Auflösung des tunesischen Parlaments: Vom Westen vergessen

Tunesien galt als demokratische Hoffnung der arabischen Welt. Jetzt kümmert uns nicht, dass dort ein Despot dem Parlament die Macht entreißt.

Menschen mit den Nationalflaggen Tunesiens demonstrieren auf der Straße

Demonstration gegen die Regierungsübernahme durch den Präsidenten Kais Saied, März 2022 Foto: Zoubeir Souissi/reuters

Viel ist dieser Tage zu lesen vom Kampf zwischen autokratischen und demokratischen Systemen, der auch im Ukrainekrieg ausgefochten wird. Europa schickt Waffen und Sympathie ins östliche demokratische Nachbarland, sanktioniert den Autokraten Wladimir Putin und fürchtet den Schulterschluss zwischen Russland und China.

Derweil hat man die Ereignisse im Süden aus den Augen verloren. Dass die arabische Welt von Despoten regiert wird, gehört anscheinend zu den festen Gegebenheiten dieser Welt. Geschäfte mit arabischen Autokraten laufen unter „Realpolitik“. Man fragt nicht nach, wenn Menschen in Saudi-Arabien in Massen exekutiert oder in Ägypten verhaftet werden.

Selbst dort, wo sich tatsächlich etwas verändert hat, interessiert uns das nicht mehr. Etwa in Tunesien, vor einem Jahrzehnt gefeiert als einziges positives Ergebnis des Arabischen Frühlings, mit all den Schwierigkeiten, die mit diesem demokratischen Experiment einhergingen. Dort demontiert Präsident Kais Saied nun kontinuierlich alle demokratischen Errungenschaften. Letzten Sommer hob er die Gewaltenteilung auf, indem er das Parlament suspendierte. Seitdem regiert er im Alleingang.

Nachdem es über die Hälfte der Abgeordneten am Mittwoch gewagt hatte, ihm die Stirn zu bieten und sich online zu treffen, um den von Said verkündeten Ausnahmezustand für nichtig zu erklären, löste der Präsident das Parlament jetzt endgültig auf. Er droht, die Abgeordneten wegen „Verschwörung gegen die Staatssicherheit“ vor Gericht zu stellen. Unterstützt wird er von Ländern wie den Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien, die jegliche demokratische Veränderung in der arabischen Welt verhindern wollen, vergessen wird das Land von Europa.

Tunesien, einst die einzige demokratische Insel im arabisch-autokratischen Meer, droht unterzugehen. Das schlägt ein paar kleinere Wellen. Wenn die in Europa ankommen, werden wir sie nicht spüren. Wir sind zu beschäftigt, unsere demokratischen westlichen Werte in Richtung Osten hochzuhalten.

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Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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