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Aufregung über Elend am Bahnhof AltonaErscheinungen der Großstadt

CDU und SPD finden öffentliches Urinieren und Alkoholismus am Bahnhof Altona „unerträglich“. Vielleicht würde es helfen, Toiletten aufzustellen.

Zieht auch Trinker*innen und Obdachlose an: Bahnhof Altona Foto: dpa

D ie „Situation am Altonaer Bahnhof“ war vor Kurzem ein Thema der Bezirksversammlung in Hamburg-Altona. Sie ist, so heißt es in einem Antrag von CDU und SPD: „unerträglich“. Ich nutze diesen Bahnhof ständig, er ist sozusagen „mein Bahnhof“. Eine Alternative ist der Bahnhof Holstenstraße. Aber wenn sich die Bezirksversammlung Altona mit diesem Bahnhof befasste, käme sie mit ziemlicher Sicherheit zum Ergebnis, dass auch die Situation am Bahnhof Holstenstraße „unerträglich“ ist.

Der Altonaer Bahnhof ist immer voller Menschen, es ist ja ein Fern- und ein Nahverkehrsbahnhof. In den Bus kann man auch umsteigen, und dann beginnt hier gleich auch das Einkaufs- und Amüsierviertel Ottensen. Auf der anderen Seite ist Ikea. Da lohnt sich das Ertragen des Unerträglichen vielleicht.

Wie ist nun die Situation und was ist mit „Situation“ gemeint? Es sind die Menschen, die dort „herumlungern“, eine Dose in der Hand, ­unrasiert, ungewaschen, manchmal schreien sie sich an. Menschen, die nicht eigentlich irgendwo hinwollen, wie die meisten anderen auf ­Bahnhöfen, sondern dort sein wollen. Sie stehen, sitzen, liegen herum. Sie unterhalten sich. Manchmal machen sie sich an, werden laut, schlagen sich.

Der Durchgang zur Großen Bergstraße stinkt. Ich habe es erlebt, dass eine Frau an einem Vormittag die Hose herunterließ und die Treppenstufen von der Bahnhofsseite her herunterpinkelte. Schön ist das nicht. Verstört hat es mich auch nicht. Ich wohne seit 26 Jahren in Hamburg, und öffentliches Pinkeln widert mich immer noch an, aber es verstört mich nicht. Gewalt verstört mich. Pinkeln nicht.

Leider können manche Menschen einfach nicht glücklich und gesund sein
Bild: Lou Probsthayn
Katrin Seddig

ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Sicherheitszone“ ist am 18. August bei Rowohlt Berlin erschienen.

Lieber wäre mir natürlich schon, ich könnte durch frisch duftende Straßen wandeln, in denen alle Menschen glücklich und gesund wären. Leider können manche Menschen einfach nicht glücklich und gesund sein. Das ist das Problem. Damit müsste man sich befassen.

Man kann den Durchgang säubern und die Leute täglich verjagen, aber dann sind sie ja immer noch in der Welt. Dann sind sie dadurch nicht glücklicher und gesünder geworden. Dann kaufen sie immer noch Bier und pinkeln irgendwo hin. Denn wenn man so ein Mensch ist, in so einer Lebenssituation, dann muss man genauso pinkeln wie ich und du. Man hat nur vielleicht andere Möglichkeiten und andere Prioritäten.

Nehmen wir die Frau, die die Treppenstufen hinuntergepinkelt hat. Ich habe mich auch schon in sehr dringenden Situationen befunden, aber meine Scham hat mich zurückgehalten und mich andere Wege finden lassen. Ich spreche, zum Beispiel, höflich, und mit einem Geldstück in der Hand, in einem Restaurant vor. Und im Bahnhof Altona gibt es eine (kostenpflichtige) Toilette.

Aber besagte Frau hat aus irgendwelchen Gründen keine Scham empfunden, vielleicht war sie betrunken, vielleicht war ihr alles egal. Vielleicht lebt sie nicht mehr in dieser von diversen Verhaltensregeln bestimmten Welt, in der nur akzeptiert wird, wer diese Regeln einhält. Vielleicht ist sie da lange schon ausgetreten. Vielleicht zeigt sie dieser Welt jetzt manchmal einfach ihren nackten Arsch. Alles Spekulation. Aber wie soll man das Problem lösen? Oder ist das Problem überhaupt das Problem, das wir lösen sollten?

Im NDR-Bericht heißt es: „Viele Familien weigerten sich inzwischen, den Tunnel von der Großen Bergstraße ins Bahnhofsuntergeschoss zu nutzen, weil dort uriniert würde und es zu Handgreiflichkeiten zwischen Obdachlosen komme.“ Die Familien also, will heißen – die Kinder! Meine Kinder waren einst mit ihrem Kinderladenerziehern in einem weniger angesagten Stadtteil täglich auf einem Spielplatz, der dem Bahnhofsuntergeschoss Altona ähnelte. Dort wohnte eine Zeitlang ein Obdachloser auf einer Bank. Die Kinder erzählten mir (und das ist ein Zitat): „Das is’ ’ne arme Sau. Morgen bringen wir ihm Stullen mit.“

Was ich sagen will: Vielleicht sollte man Toiletten aufstellen. Vielleicht würde es nichts nützen. Ganze Familien allerdings sollten sich deshalb nicht in die Hose machen. Ganze Familien sollten sich an die Großstadt gewöhnen, die allerdings manchmal stinkt.

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2 Kommentare

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  • Dies ist mein erster Kommentar bei der TAZ, welche ich insgesamt sehr schätze. Ein wahres "Kleinod" in teils beängstigenden Zeiten...



    Ich bedanke mich bei der TAZ auch dafür, dass Sie mich duldet, obwohl ich (noch) nicht bezahle! Vielen Dank dafür!



    Zum Kommentar von Frau Sedding: Selten habe ich in der jüngeren Vergangenheit einen Onlinekommentar lesen dürfen, welcher mich in seiner unmissverständlichen Deutlichkeit im Bezug auf die erschreckend zunehmende "Entmenschlichung", welche überall auf der Welt, und eben auch in deren "Tor", aktuell extrem beschleunigt, Einzug hält, beeindruckt hat. Knapp, bildhaft und prägnant! Am Altonaer Bahnhof fand seit jeher und eben auch aktuell "LEBEN" (!) statt. Leben, wie es ist, immer war und auch immer sein wird! Reich, arm, jung, alt, hässlich, schön, fit, versifft...und dies alles in friedlicher Koexistenz. Wer "Glamour" sucht, sollte eben nicht in der Altonaer Fußgängerzone "flanieren", sondern evtl.. besser zu Hause bleiben und sich statt dessen z.Bsp. Heidi Klum's GNTM, oder Ähnliches verabreichen. Allerdings vermute ich, dass sich weniger die Bürger daran stören, sondern bestimmte politische und andere behördliche Instanzen...

    • @Telligraph:

      Ich finde den Kommentar auch wunderschön. Vor allem: Durch den Tunnel bin ich vor 35 Jahren zur Schule geradelt. War damals auch nicht anders. Eine Großstadt zieht nun mal auch solche Leute an, auch weil viele davon hoffen dass sie dort die Chance haben das es ihnen besser gehen wird.