Die Bibliothek in den USA und Kanada: Auf der Grenze
Seit 100 Jahren steht die Bibliothek Haskell in Kanada und den USA. Lange konnte man ohne Kontrollen rein und raus – bis Trump auf sie aufmerksam wurde.
E in etwas abgewetzter Streifen Klebeband auf dem Holzfußboden, mehr ist in der „Haskell Free Library & Opera House“ nicht zu sehen von der Staatsgrenze. Seit über 100 Jahren steht die Bibliothek mit angeschlossenem Theater genau auf der Linie zwischen den USA und Kanada. Genauso hatte es die Kaufmannsfamilie Haskell beabsichtigt, als sie den viktorianischen Bau im Jahre 1901 als Ort des Lernens und der Begegnung stiftete.
Als Standort wählten die Haskells ein Eckgrundstück, dessen Südseite von der Caswell Avenue im beschaulichen Örtchen Derby Line im US-Bundesstaat Vermont gesäumt wird. Die Westseite verläuft an der Church Street, die größtenteils zum Städtchen Stanstead in der kanadischen Provinz Quebec gehört.
Von Beginn an galt das ungeschriebene Gesetz, dass die Quebecer die zwanzig Meter US-amerikanischen Gehwegs bis zum Haupteingang benutzen durften, ohne einen offiziellen Grenzübergang zu passieren. Doch nun hat die Bibliothek die Aufmerksamkeit von US-Präsident Donald Trump erregt. Damit ist das Aus für diese lokale Tradition besiegelt.
„Grenzen sind sowohl künstlich wie auch real“, sagte Ross Murray noch am 1. November 2024 im Haskell-Theatersaal, wenige Tage vor Trumps Wiederwahl. Murray, ein Schriftsteller aus Stanstead, moderierte damals das „Borders Poetry Symposium“. Die Bühne, auf der er dabei stand, befindet sich auf kanadischem Boden. Ein Teil des Publikums saß ebenfalls in Kanada, der größere Teil in den USA. Einige Gäste saßen in beiden Ländern gleichzeitig: Die Grenzmarkierung verläuft diagonal unter den altmodischen Holz-Sitzreihen.
Ganz ohne Grenzanlage
Eingetreten waren die Gäste allesamt durch den Haupteingang auf der amerikanischen Seite, ganz ohne Grenzanlagen oder Passkontrolle. „An Abenden wie diesem können Worte die Grenze hier unter dieser Bibliothek überwinden“, fuhr Murray fort. Mit keinem Wort erwähnte er Trumps scharfe Rhetorik über Grenzen, Migranten und „America First“. Doch im kunstvoll verzierten Theatersaal lag die Frage förmlich in der Luft: Was sind Worte gegen Schlagbäume?
Ganz so frei wie zu Zeiten der Haskells war auch schon vor Trumps zweiter Amtszeit der Zugang zu Bibliothek und Theater nicht mehr. Nach den Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 waren rings um die Bibliothek Überwachungskameras installiert worden.
Seitdem ist auch ein Wagen der U. S. Customs and Border Protection ständig in Sichtweite postiert; auf der Quebecer Seite sind öfters Mounties beziehungsweise Police montée zu sehen – Beamte der kanadischen Bundespolizei. Die Church Street wurde durch kniehohe Steinquader abgeblockt; daneben wurden Schilder errichtet: Stop. Do not cross. It is illegal to enter Canada from here und No Loitering, kein Herumlungern, in Englisch und Französisch, aber auch in Farsi, Haitianischem Kreol, Rumänisch und Russisch.
Direkt am Eingang informiert ein weiteres Schild, dass die Bibliothek kein Grenzübergang sei. Wenn aus Quebec kommende Büchereibesucher danach noch in Derby Line, Einwohnerzahl knapp 900, Bekannte besuchen oder einkaufen wollen, müssen sie erst zurück auf die kanadische Seite und dann über den offiziellen Grenzübergang in die USA einreisen.
Ein Donnerstagmorgen Anfang Mai 2025. Deborah Bishop telefoniert; jemand von der BBC hat angerufen. Seit gut einem Jahr ist Bishop Direktorin der Haskell Library. Als einzige internationale Bibliothek zieht die seit Langem viel Interesse auf sich, wurde schon im Life Magazin und im Canadian Geographic beschrieben. Der Medienansturm der letzten Monate ist jedoch eine andere Liga.
Trotzdem ist es ruhig an diesem Maimorgen, insbesondere in der Kinderbibliothek: ihre Hauptnutzer und -nutzerinnen sind in der Schule, die einen in Vermont, die anderen in Quebec. In dem menschenleeren Raum sticht der schwarze Streifen auf dem hellen Holzfußboden besonders deutlich hervor. Gleich links neben dem Haupteingang gelegen, befindet sich der Großteil der Kinderbibliothek in den USA. In den Regalen stehen Bücher und Spiele in Englisch und Französisch.
Am Tresen im Hauptraum beendet eine junge Mitarbeiterin gerade ein Telefonat auf Englisch und beantwortet einen Moment später Fragen des Besuchers vor ihr auf Französisch. Die junge Frau war auch hier, als zehn Tage nach Trumps Amtsantritt seine Heimatschutzministerin Kristi Noem samt Sicherheitsstab der Bibliothek einen unangemeldeten Besuch abstattete.
Sie erzählt, wie Noem sich auf der US-amerikanischen Seite des schwarzen Streifens aufbaute und verkündete „USA Number One“, dann theatralisch auf die kanadische Seite trat und kundtat, sie befinde sich jetzt im einundfünfzigsten Bundesstaat. Ihre Entourage klatschte lachend Beifall; die junge Bibliotheksmitarbeiterin, Kanadierin wie alle an dem Tag anwesenden Kolleginnen, bewahrte mit Mühe ihr professionelles Gesicht.
Spenden für einen kanadischen Eingang
Wenige Tage nach dem Besuch der Ministerin wurde Deborah Bishop vom Heimatschutzministerium über neue Auflagen informiert. Büchereibesucher aus Kanada dürften nur noch mit gültigem Mitgliedsausweis den Gehweg auf amerikanischem Boden zum Haupteingang benutzen. Ohne Ausweis dürfen das nur noch Bibliotheksangestellte – vorerst. Ab Oktober 2025 ist auch damit Schluss, dann müssen alle Besucher aus Kanada den offiziellen Grenzübergang benutzen.
Zwar gibt es in der Parallelstraße zur Church Street einen kleinen, zweispurigen Grenzübergang. Verglichen mit den dystopisch anmutenden Betonbauten an den großen Übergängen der Interstate Highways – einer befindet sich zwei Kilometer östlich – strahlt er fast dörfliche Gemütlichkeit aus. Und doch: Die Grenzbeamten in beide Richtungen nehmen ihren Job ernst. Da kann es schon mal sein, dass man die im Auto angesammelten Einkaufstaschen, Kartons, Flaschen, und Schuhe erklären oder inspizieren lassen muss.
Würden Bibliotheksnutzer aus dem kanadischen Stanstead in Zukunft „mal eben“ offiziell in die USA einreisen, um ein Buch auszuleihen oder abzugeben? Würden sie weiterhin zu Lesungen oder den Treffen ihrer Buchgruppe kommen? Würden Familien mit Kindern die zusätzliche Zeit einplanen, ganz zu schweigen von den Kosten der Pässe, die sie, wie viele kanadische und US-Staatsangehörige, nicht unbedingt in der Schublade liegen haben?
Deborah Bishop und ihr Team wollen es nicht darauf ankommen lassen. Bald nach dem Besuch der Heimatschutzministerin starteten sie eine Spendenaktion, um einen Eingang auf der kanadischen Seite bauen zu lassen. „Die Resonanz war umwerfend“, erzählt Bishop. Das Geld floss umgehend, die Zielsumme von 100.000 kanadischen Dollar war schnell übertroffen – unter anderem durch eine großzügige Spende der kanadischen Autorin Louise Penny, die unweit von Stanstead wohnt.
Kim Prangley, frühere Direktorin der Haskell Free Library
Wann der neue Eingang fertig sein wird? Schwer zu sagen – Bishop erklärt, dass die Bauvorschriften beider Länder befolgt, die Pläne von Ämtern beiderseits der Grenze abgesegnet werden müssen. Das kann sich Monate hinziehen, gut möglich, dass es bis Oktober nicht zu schaffen ist. Darum hat Bishop kurzerhand veranlasst, einen Notausgang auf der kanadischen Seite so umzubauen, dass er schon jetzt als Eingang benutzt werden kann.
Er liegt just an der hinteren rechten Ecke des Gebäudes, an der die Grenzlinie noch das Ein- und Austreten auf kanadischem Boden ermöglicht. Der Blick aus der Tür geht direkt auf eine Reihe von Steinquadern, die die Grenze markiert und den Parkplatz auf amerikanischem Boden vom kanadischen Nachbargrundstück samt Wohnhaus teilt. Zwischen zwei Quadern steht ein Pfosten mit einem Vogelhaus, aus dessen Dach eine Antenne ragt. Hinter der ungewöhnlich großen runden Öffnung glitzert etwas – eine Kameralinse reflektiert das Sonnenlicht.
Seit Beginn seiner zweiten Amtszeit hat Donald Trump wiederholt seine Absicht geäußert, die USA um Kanada zu erweitern. Dies und die 25 Prozent Zölle auf die meisten kanadischen Importe verhalfen mit großer Wahrscheinlichkeit im April dem Trump-Kritiker Mark Carney zum Wahlsieg. Beim ersten Besuch des neuen Premiers im Oval Office beschrieb Trump die US-kanadische Grenze denn auch als artificial line – eine künstliche Linie, die eben deshalb auch wieder ausradiert werden könne und sollte.
Das Bett teilen mit einem Elefanten

„Grenzen sind sowohl künstlich wie auch real“, hatte Ross Murray im November 2024 auf der Bühne des Haskell Theaters gesagt. Die US-kanadische Grenze hatte, wie die Binnengrenzen der EU, lange kaum Auswirkungen auf die Menschen beiderseits – bis zum 11. September reichte meistens ein Führerschein, um sie zu überqueren. Eine mehr als 150 Jahre lange Entwicklung führte zu ihrer heutigen Gestalt, beginnend 1783 – noch 76 Jahre vor der Gründung Kanadas – mit dem Vertrag von Paris, der die amerikanische Revolution formal beendete.
Im Zuge der West-Expansion der jungen USA wie auch des damaligen British North America fanden zahlreiche Zwischenverhandlungen statt, aus denen verschiedene Grenzanpassungen resultierten. Und wie nicht erst seit dem Annexionsgetöse Donald Trumps zu beobachten ist, auch die Herausbildung eines kanadischen Selbstbewusstseins.
Aus europäischer Perspektive mögen die Unterschiede zwischen den beiden nordamerikanischen Riesennationen geringfügig erscheinen. Doch das sehen insbesondere die Menschen nördlich der Grenze, bei aller gegenseitigen Freundschaft und Freundlichkeit, anders.
Auch vor der Ära Trump wurde ihr kanadisches Selbstgefühl oft vom großen Nachbarn im Süden herausgefordert. Der Reisejournalist Bob Fisher beschrieb schon 2009 die kulturelle, wirtschaftliche und politische Eigenständigkeit als das neuronale Herzstück der kanadischen Psyche. Und auch wenn die Beziehung beider Staaten grundlegend freundschaftlich ist, so war sie keineswegs immer einfach.
Der frühere kanadische Premier Pierre Trudeau beschrieb sie bei einem Besuch bei Richard Nixon in Washington im Jahre 1969 einmal so: „Neben Ihrem Land zu wohnen ist in gewisser Weise so, als würde man das Bett mit einem Elefanten teilen. Egal wie freundlich und ausgeglichen das Tier auch ist, wenn ich es so bezeichnen darf, man wird von jedem Zucken und Grunzen tangiert.“
Stanstead auf der kanadischen Seite der Haskell-Bücherei hat knapp 3.000 Einwohner. Kaum zwei Kilometer von der Library entfernt liegt das Café Auberge Le Sunshine, von den englischsprachigen Gästen Café Sunshine genannt. Das Stimmengewirr weist auf Beliebtheit bei französisch- wie englischsprachigen Gästen gleichermaßen hin. Jeder scheint hier jede zu kennen; bei jedem Öffnen der Tür entspinnt sich ein längerer oder kürzerer Austausch.
Joyce Shee und Lynn Rublee sitzen an einem der runden Cocktailtische vor dampfendem Schaumkaffee und Croissants. Beide Frauen leben in Vermont, etwas südwestlich von Derby Line in Newport, und für beide US-Amerikanerinnen ist die Provinz Quebec Teil ihrer Lebenswelt. Ihnen beiden liegt die Haskell Library am Herzen, aber um sich zu unterhalten, treffen sie sich gern im Café Sunshine. In ihrer Kindheit in den 1960er und 1970er Jahren, sagt Lynn, existierte die Grenze in ihrer Wahrnehmung kaum.
Newport liegt am Südende des Sees Memphremagog, einer Hinterlassenschaft des letzten Kontinentalgletschers. Der See zieht sich in unzähligen Buchten und Nebenarmen über 50 Kilometer bis zur kanadischen Ortschaft Magog. „Viele Leute aus Montreal verbrachten ihre Ferien dort“, sagt Lynn. „An beiden Seiten des Sees gab es Telefonzellen an der Stelle, wo die Grenze durch den See führt.
Dort sollte man anhalten und sich bei der jeweiligen Grenzbehörde melden, wenn man mit dem Boot auf die andere Seite fuhr oder auf einem Pfad rüber wanderte.“ In den Ortschaften – wie hier zwischen Derby Line und Stanstead – winkten sie als Kinder einfach den Grenzbeamten, wenn sie auf der anderen Seite Süßigkeiten kaufen wollten. „Wir haben gar nicht an die Grenze gedacht. Sie war kein Hindernis; wir sind einfach hin- und hergegangen.“
Joyce, deren Eltern nach Quebec zogen, als sie elf war, heiratete sogar einen der Urlauber aus Montreal. Später zogen beide nach Newport. Ihr Leben in beiden Ländern ist in den Staatsangehörigkeiten reflektiert: Joyce besitzt sowohl die kanadische wie auch die US-amerikanische. Das sei in dieser Gegend nicht ungewöhnlich, erzählt sie.
Viele Einwohner von Stanstead zwischen 30 und 60 Jahren hätten die US-Staatsbürgerschaft, weil das Krankenhaus in Newport hier das nächste ist und sie dort geboren wurden. Irgendwann erkannte Kanada diese US-Staatsbürgerschaften nicht mehr an. Auf Trumps To-do-Liste steht die Abschaffung der birthright citizenship, der Staatsbürgerschaft jeder auf amerikanischem Boden geborenen Person, sowieso.
Lynn Rublee leitet das grenzübergreifende Projekt CANUSA360ARTS, dessen Mission es ist, künstlerische Aktivitäten auf beiden Seiten sowie den Austausch zwischen Kunstschaffenden zu fördern. Das Projekt wurde 2022 ins Leben gerufen, um den Austausch nach den pandemiebedingten Grenzschließungen wiederzubeleben. Das „Borders Poetry Symposium“ in der Haskell-Bibliothek war eine ihrer Initiativen. „Dazu kamen 80 Autorinnen und Autorinnen, ungefähr gleich viele aus Vermont und Quebec, manche auch von weiter her“, erzählt sie. „Das war sehr ermutigend.“ Wird es dieses Jahr ein ähnliches Symposium geben?
Lynn hebt die Schultern. „Schwer zu sagen. Alles ist so sehr im Fluss. Aber ich sehe diesen Austausch jetzt als noch wichtiger in dieser angespannten politischen Lage.“ Schon 2024 habe sie von einigen jungen Leuten aus Quebec gehört, sie hätten Angst, die Grenze zu überqueren; von einigen aus Vermont ebenso. Joyce kennt viele Kanadier, die aus Protest nicht mehr in die USA fahren und US-amerikanische Produkte boykottieren.
Noch eine andere Entwicklung macht Lynn Sorgen: Im Zuge der Verschärfungen nach dem 11. September 2001, der allgegenwärtigen Kameras und der Grenzschließungen während der Pandemie wächst auch eine sprachliche Trennung zwischen den beiden doch so eng verbundenen Gemeinden. Als Lynn aufwuchs, wurde in Vermonter Familien mehrheitlich Französisch gesprochen. „Vermont – c’est français!“ ruft sie aus. Vermont, das klinge doch ziemlich französisch. Viele Ortsnamen in Vermont reflektieren die eng verflochtene Geschichte: Die Hauptstadt heißt Montpelier, ein kleiner Ort Vergennes, ein Fluss Lamoille.
„Im Grunde ist das ganze nördliche Drittel von Vermont französisch-kanadisch. So viele Menschen hier sind miteinander verwandt, Franko-Kanadier und US-Amerikaner“, sagt sie. Aber jetzt werde auf der Quebec-Seite immer weniger Englisch gesprochen und auf der Vermont-Seite immer weniger Französisch. „Ich finde das tragisch, weil die Sprache dann eine weitere Barriere für junge Menschen darstellt. Darum ist mir auch das Poesie-Festival so wichtig, damit wir die Menschen durch unsere gemeinsame Geschichte und Kultur zusammenbringen.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Zurück Richtung USA wirkt der letzte Straßenblock vor dem trügerisch gemütlichen Checkpoint verlassen: leere Schaufenster und verblassende Firmennamen auf beiden Straßenseiten. „Dies war mal das Downtown von Stanstead“, sagt Lynn. Jetzt laufen hier die Strömungen sichtbar zusammen, die nicht nur die menschlichen, sondern auch die geschäftlichen Beziehungen strapazieren: 9/11, die Pandemie, die Trump’sche Grenzpolitik.
Eine der Fensterfronten jedoch sieht einladend aus: Chrysalis/La Chrysalide (Schmetterlingspuppe); ein „Ort zum Treffen, sich begrüßen, und kreativ sein“. Flyer kündigen Buchgruppen, Stricktreffen und Klangbäder an. Das Chrysalide war einer der Veranstaltungsorte beim Border Poetry Symposium; die gut vernetzte Lynn Rublee stellt die Leiterin vor.
Chöre, die auf der Grenze sangen
Kim Prangley ist nicht nur eine der in Newport geborenen doppelten Staatsbürgerinnen, sondern auch die ehemalige Direktorin der Haskell Free Library. Sie übernahm den Job in den 1980er Jahren von ihrer Mutter und blieb zweieinhalb Jahrzehnte. „Die Bücherei war mein Zuhause“, erzählt sie. „Meine Kinder sind dort aufgewachsen.“
Sie erinnert sich an die Zeiten, in denen Zollbeamte (einer davon ihr Ex-Ehemann) hereinkamen, um sich Bücher auszuleihen, an Picknicks auf dem Rasen vor der Bücherei, an Chöre, die auf der Grenze sangen, an Familientreffen von Mitgliedern, die sich sonst aufgrund von Visabestimmungen nicht sehen konnten. „Die Bücherei war ein Symbol für Frieden, ein Gegenpol zu dem, was in der Welt geschieht. Es war ein very sweet place.“ Jetzt gibt es keine Familientreffen mehr in der Bücherei, und „auf dem Rasen darf man sich nicht mehr unterhalten“.
Kim erinnert sich auch an die Kopfschmerzen, die ihr die juristischen Besonderheiten einer Bibliothek in zwei Ländern oft bereiteten: So musste sie sich mit zwei Versicherungsfirmen befassen – was letztendlich zur Markierung der Grenze durch den schwarzen Klebstreifen führte – und sich nach 9/11 mit beiden Bürgermeistern beraten, wie die neuen Restriktionen umzusetzen seien. Als die Bücherei einen neuen Fahrstuhl brauchte, musste sichergestellt werden, dass dieser in Kanada beschafft werden konnte, da der Schaft sich im kanadischen Teil des Gebäudes befand.
„Ein Teil von mir“
Ein Kran war jedoch nur in Derby Line zu haben, auf der amerikanischen Seite. Ihn die paar Meter nach Kanada zu fahren, hätte gigantische Einfuhrzölle mit sich gebracht. Am Ende musste der Kran so platziert werden, dass er über das Gebäude hinweg den Fahrstuhl auf der kanadischen Seite einsetzen konnte. „Es war kein normaler Job. Du musst nicht nur Bibliothekarin sein, sondern auch Diplomatin und Politikerin.“
Nach 25 Jahren war sie „burned to a crisp“ – ausgebrannt wie ein zu heiß getoastetes Stück Brot. Und doch, sagt sie, „dieser Ort ist ein Teil von mir“. Sie vermisst die Bücherei auf der Grenze und obwohl sie kaum einen Kilometer entfernt von ihr lebt und arbeitet, geht sie nicht mehr dorthin. Zu belastend findet sie die immer größeren Beschränkungen. In ihrer Stimme schwingt der Anflug von Tränen.
Zurück an der Haskell Library. Ist das Schild „no family reunions“ – keine Familientreffen – neu seit Donald Trumps Wiederwahl? Nein, erklärt Lynn Rublee, aber eine Trump-Verbindung bestehe schon. Während seiner ersten Amtszeit verhängte Trump einen „Muslim Travel Ban“, weswegen viele Menschen aus Ländern des Mittleren Ostens nicht mehr in die USA einreisen durften. Dadurch wurde die Bücherei auf der Grenze zu dem einzigen Ort, an dem Familien, die durch dieses Verbot getrennt wurden, ihre Angehörigen sehen konnten.
Lynn selbst, die eine kleine Pension in Newport betreibt, beherbergte über einen Zeitraum von zwei Jahren ein Dutzend Iraner und Iranerinnen, die in den USA lebten und deren Angehörige keine Einreisevisa bekamen. „So wurde ich zur iranischen Connection“, erzählt sie mit einem Lächeln. „Die in den USA lebenden Familienmitglieder reisten oft aus anderen Landesteilen an, zwei sogar aus Kalifornien.
Sie verbrachten den Tag in der Bibliothek und übernachteten bei mir.“ In einem Fall gab es sogar einen Heiratsantrag, der von einem freundlichen Grenzbeamten fotografiert wurde. Aber der Ansturm auf die Bibliothek wurde so groß, dass sie der Lage einfach nicht mehr Herr wurde und dem Ganzen ein Ende setzen musste.
Lynn Rublee bedauert das. Aber sie versteht die Entscheidung der Bibliothek, denn die wolle natürlich auch nicht ihren eh schon prekären Status gefährden.
„Es ist jetzt eine noch größere Herausforderung, aber gleichzeitig auch noch wichtiger, dass wir als border community zusammenkommen und zeigen, dass wir eine große Gemeinschaft sind und dass wir einander brauchen, gesellschaftlich, kulturell, und wirtschaftlich.“ Das ist es, was sie mit CANUSA360ARTS bewirken möchte. Die Arbeit scheint für sie als Gegenmittel zu all den Enttäuschungen und Frustrationen zu wirken, die ihre community in den letzten Jahren erlebt hat. Sie selbst beschreibt sich als politisch links, sucht aber den Austausch mit Mitmenschen, die Trump gewählt haben.
„Diese Spaltung in der Gesellschaft, das ist ein wirklich großes Ding. Leute auf allen Seiten wollen im Grunde wieder dahin kommen, dass sie sich wieder miteinander unterhalten können. Wir brauchen mehr Dialog, damit wir zusammenkommen und Probleme lösen können.“
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