Auf der Ü-30-Party „Syke tanzt“: Bei Vätern, die Rolling Stone waren
Natürlich war „Layla“ zu hören und auch der Temptations-Klassiker „Papa Was a Rolling Stone“. Ein Tänzchen in Syke mit „Spaßfaktor inklusive!“
D as kulturelle Leben des niedersächsischen Städtchens Syke „verarmt“ zu nennen, geht einem zu leicht über die Lippen. Das ist nämlich erstens unfair und zweitens auch völlig falsch. Es ist nur weniger sichtbar. Hinter den schmucklosen Fassaden werkelt hier etwa ein auch zwischen seinen hochkarätigen Konzerten rühriger „Jazz Folk Klassik“-Verein.
Im liebevoll betreuten Kreismuseum werden neben altertümlichem Handwerkszeug, Treckern und einem echten Goldschatz auch bildschöne Kaugummiautomaten und kämpferische Antifa-Graffiti für die Ewigkeit bewahrt. Und ganz vorneweg hat die Stadt mit dem „Syker Vorwerk“ auch ein wirklich verdienstvolles Museum für zeitgenössische Kunst zu bieten – zu dem man auch aus Bremen noch rausfährt.
Der lokale Publikumsmagnet der Saison sieht dann aber eben doch ganz anders aus: die Ü-30-Party „Syke tanzt“ nämlich, im weitläufigen Biergarten eines hiesigen Restaurants. Schon Wochen zuvor lief der Kartenverkauf auf Hochtouren: 600 Tickets seien verkauft, heißt es, „streng limitiert“, dafür aber mit „Spaßfaktor inklusive!“.
Seit Tagen warten Bühne, Tanzfläche, Bierausschank und Cocktailbar zwischen Wald und Flüsschen, am Hang gegenüber ragt ein Kriegerdenkmal auf, und nebenan – kein Witz – erstreckt sich der verwildernde alte Friedhof bis runter zum Fluss.
Hier trifft man sich – und kennt sich längst
So schaurig das vielleicht klingen mag, so ausgelassen trudelt das Publikum ein. Hier trifft man sich – und kennt sich längst. Einige der Über-30-Jährigen waren eigens angereist aus den Altersexilen in Berlin und Frankfurt oder so: Metropolen, die in den kommenden Stunden immer belangloser scheinen, während von der Hache her die Mückenschwärme und Frühergeschichten aufziehen. Ein Hauch von Freiheit und Long Island Ice Tea liegt über dem Areal, der sich später zu einer schneidend dichten Melange aus Nostalgie und Regression verdichten wird.
Und weil bei „Syke tanzt“ Syke ja nun tanzen soll, läuft auch Musik. „Layla“ läuft natürlich, wobei der übersteuerte Wummerbass hier das geringste Problem ist. Noch etwas weniger überraschend wird später der Temptations-Klassiker „Papa Was a Rolling Stone“ aufgelegt, der 1972 veröffentlicht wurde – und damit schon zu Lebzeiten rund der Hälfte der anwesenden Ü-30-Jährigen.
Auf der zum Bersten gefüllten Tanzfläche fallen die Menschen einander in die Arme. „Lange nicht gesehen – und doch wiedererkannt“ wird zum Mantra dieses Abends, über den sich auch das Hirn des teilnehmend beobachtenden Autors stetig weiter verflüssigt. Er (also ich) kennt hier zwar kaum jemanden – wohl aber dieses Gefühl, als eine Art Großstadtlachs zurück zum Laichplatz aufs platte Land zu schwimmen.
Zwischenfälle mit Schubsereien
Wie gesagt, man kennt sich hier: aus der Schule, vom Fußball oder vom Knutschen damals U-30. Heute hält sich das in Grenzen, dafür ertönen aus abgelegenen Ecken die Anrufe bei Oma: „Bei den Kinder alles okay?“ Auf dem Dancefloor läuft „Es tut mir leid, Pocahontas“ von AnnenMayKantereit, dessen zuckersüße Blödigkeit dem Publikumschoral aus voller Lunge nicht standhält. Bei den Onkelz klappt das besser, wohl auch, weil es da in Sachen Charme nichts zu verlieren gibt.
Zwei Zwischenfälle. Der Streit um ein auf dem falschen Tisch abgestelltes Glas und jemand, der wen schubst – und sich binnen Sekunden von „den Jungs“ umzingelt findet: alte Kameraden, die bald darauf am Tresen über Schlägereien von einst ins Schwärmen geraten.
Ich bin derweil irgendwo verloren gegangen – hatte eben noch zu Scooter meine berüchtigten Schritte getanzt und versuche nun, einem Schriftsteller aus der Gegend ein alten Gedicht des Berliner Surfpoeten Ahne aufzusagen: „Verliebt, betrunken und ohne Glück“ heißt es. Und weiter weiß ich nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers