Auf der Spur von Willi Sitte: Sie lieben und sie hassen ihn
Willi Sitte war Maler, DDR-Funktionär – und umstritten. Für unseren Autor war er lange nur sein Urgroßonkel – bis ein Bild auf dem Dachboden auftaucht.
M eine Großmutter legt ein in Zeitungspapier verpacktes, ausladendes Ding auf den Tisch. Sie wickelt es aus – ein Gemälde. Fünf altmeisterlich gemalte Figuren stehen dort auf einer Waldlichtung. Mutter, Vater, Großeltern und Kind mit Vieh, in naturalistischen Farben. Meine Großmutter blickt in die Runde. Wir schauen zurück.
„Wo hast du das her?“, frage ich.
„Das ist von meinem Onkel.“
„Von wem?“
„Na von Willi!“
Plötzlich also gibt es „Willi“ in unserer Familie, einen Mann, den wir bis zu diesem Tag nicht wie einen Verwandten, sondern wie einen Begriff aus einem kunsthistorischen Lexikon behandelt haben. „Willi Sitte“ – Maler in der DDR, Bruder meines Urgroßvaters, Onkel meiner Großmutter. Er hat diese riesigen, fast immer nackten und kraftvoll vor Fleisch strotzenden Menschen gemalt. Auf einem Bild seines Wikipedia-Eintrags schüttelt er Erich Honecker die Hand.
Eigentlich sind wir, meine Eltern, mein Bruder und ich, schon auf dem Sprung nach Hause. Nun jedoch liegt dieses Bild nicht mehr wie bisher auf dem Dachboden, sondern auf dem Tisch.
In meiner Großmutter scheint in diesem Moment etwas aufzubrechen. Zum ersten Mal erzählt sie von ihrem Lieblingsonkel, erzählt von der Übersiedlung ihrer Familie aus der Tschechoslowakei nach Deutschland, erzählt, dass dieses Gemälde irgendwie in den Besitz ihrer Eltern gekommen war. „Opa wollte es bis zu seinem Tod aufbewahren, um den Wert zu steigern. Was weiß ich“, sagt meine Großmutter.
Ein paar Tage später treffe ich sie wieder. Ich habe inzwischen Willi Sittes Autobiografie und viele Artikel über ihn gelesen. Es ist das Jahr 2021, sein 100. Geburtstag wird mit einer großen Ausstellung in Halle (Saale) gefeiert. Gern hätte ich selbst mit ihm geredet, denn was ihn betrifft, hat mich die Lektüre nicht richtig schlau gemacht. Nur ist er 2013 gestorben.
Bei meiner Recherche lerne ich ihn als jemanden kennen, der gegen Walter Ulbrichts Kulturpolitik protestiert. Dann als einen, der mit Margot Honecker tanzt und mit Parteieliten in der Sauna sitzt. Mal ist er jemand, der von der Stasi überwacht und von der SED beschimpft wird, und dann wird er selbst als Politiker und Funktionär in der DDR über Karrieren bestimmen. Künstlerfreund, Künstlerfeind, gehasst, geliebt – bis heute.
„Du hast nie so viel über ihn erzählt“, sage ich zu meiner Großmutter.
„Für mich war er einfach: mein Onkel.“
„Liegt es daran, dass er so überzeugt von der SED war?“
„Nein.“
„Oder weil er im Zentralkomitee der Partei saß?“
„Das hat mich nicht interessiert. Wir hatten früher einmal ganz viel miteinander zu tun. Nur hat er sich nach der Wende zurückgezogen.“
„Und jetzt gilt er als umstrittener Künstler.“
„Ja, das ist ärgerlich“, sagt sie, „und schwer zu erklären.“
„Schwer?“
„Aron, ich glaube, in der damaligen politischen Situation hat er seine Kunst gebraucht. Und auch seine Position – um etwas auszusagen.“
„Dafür musste er als Politiker so weit aufsteigen in der DDR?„
„Keiner spricht hier von müssen. Das würde der Sache nicht gerecht.“ Sie verschränkt die Arme. „Ich kann darüber reden. Aber ich kann nichts erklären. Es gibt bestimmt Künstler, bei denen es einfacher ist“, sagt sie, „aber um Willi kennenzulernen, musst du, nun ja, da musst du diesen Weg verstehen.“
Das alles scheint mit jedem Tag dringlicher, besonders als ich kurz darauf die handgeschriebenen Memoiren meines Urgroßvaters entdecke, die zeigen, wie eng auch er mit dem Sozialismus und seinem Bruder Willi Sitte verbunden war.
Zudem schreibt gerade fast jede Zeitung über die Ausstellung zu Sittes 100. Geburtstag. Ich hatte gelesen, dass viele von Willi Sittes Bildern in Depots verbannt wurden nach der Wende. Mit Verweis auf den umstrittenen Künstler. Nie haben wir über all das in der Familie gesprochen. Andererseits, denke ich, habe ich auch nie danach gefragt.
An einem Tag im Februar 2021 sitze ich im Archiv des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Hier befindet sich der literarische Nachlass von Willi Sitte. Korrespondenzen, Interviews, Notizen, Selbstzeugnisse. Im Alter von 26 Jahren kommt er voller Idealismus nach Halle an der Saale. Es ist das Jahr 1947, er will sich einbringen in das sich gerade im Aufbau befindende sozialistische Land – als Künstler mit neuem Stil.
Nur wie genau dieser aussehen soll, weiß er noch nicht.
Großmutter des Autors
Aber er hat immerhin eine Idee, wo er Inspiration herbekommen könnte, und erzählt später, „daß ich ja schon seit siebenundvierzig in die Betriebe gelatscht bin […] Ich hab’ gedacht, du gehst dahin, zeichnest viel, und dann wird schon irgendwas draus werden.“ Er arbeitet wie ein Reporter, immer mit dem Ziel, sein neues Sujet, den Geist der Arbeiterklasse in den Fabriken und Industriewerken des Landes, aufzunehmen und darzustellen.
Er ist sich bewusst, „perfekt“ akademisch, also besonders detailgetreu, zeichnen zu können. Er hat das in seiner Geburtsstadt Kratzau, in Tschechien gelernt. Das Zeichnen hat er sich anhand von Bildern Albrecht Dürers und anderer alter Meister selbst beigebracht. Er malte auf alten Einkaufstüten aus Papier.
Geboren wurde Willi Sitte 1921, als Sohn eines kommunistischen sudetendeutschen Gemüsebauern und eines tschechischen Dienstmädchens. Dank Geldgebern gelangte er ausgerechnet an die Meisterschule von Hermann Görings Lieblingsmaler Werner Peiner in Kronenburg in der Eifel, wo er 1941 gegen dessen Unterricht protestierte und dafür an die Ostfront und später nach Italien geschickt wurde.
In Italien schloss er sich den Partisanen an, malte die ganze Zeit und bekam dort 1946 sogar seine erste Ausstellung. Hätte seine Familie nicht den tschechischen Hof verlassen und aussiedeln müssen, wäre er dorthin zurückgegangen – so aber hieß sein neues Zuhause: Sowjetische Besatzungszone.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Seinen akkuraten Zeichenstil wollte er in der DDR erweitern, obwohl die SED genau den gut fand. Am besten mit einer gehörigen Portion sozialistischer Arbeitsheroik. Aber Willi Sitte sah davon nichts bei seinen Betriebsrecherchen. Stattdessen sah er durstige und rauchende Typen, die ihm höchstens müde zulächelten. In einem Radiobeitrag aus dem Jahr 2001 erinnerte er sich. „Man kann nicht einfach die Natur abbilden“, sagte er da. „Also musste man nach Möglichkeiten suchen, wie man diese Wirklichkeit in eine bildhafte Wirklichkeit, in eine neue Realität umsetzen konnte.“
Eine jahrzehntelange Stilsuche begann, die ihn, mit neuen Lehrmeistern, von Beckmann bis Picasso, mit den Abstrakten und der Moderne, experimentieren ließ.
Das parteiliche DDR-Feuilleton reagierte alles andere als begeistert auf seinen Anspruch auf Kunstfreiheit und seine damit verbundenen Werkexperimente. So schrieb etwa der damalige Chefredakteur der SED-Zeitung Freiheit, Horst Sindermann, 1951: „Maler wie Willi Sitte leisten den Kriegstreibern einen großen Gefallen. Wenn sie sich vom Volk abwenden und Träger der schmutzigen, kosmopolitischen Schmuddeleien werden.“
Experimente sind nicht erwünscht
Die SED wollte in der Kunst keine schöngeistigen Experimente sehen, sondern Figuren, die auch auf Propagandaplakaten wirken könnten. Der sozialistische Realismus wurde zur Staatskunst und Willi Sitte wurde vorgeworfen, sich mit seinen Bildern der feindlich westlichen Avantgarde anzubiedern und damit für den Klassenfeind und gegen die Partei zu arbeiten.
Kurz nach Beginn meiner Recherchen wird das Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin-Mitte zu einer meiner Anlaufstellen, in dem Dutzende Akten über Willi Sitte liegen.
Während fast alle seine früheren Künstlerfreunde in die BRD auswanderten, blieb er und wurde ab 1952 gezielt vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überwacht. Anfangs konkret durch den Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) „Asta“. Der protokollierte Willi Sittes Äußerungen, die offenbar besonders bedenklich klangen: Er fordere „endlich wieder, frei arbeiten zu können ohne Bevormundung der Funktionäre, die ja doch nichts davon verstehen“. Es folgen unzählige Berichte unterschiedlichster IM. In einem gilt Willi Sitte bald als „ein ganz gefährlicher Feind“.
Willi Sittes gemalte Figuren entwickelten in den Folgejahren zum ersten Mal so etwas wie eine eigene Sprache. Sie sind in Bewegung mit zerknitterter Kleidung und scharf gezeichneten Gesichtszügen, die ein bisschen an Bilder der Neuen Sachlichkeit erinnern. Kein Heldenpathos, sondern ehrliche Emotionen und Müdigkeit. Die Partei indes kritisierte ihn weiter und die Arbeiter, die Willi Sitte immer besuchte, waren auch nicht gerade zufrieden mit der Darstellung ihrer Realität. „Ich habe meine Heimat und die Menschen nie so trostlos gesehen“, sagte damals der Leiter eines Stickstoffwerks in einer Ausstellung, in der auch Willi Sittes Bilder gezeigt wurden.
Als Sitte sich Hals über Kopf unglücklich verliebte, eskalierte die Situation und er geriet in eine psychische Krise, die ihn 1961 zwei Mal kurz hintereinander in den Suizidversuch trieb. Aber gleich danach malte er weiter.
Kurz nach seinem letzten Klinikaufenthalt lernte er Ingrid Dreßler kennen, seine große Liebe, die er später heiraten wird. Sie stützte ihn fortan auch bei dem noch Jahre andauernden Kampf, all seine äußeren und inneren Widersprüche zu integrieren. Willi Sitte war angepasst und unangepasst in einem.
Und ich? Ich finde es irgendwie reizvoll von meinem eigentlich so linientreuen Verwandten als Rebell zu lesen. Aber kaum denke ich daran, stoße ich schon auf solche Stasi-Berichte:
„Er forderte, daß wir breiter sein müßten in der Auffassung von Parteilichkeit. Er versteht darunter folgendes: Nach seiner Auffassung steht er fest zur DDR und will mit seinem Schaffen dem Aufbau der DDR dienen. Wenn er nun bei diesem Bestreben den besten Weg dazu zu finden einmal einen Fehler begeht, dürfte es nicht vorkommen, daß man deshalb ihm gegenüber laufend Vorurteile hat, wie das gegenwärtig der Fall ist, sondern man soll überzeugt sein von seiner Gutwilligkeit.“ Und ich weiß nicht, was mich mehr verwundert: Willi Sittes Verhalten oder dass er sich diesen Zirkus antut.
Anfang der 1960er Jahre – es war die Phase seiner instabilsten psychischen Verfassung – pflegte Willi Sitte intensiven Kontakt zu Christa Wolf, der bekanntesten Schriftstellerin der DDR, die ihn als Illustrator für eine Liebesgeschichte gewinnen will. Als Sitte damals für seine Studien immer wieder den Waggonbau Ammendorf besuchte, leitete Christa Wolf dort zusammen mit ihrem Ehemann Gerhard Wolf einen Zirkel schreibender Arbeiter.
Während ihrer Zeit in Ammendorf freundeten sich die Wolfs mit Sitte an und besuchten ihn in seinem Atelier. Sie suchten Zeichnungen aus für Christa Wolfs neues Buch „Der geteilte Himmel“, das später ein Riesenerfolg in beiden Deutschlands wurde.
Im Dezember 1962 schrieb Christa Wolf an Willi Sitte: „Ich bin froh, daß zu diesem Zeitpunkt die Vereinbarungen zwischen Dir und dem Verlag wegen der Mitarbeit an meinem Büchlein schon so weit gediehen sind, daß ein Zurückjucken, zu dem der Verlag sicher gern greifen würde, kaum noch möglich ist. Ich freue mich auf deine Grafiken in dem Buch.“
Und dann, nicht lange nachdem das Buch im März 1963 erschienen war: „Du weißt, dass die Grafiken nicht auf meinen Wunsch in der dritten Auflage herausgenommen werden.“ Und weiter: „Es geht wirklich in erster Linie gegen die beiden Akte, bei denen die Leute das große Genieren kriegen.“
Christa Wolf starb im Jahr 2011 im Alter von 82 Jahren. Ihr Ehemann lebt bei meinem Besuch im Jahr 2021 noch im gemeinsamen Haus in Berlin.* Dort besuche ich ihn. Vielleicht kann ich hier mehr über diese Episode erfahren.
Bilder von Sitte in Büchern von Christa Wolf
Die Aktzeichnungen in „Der geteilte Himmel“ sind während Sittes damaliger Liebesbeziehung entstanden. Authentischer hätte er gar nicht arbeiten können – und doch wurden genau diese Bilder aus dem Buch verbannt.
Gerhard Wolf legt einen Stapel Bücher auf den Tisch.
„Das hier dürfte Sie interessieren!
„Der geteilte Himmel, ‚Für G‘ “, lese ich laut.
„Ja, ganz genau – das bin ich“, sagt Gerhard Wolf und zeigt auf den Einband des Buches. „Jetzt schauen Sie mal auf das Jahr und die Auflage. 2. Auflage – 1963. Die letzte mit Willis Illustrationen“, sagt er und blättert durch das Buch, bis er an einer Zeichnung hängen bleibt. „Die war das Problem.“
Die Zeichnung zeigt eine nackte, eher zierliche Frau mit hochtoupiertem Haar, die scheu auf dem Schoß eines Mannes sitzt und lächelnd zu Boden schaut. Nackt ist sie, aber mit Händen auf den Brüsten. Nicht einmal ein Bruchteil der Fleischlichkeit, die gut zehn Jahre später Willi Sittes Werk dominiert und doch in Ausstellungen gezeigt werden darf, ist auf dem Bild zu sehen. Trotzdem löst sie Empörung aus, verschwindet aus der Auflage.
„Mir haben solche Skizzen und vor allem seine Rötelzeichnungen immer am besten gefallen“, sagt Gerhard Wolf. „Er hat ja dann diese Großgemälde gemalt und, nun ja. Ein Freund hat mal gesagt: ‚Um da vorbeizukommen, braucht man ja ein Fahrrad.‘ Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?“
Plötzlich malt er riesige Bilder
Ab Mitte der 60er Jahre änderte sich Willi Sittes Freundeskreis – und seine Bildsprache. Während die einen sich auf Kritik an der Partei konzentrierten, malte Willi Sitte immer politisch affirmativer. Und zwar riesige Figuren, muskelbepackt oder übergewichtig und expressiv. Abgefahren, aber auch befremdlich, wenn sie dann schreiend vom Vietnamkrieg, vom drohenden Faschismus im Westen und lachend vom Sieg des Sozialismus erzählen. Bilder, die prominent in der DDR ausgestellt wurden.
Der Briefwechsel zwischen dem Ehepaar Wolf und Willi Sitte riss Ende der 1960er Jahre ab. Kurz bevor Willi Sitte seine existenzielle Frage nach dem richtigen künstlerischen Weg damit löste, klarer und kraftvoller, aber mit politisch genehmerem Inhalt zu malen.
„Wieso haben Sie und Willi Sitte sich voneinander entfernt?“
Gerhard Wolf überlegt eine Weile. „Wir waren an unterschiedlichen Orten“, sagt er. „Das war’s, schätze ich.“
Bevor das passierte, wurde Willi Sittes Atelier in Halle zu einem der angesagtesten Szenetreffs der DDR-Kunst. Neben den Wolfs gingen dort kritische und weniger kritische Künstler ein und aus. Aber auch Willi Sittes damaliger Freund, der Lyriker und Liedermacher Wolf Biermann, dem die Partei für seine SED-spöttischen Texte ein Auftrittsverbot nach dem anderen erteilte, kam vorbei. Er wurde von Willi Sitte an einem Freitagabend im Januar 1964 in die Hochschule Burg Giebichenstein, in der Sitte als Dozent und später als Professor arbeitete, eingeladen, um dort aufzutreten.
Wolf Biermann,Liedermacher, über Willi Sitte
Zum Konzert kamen viele, ein ganzer Hörsaal voller Studierender. Unter ihnen Gerhard Schwarz, geboren 1940 in Halle. Heute ein hagerer Mann in schwarzem Pullover und kariertem Hemd. Ich treffe den Künstler in seinem Atelier in Halle-Neustadt. Wie alle anderen Studierenden damals war auch Gerhard Schwarz verwundert über den Auftritt von Wolf Biermann und warum der möglich war.
„Ich habe beim Biermann-Abend nicht geklatscht“, sagt er. „Ich dachte, man will uns hinters Licht führen. Biermann hat Sachen gesagt, die konntest du eigentlich nicht sagen in der DDR.“ Schwarz schaut an mir vorbei, während er redet. „Willi Sitte war ein gradliniger Mensch“, fährt er fort. „Es war diese plötzlich politische Kunst – das war ja nicht ungewöhnlich, er war schließlich überzeugter Kommunist. Aber diese Form – das war dann schon eigenartig. Solche Riesengemälde, der dahinterstehende Aufwand, um politische Dinge so monumental darzustellen, und seine späteren Aktbilder, in so grotesken Farben“, sagt Schwarz.
„Er war ein großartiger Könner, ohne Frage. ber seinen Bildern haftete irgendwann etwas Typisches an, das die ganze DDR betraf. Dieses Rosa-Rötliche, also dieses Fleisch, was er malte. Dann diese oft lachenden Gesichter. Das hatte was Aufgesetztes, so wie die DDR eben auch war. Ich bedauere diese Leute, diese Künstler“, sagt er, „was heißt, vielleicht bedauere ich sie auch nicht. Sie alle begleitet eine Tragik. Es geht mir um Menschen, die eine ganz starke Begabung haben, die sich dessen auch bewusst sind und wollen, dass die Öffentlichkeit das sieht. Wenn solche Leute in einer Diktatur leben, dann haben sie es schwer, künstlerisch unabhängig zu arbeiten.“
Nach dem Gespräch mit Gerhard Schwarz konzentriere ich mich noch stärker auf diese Phase der zunehmend politischen Inhalte in den Bildern Willi Sittes – Ende der 60er Jahre.
Während die Wolfs und viele seiner Freunde etwa gegen die Zerschlagung des Prager Frühlings durch das Militär des Warschauer Pakts protestierten, schwieg Willi Sitte aus Angst, dass „die sozialistische Utopie zu Fall gebracht“ werden könnte, wie er sich in seinen Memoiren erinnert und malte in einem Bild kurz darauf einen riesigen BRD-Polizisten, der einen sozialistischen Demonstranten niederknüppelt.
Er fühlt sich verkannt
Nur, woher kommt diese Verbissenheit in seinen Bildern, die sich auch in der Umgestaltung seines Freundeskreises niederschlägt? Hinweis gibt ein Kommentar von ihm, den ich in einem Radiointerview höre, das er um das Jahr 2000 gegeben hatte.
„Mit den Ereignissen Biermann und dem Prager Frühling hatte die Freundschaft gelitten, ist später auseinandergegangen“, sagte er da zögerlich. „Was heißt auseinander. Sie haben mich bis heute anders erlebt, als ich wirklich war.“ An Doppeldeutigkeit mangelt es seinem Nachlass nicht, denke ich.
Aber noch etwas anderes erklärt sich mir nicht. Zuerst lädt Willi Sitte Wolf Biermann in die Hochschule ein, später will er, dass der die DDR verlässt?
Um das zu verstehen, muss ich Wolf Biermann am besten selbst fragen. Vor einer Lesung seines neuen Buches „Mensch, Gott!“ spreche ich ihn an. „Herr Biermann, sind Sie aufgeregt?“
„Nein, ich will aufregen.“
„Sie werden doch sicher heute auch etwas von den alten Dissidentenliedern singen, oder?“
„Okay. Was wollen Sie?“
„Ich will mit Ihnen über Willi Sitte sprechen.“
Wolf Biermann hebt die Augenbrauen. „Er ist mein Urgroßonkel“, sage ich noch schnell.
„Sittes Spross!“, sagt Biermann. Er verschränkt die Arme. „Dein Urgroßonkel war ein großer Maler, ein großer Künstler“, sagt er langsam, „aber ein kleiner Mensch.“
„Ein kleiner Mensch?“
„Ja“, sagt Biermann, „ich denke da an den Schriftsteller Heiner Müller, der sagte mir: ‚Wolf, es gibt auch ein Recht auf Feigheit.‘ Und da bin ich seiner Meinung.“
„Feigheit?“
„Ganz recht.“
„Ihre Freundschaft ist zerbrochen.“
„Wir haben uns zerfreundet“, sagt er.
Der Mann, der Fleischberge malte
Der Tontechniker räuspert sich, drängt zur Eile. „Er hat mich gerade zu Willi Sitte befragt“, höre ich Biermann zu ihm sagen. „Willi Sitte – der, der mein Freund war. Na, der diese Fleischberge gemalt hat.“
„Moment noch“ sage ich.
Er macht eine abwinkende Bewegung. „Was wolltest du mich fragen?“
„Sie sind bei Willi Sitte in der Burg Giebichenstein aufgetreten. Er hatte Sie eingeladen“, beginne ich und Biermann nickt wieder.
„Die Bilder, von denen Sie eben sprachen, die hatte er doch hauptsächlich später gemalt“, sage ich.
„Ja, die Fleischberge! – und weißt du, wie die entstanden sind?“
Ich schüttele den Kopf.
„Indem er seine ganze Feigheit vor der Partei in diese kraftstrotzenden Bilder gemalt hat, ist doch klar! Das war die Kraftprotzerei eines Schwächlings. Der Angst hatte. Im Streit der Welt. Verstehst du?“
Ich sehe offenbar nicht so aus, als würde ich es verstehen.
„Angst kompensiert man. Aber nicht mit Absicht“, sagt Biermann, „das passiert einem. Alles, was Willi Sitte an Kraft fehlte, sich mit den Unterdrückern im Streit einzulassen, knallte er in die Bilder rein.“
„Hm“, mache ich.
„Weißt du, warum ich bei meinem Auftritt in der Hochschule Dinge sagen konnte, die sonst keiner sagen konnte?“
Gerade als ich antworten will, tippt sich Biermann auf die Brust. „Nicht, weil ich vom Charakter so ein Mensch bin. Sondern, weil ich durch Zufall der Geburt aus einer Kommunisten- und Judenfamilie kam“, sagt er. „Während die anderen – nicht alle, aber fast alle – Nazikinder waren. Sitte war ein Nazisoldat, der zu den Partisanen übergelaufen ist. Was sein moralisches Pfund war, von dem er gelebt hat – mit Recht. Klar ist aber auch, dass ich der Drachentöter war, der viel radikaler mit den Bonzen der Diktatur gesprochen hatte als die Nazikinder, die sich schämten für ihre Eltern und deswegen, Goethe würde sagen, lumpenhaft bescheiden waren. Das spricht ja für sie, dass sie sich überhaupt schämten. Und so hast du keine Schuld daran, dass Sitte ein Feigling, aber auch keinen Verdienst daran, dass er ein großer Maler war.“
Ein neuer Versuch zu verstehen
Ich schlucke ein sinnloses Aber herunter. Was soll ich darauf antworten? Willi Sitte hat sich für seine Kunst mit denen umgeben, die Biermann in seiner eigenen verspottet hat.
Aber.
Aber so richtig stellt mich Biermanns Erklärung, wie jemand mal jasagender Neinsager, mal neinsagender Jasager wird, doch nicht zufrieden. Ein paar Wochen später höre ich ein Radioporträt der Regisseurin Marina Farschid aus dem Jahr 2001 über Sitte, in dem er über seine Gemälde spricht. Auch über dieses eine, „Am kalten Buffet“. Ein Bild, das einen fülligen, mit Orden behängten Funktionär zeigt, der gierig mit einem Snackspieß vor einer gut gefüllten Speisetafel steht. Es ist 1974 entstanden. In diesem Jahr wurde Willi Sitte zum Präsidenten des Verbandes Bildender Künstler der DDR gewählt, wurde zum Kulturfunktionär, und Szenen wie „Am kalten Buffet“ wurden Teil seines Alltags.
„Dieses Thema habe ich ein paar Mal gemalt“, sagt er in dem Radioporträt. „Die Atmosphäre am kalten Buffet. Menschen erleben zu können – und so sahen die auch meistens aus: gut beleibt, nur auf das aus, sozusagen auf den Höhepunkt des Abends, das war das kalte Buffet. Alles das widerte mich immer an. Aber man war ja gezwungen, man war mittendrin.“
Denn 1974 war Sitte mit dem Anspruch angetreten, den Verband Bildender Künstler der DDR sowie die Stellung der Kunst in der DDR grundlegend umzukrempeln. Und zwar schnell und mit einem Wahnsinnskalkül. „Man konnte oben etwas bewirken“, sagte er 1992 in einem Zeitungsinterview, „je weiter oben, desto besser. Es ist ein Prozess gewesen. Das politische Umfeld hatte sich verändert, als Erich Honecker antrat. Es gab große Hoffnungen unter den Künstlern, dass wir nun vieles realisieren könnten.“ Mehr Geld, mehr Anerkennung, aber vor allem mehr Freiheiten.
Willi Sitte, DDR-Künstler und Funktionär
Der ehemals gescholtene Künstler wurde so zu einem der mächtigsten Kulturpolitiker der DDR. Er ließ sich in die Volkskammer, das Parlament der DDR, wählen, später dann auch in das Zentralkomitee der SED. Dort betonte er immer wieder die „schöpferische Kraft“ der Kunst zum Aufbau des Sozialismus und feilte so an seiner Funktionärsrhetorik, um in seinen Reden unmissverständlich klarzustellen, dass für die Partei ohne seinen Verband eigentlich gar nichts laufe und nicht umgekehrt:
„In einer solchen kameradschaftlichen und verantwortungsbewußten Gemeinsamkeit wollen wir uns für eine weitere gute Entwicklung unseres Verbandes einsetzen. Wir verstehen das als unseren Beitrag zum weiteren Aufbau der sozialistischen Gesellschaft und für die kommunistische Zukunft. Verlieren wir daher keine Zeit!“
Die Partei war zufrieden und vor allem die Künstler des Verbandes spürten, dass es bergauf ging. Waren sie unter Walter Ulbricht „die am weitesten Zurückgebliebenen“ der Gesellschaft, zählten sie unter Honeckers Regierung und Willi Sittes geschickter Lobbyarbeit bald zu den privilegiertesten Berufsgruppen der DDR. So entwickelte sich in seiner Amtszeit ein staatlicher Kunsthandel, der sogar Werkverkäufe ins Ausland ermöglichte. In seinen vierzehn Jahren als Präsident wuchs der jährliche Etat für den Verband Bildender Künstler von fünf auf neun Millionen DDR-Mark, und das Publikum bei den alle fünf Jahre stattfindenden „Kunstausstellungen der DDR“ verdoppelte sich.
Außerdem wurden die Künstler und Künstlerinnen durch die in der DDR typische Einbeziehung der Kunst in die Produktion und Bildung dauerhaft von Betrieben, Kultur- und Lehreinrichtungen mit Aufträgen versorgt, und einige von ihnen konnten später sogar in den Westen reisen.
Nur gab es bei all diesen sonnigen Aussichten einen Haken: Nicht jeder konnte sich einfach Künstler nennen und schon gar nicht die Kunst betreiben, die er wollte. Denn dafür musste man im Verband Bildender Künstler sein. Dann bekam man eine Steuernummer, durfte Aufträge entgegennehmen und ordnungsgemäß arbeiten.
Wer aber keiner geregelten Arbeit nachging, galt nach DDR-Recht als „asozial“, und wer im Verband sein wollte, hatte sich auch nicht mit Kunst aufzuhalten, die sich zu sehr vom sozialistischen Realismus weg bewegte. Zumindest wurde solche nicht gefördert und auch nicht in Obhut genommen, sobald die Partei mit Rügen oder die Stasi mit Überwachung reagierte. Es war also besser, im Verband zu sein, den Willi Sitte bis 1988, also fast bis zum Ende der DDR, vertrat: „Letztendlich gehörte ich auch mit dazu. Und ich fühlte mich in dem Falle auch mit als Funktionär“, sagte er im Jahr 2001.
Keine Antwort
Zwanzig Jahre später, im November 2021, wird in Halle auf einer Konferenz über Willi Sitte drei Tage lang über diesen Zwiespalt diskutiert. Wo fängt Freiheit an und wo endet sie? „Willi Sitte – eine exemplarische Biografie zwischen Kunst und Macht“, so der Titel der Veranstaltung.
Drei Tage, Dutzende geladene Gäste, Zeitzeugen, Experten, Künstler und Kunsthistoriker, Freunde, aber auch Feinde Willi Sittes sind angereist. Ich erhoffe mir Erklärungen, warum Sitte so beliebt und so verhasst war, dass ihm bis heute das Label „umstrittenster Künstler der DDR“ anhaftet.
Eine Antwort auf meine Frage bekomme ich nicht.
Deshalb kehre ich immer wieder zum Ausgangspunkt meiner Recherche zurück. Zu diesem unbekannten Gemälde vom Dachboden meiner Großmutter. Es trägt den Titel: „Die Heilige Familie“. Willi Sitte hatte es meinem Urgroßvater, seinem Bruder, 1940 zu dessen Hochzeit geschenkt. Es liegt jetzt auf dem Dachboden meiner Eltern. Meine Großmutter hatte sich das gewünscht.
*Gerhard Wolf ist am 7. Februar 2023 im Alter von 94 Jahren gestorben.
Aron Boks ist Stipendiat der taz-Panter-Stiftung. Sein Buch “Nackt in die DDR“ erscheint am 21. Februar im Verlag HarperCollins. Die Buchpremiere findet am 28. Februar im Pfefferberg-Theater in Berlin statt. Weitere Termine auf: https://www.aronboks.de/veranstaltungen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen