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Auftakt vom Kunstfest WeimarBarfuß zum Konzert

Am schönsten war eine Lesung von Peter Weiss am Beginn des Kunstfestes in Weimar. Hart dagegen ein Theaterstück von Oliver Frljić.

Thomas Thieme begann im Steinbruch mit der Lesung aus „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss Foto: Candy Welz

Arthur Thieme bringt den Fels zum Klingen. Er wirft Steine gegen die glatten, kantigen Wände im Steinbruch Ehringsdorf und schlägt mit Klöppeln zuerst und später mit einem großen Hammer auf die Brocken am Grund. So unterlegt er, der Pianist ist, mit Rhythmen und Geräuschen von der Arbeit am Stein die Lesung von Thomas Thieme, seinem Vater.

Der, in Weimar geboren und nicht nur dort ein Theaterstar, beginnt mit dem ersten Kapitel aus „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss. Entwirft mit dessen kunstvoll gebauten Sätzen ein Bild vom Pergamonaltar und das von drei jungen Leuten, die über die steinernen Bilder diskutieren.

Disteln und Rohrkolben stehen hoch neben dem Lesenden, Wolken ziehen über den Himmel, dann zeichnet die Sonne mit scharfen Schatten die Wände des Steinbruchs nach. Und doch ziehen die Sätze, die Thomas Thieme an einem kleinen Tisch sitzend nicht nur liest, sondern auch mit dem tiefen Ernst der Diskutierenden und ihrer existenziellen Not spielt, die Zuhörer immer mehr in eine Berliner Küche im Jahr 1937.

Hunger nach politischen Visionen

Wo der Erzähler und seine zwei Freunde in der Literatur und der Kunst nach etwas suchen, das ihrem Hunger nach politischen Visionen, nach Veränderungen entgegenkommt. Und immer auch Zweifel haben, ob etwas, was unter Verhältnissen von Ausbeutung geschaffen worden ist, denn überhaupt als Schönheit wahrgenommen werden darf. Sie sind Intellektuelle und sie sind junge Kommunisten, die schwer daran tragen, dass ihr eigentliches Subjekt der Revolution, die Arbeiterschaft, der Hakenkreuzfahne nachrennt.

Die Lesung, aus Anlass des 100. Geburtstags von Peter Weiss im November 2016, war die erste von sieben, die das Kunstfest Weimar zusammen mit dem Deutschen Nationaltheater organisiert hat. Jede findet an einem anderen Ort statt. Wer im Steinbruch am Sonntag erlebte, wie sich in gut zwei Stunden zwischen der Kulisse und der Erzählung von Peter Weiss Räume auftaten, dem Denken, Empfinden und Kämpfen der jungen Protagonisten nachzuspüren, wird gerne zu weiteren Kapiteln gehen. Die Lesereihe ist sicher ein Höhepunkt des Kunstfests Weimar.

Die Inszenierung Unsere Gewalt und eure Gewalt packt einen bei den Ge­fühlen, beim Mitleid

Das Festival eröffnete mit einem großartigen Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie, „Un/Ruhe“, die Werke von Richard Wagner, Alban Berg und – am aufregendsten – der zeitgenössischen Komponistin Rebecca Saunders spielten, szenisch teils begleitet von Tänzern von Sasha Waltz & Guests in einer Choreografie von Antonio Ruz. Am Anfang zogen die über hundert teilnehmenden Künstler, viele der Musiker sehr jung, auf dem Platz vor der Weimarhalle ihre Schuhe aus und liefen barfuß in den Konzertsaal. Tatsächlich hielt sich die Anmutung einer auch körperlich erfahrbaren Musik.

Hufgetrappel und Stadtbilderklärer

Der Stadtplan von Weimar passt auf ein DIN-A4-Blatt. In der Altstadt hört man mehr Hufgetrappel von Kutschen für Touristen als Autolärm. Geführte Reisegruppen an jeder Ecke. Der Tourismus scheint ein Selbstläufer in dieser Stadt mit ihren vielen Museen und Gedenkstätten für die Dichter der Klassik. Dass internationale und zeitgenössische Kunst mit dem Kunstfest Weimar hier reinzutragen ein sinnvoller Ansatz ist, bestreitet niemand laut.

Kunstfest Weimar

Kunstfest Weimar, bis 4. September, Programm unter www.kunstfest-weimar.de

Dennoch wurde im April bekannt, dass die Stadtverwaltung unsicher ist, ihren Anteil an der Finanzierung von 250.000 Euro halten zu können. Fällt das Geld der Stadt Weimar weg, droht auch die Förderung des Landes Thüringen von 650.000 Euro zu kippen. Die Entscheidung, ob Weimar das Festival über 2019 hinaus weiter fördert, wurde auf den Herbst verschoben.

Unterschriftenlisten

Und so weist Christian Holtzhauer, seit drei Jahren Intendant des Kunstfests, in jeder Rede am Eröffnungswochenende auf die Unterschriftenlisten zum Erhalt des Festivals hin. Sie liegen auch am Theaterplatz aus. Und während die einen brav ihre Unterschrift leisten, tanzten andere um das mit riesigen chinesischen Plastikblumen geschmückte Denkmal von Goethe und Schiller, angeführt von älteren, stäbchenklappernden Damen aus China. Bald machten Kinder, junge Frauen und ältere Damen aus Weimar mit.

„Republic of Dance“ auf dem Theaterplatz in Weimar Foto: Candy Welz

Das war Teil des Projekts „Republic of Dance“ des Künstlerduos Xiao Ke & Zi Han aus Shanghai. Die erzählten einen Tag später auf der Studio-Bühne im Nationaltheater in einer witzigen Performance, wie sie auf ihren internationalen Tourneen oft nach dem zeitgenössischen Tanz in China gefragt werden. Und sie finden die Antwort nicht in einem bestimmten ästhetischen Stil, sondern da, wo Retro und Moderne, Volkstanz und Kunst, Standard und Disko zusammentreffen, im „Plaza Dancing“ auf öffentlichen Plätzen, Abend für Abend von Millionen Chinesen betrieben.

Zwei Protagonistinnen dieser Szene, Sun Changfang, 1944, und Feng Huijin, 1960 geboren, stehen mit auf der Bühne und bestätigen mit ihren Biografien die These, dass das Tanzen draußen, kollektiv und oft gemütlich, verlorene Nachbarschaften und andere Plattformen der Gemeinsamkeit ersetzt, die mit der Modernisierung, radikalen Eingriffen in den Stadtraum, verloren gingen.

Freiräume suchen

Es ist toll, wie sich hier beiläufig, aus Details des Alltags und Erinnerungen des Körpers langsam ein historisches Panorama zusammensetzt. So marschierten wir zur Kulturrevolution, so tanzten wir zu diesem Schlager, so durften wir nicht tanzen – Normierungen, Verbote und die Suche nach Freiräumen, das alles wird allmählich im Plaza Dancing sichtbar.

„Republic of Dance“ war ein federleichtes Kunstformat. Dagegen war der erste große Theaterabend „Naše nasilje i vaše nasilje – Unsere Gewalt und eure Gewalt“ von Oliver Frljić ein beklemmendes, den Zuschauer bedrängendes Schwergewicht. Die Aufführung im E-Werk wurde von einführenden Worten durch Christian Holtzhauer und einem Nachgespräch (mit der taz-Kollegin Doris Akrap) gerahmt, als halte manFrljić’Kunst nur diskursiv abgefedert für zumutbar. Tatsächlich arbeitet die Inszenierung mit sehr emotionalen und bedrückenden Bildern, von Hinrichtungen etwa und Vergewaltigungen, und mit Thesen, die Europa die Verantwortung für den Terrorismus zuschreiben.

„Unsere Gewalt und eure Gewalt“ ist eine Auftragsarbeit des HAU, Hebbel am Ufer in Berlin, für eine Peter-Weiss-Reihe. Koproduzenten sind die Wiener Festwochen, wo die Uraufführung zu sehen war, Theater aus Ljubljana in Slowenien und Rijeka in Kroatien, deren Schauspieler mit Frljić das Stück erarbeitet haben, und das Kunstfest Weimar. Ein Partner, das Zürcher Theater Spektakel, ist wieder abgesprungen.

Jeder ein Täter

Oliver Frljić, 1976 in Bosnien geboren und nach Kroatien geflohen, war dort zwei Jahre lang Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka, bis er als Staatsfeind angegriffen wurde. Seine Inszenierung packt einen bei den Gefühlen, beim Mitleid, um einen dann in eine Ecke zu drängen, die inhaltlich fragwürdig ist. Die Schauspieler, die anfangs behaupten, keine Schauspieler zu sein, sondern gecastete Migrantenkinder aus Exjugoslawien, beherrschen ihr Handwerk gut, man würde ihnen jederzeit eine Passionsgeschichte abkaufen.

Die Fiktion von Dokumentartheater, mit der Frjlić hier spielt, trägt dazu bei, dass man die ausgesprochenen Sätze – die etwa eine grundsätzliche Feindschaft zwischen „dem Westen“ und der „arabischen Welt“ behaupten –, als ­Botschaften des Stücks empfängt und weniger als die ­Haltungen von dargestellten Figuren.

Dabei spielen die Schauspieler doch fast alle Henker und Opfer und verwandeln sich nahtlos vom einem ins andere, gekleidet in orangefarbene Overalls. Sie sind IS-Terroristen und Flüchtlinge in Europa und eine Gesellschaft von Europäern, die Integration in einem qualvollen, demütigenden Spiel einfordert. Das ist die Szene, die mir am meisten an die Nieren ging.

Scham und Schuld

Trauermusik grundiert die Inszenierung, und eigentlich kann man sich hinterher auch gleich umbringen, aus Scham und aus Schuld, als weißer Europäer, so eng wird der Kausalzusammenhang zwischen den Eroberungskriegen der Kolonialzeit, den Irakkriegen und der Gegenwart des islamistischen Terrors geknüpft. Sind wir nicht alle für diesen Hass verantwortlich, weil wir vom Kapitalismus der Vergangenheit und der Gegenwart profitieren?

Kein Wunder, dass man sich unter diesen Anklagen im Theatersessel allmählich versteift und immer mehr in Abwehrhaltung zu diesem Stück geht. Da kann der Regisseur Oliver Frljić im Nachgespräch noch so sehr beteuern, niemanden angreifen zu wollen und sich doch selbst zu dem schuldvollen Wir zu zählen, als das er Europa schildert.

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1 Kommentar

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  • Vermutlich fordert unsere "Gesellschaft von Europäern" Integration ja nicht deswegen "in einem qualvollen, demütigenden Spiel ein", weil sie ausschließlich oder auch nur überwiegend aus schlechten Menschen besteht. Sie hat einfach nichts anders gelernt. Sie selber wurde jenen Regeln unterworfen, die sie nun praktiziert, nur etwas strikter. Sie traut sich einfach nicht die Stärke und/oder die Kreativität zu, ganz neu anzufangen. Weil man sie klein gemacht hat und noch immer macht in der Hoffnung auf ein gefühl der Sicherheit, das es für mündige Menschen gar nicht geben kann.

     

    Diese Erkenntnis mag "an die Nieren" gehen. Sie ist allerdings kein Grund, "sich hinterher [...] gleich umbringen", aus Scham oder aus Schuld. Im Gegenteil. Wenn wir uns nicht selbst frei machen von unserer düsteren Vergangenheit, von Angst und Mutlosigkeit und von der Gier, dem Neid, die daraus resultieren, dann wird es niemand tun für uns. Dann bleiben wir auf alle Zeit verdammt, als Zombies durch die Welt zu stolpern und andere Menschen bis zur Weißglut zu dominieren. Dann erst müssten wir uns schämen, finde ich.

     

    So weit, allerdings, ist es noch nicht. Im Gegensatz zum Gestern ist das Morgen noch nicht festgelegt. Morgen kann noch alles sein. Wir müssen es nur wirklich wollen. Ich finde, dass wir uns unsere Angst endlich und Unsicherheit vergeben sollten. Wer sollte es sonst tun? Dann können wir auch lernen, damit umzugehen, zu leben – und leben zu lassen.