagt Alexander Merten, Chef von Rosatom International Network, eine Unterbrechung der Zusammenarbeit mit EnergoAtom komme überhaupt nicht infrage: „Die Lebensdauer eines Nuklearvertrags beträgt wenigstens ein Jahrhundert: Hier kann man keine Entscheidungen je nach politischer Lage treffen. Unsere oberste Priorität ist die Atomsicherheit.“
Die Oligarchen mischen mit
Rosatom hat allerdings durch den russisch-ukrainischen Konflikt bereits Schaden genommen. Die ukrainische Regierung hat den Konzern im Juli 2014 aus dem gemeinsamen Bauprojekt für die Reaktorblöcke 3 und 4 in Chmelnyzkyj hinausgedrängt. Die Blöcke sollen jetzt von westlichen Firmen errichtet werden. Auch der Bau der Brennelementefabrik in Smoline in der Oblast Kirowohrad, der 2012 begonnen worden war und mit einem Volumen von über 500 Millionen Dollar das wichtigste ukrainisch-russische Investitionsvorhaben darstellte, wurde gestoppt.
Inzwischen ist Kiew zudem bereit, 40 Prozent des Staatsbetriebs EnergoAtom einem ausländischen, sprich: westlichen Investor zu überlassen. Für Rosatom droht eine weitere Gefahr: Das Europäische Parlament verabschiedete am 15. Januar eine Resolution, in der angedroht wird, die Sanktionen gegen Russland auf den Atomsektor auszuweiten. Eine derartige Verschärfung der Sanktionen hätte auch Folgen für die Kraftwerke in Bulgarien, in Finnland, in Tschechien und in Ungarn.
„Die Atomlobby in der Ukraine kann sich jedenfalls über den Sturz des Janukowitsch-Regimes freuen“, meint Olga Kocharna. Vor der Flucht des damaligen Präsidenten am 22. Februar 2014 kontrollierte der reichste Oligarch des Landes, Rinat Achmetow, noch einen Großteil des ukrainischen Energiemarkts. Zu seiner Holding DTEK gehörten Kohlegruben im Donbass, aber auch 80 Prozent der Wärmekraftwerke des Landes.
Laut Olga Kocharna musste der Staat für konventionelle Energie dreimal so viel bezahlen wie für Atomenergie, was Achmetow satte zusätzliche Profite bescherte. Dagegen machte EnergoAtom während der vierjährigen Amtszeit von Janukowitsch Verluste von mehreren hundert Millionen Dollar. Die Schulden des Konzerns entsprechen nach dessen eigenen Angaben etwa einem Drittel der Jahresproduktion sämtlicher Reaktoren.
Der Krieg rückt näher
Doch im ukrainischen Energiesektor sind die Karten noch lange nicht endgültig neu verteilt. Auch Achmetow hat bestimmt noch nicht sein letztes Wort gesprochen: Er mischt weiterhin im Donbass mit, und welche Beziehungen er zu den Separatisten unterhält, ist keineswegs klar. In Saporischschja verfolgt man mit Bangen, was sich an der 200 Kilometer weiter östlich verlaufenden Front tut.
„Die Befürworter der Atomenergie gehen immer davon aus, dass der schlimmste Fall nie eintreten wird – aber wer hätte sich einen Krieg mit Russland vorstellen können?“, fragt Olexi Pasyuk. „Ein Kernkraftwerk ist auf Energieversorgung von außen angewiesen. Wenn Sie es vom Netz nehmen und die Sicherheitsgeneratoren versagen, gerät das Kühlsystem außer Kontrolle, und der Reaktorkern überhitzt. Da braucht es keinen Tsunami, es reicht ein militärischer Konflikt in der Nähe.“
An der Ortseinfahrt von Enerhodar gibt es nur einen einzigen Checkpoint der ukrainischen Armee. Dabei werden die Gefechte in der Gegend immer häufiger. Am 21. Januar wurde etwa 100 Kilometer südöstlich von Saporischschja eine Eisenbahnbrücke in die Luft gejagt, dabei wurde ein Güterzug zerstört. Im vergangenen April versuchten 40 bewaffnete Männer, die sich als Kämpfer der ultranationalistischen Organisation „Rechter Sektor“ vorstellten, in den Kraftwerkskomplex einzudringen, um ihn „gegen die Angriffe von Separatisten zu verteidigen“. Dennoch macht sich der Direktor des Kraftwerks über den nahen Krieg offenbar keine allzu großen Sorgen.
Letzten Endes ist es nicht so einfach, die technischen Probleme und die politischen Entwicklungen auseinanderzuhalten. Nach der Orangen Revolution hatte Präsident Juschtschenko auf Energieunabhängigkeit und Sicherheit gesetzt und arbeitete eng mit Westinghouse zusammen. Sein Nachfolger Janukowitsch verwies dagegen auf das Problem der nicht kompatiblen Brennstäbe, und trieb wieder die Zusammenarbeit mit Rosatom voran. Heute verlässt sich die Regierung in Kiew ganz auf westliche Technologien. Aber Atomkraftwerke haben eben eine wesentlich längere Lebensdauer als Regierungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen