Atomstrom in Europa: Verflochten mit Russland

Von Uran bis zu den Brennelementen – die gesamte europäische Atomwirtschaft hängt von Russland ab. Umweltverbände fordern ein Embargo.

Eine Gruppe von Demonstranten steht in eine Reihe und hält Schilder hoch: Kein Geld für Putins Krieg – keine Geschäfte mit Rostatom

Umweltschützer demonstrieren für Uran-Embargo vor der Brennelementefabrik in Lingen Foto: Lars Klemmer/dpa

Erst jüngst berichtete die Anti-Atom-Organisation.ausgestrahlt von angereichertem Uranhexafluorid, das von Russland über einen niederländischen Hafen zur Brennelementefabrik in Lingen gebracht wurde. Die Atomkraftgegner fordern nun ein „umgehendes Atom-Embargo“ gegen Russland.

Auch in der Politik gibt es entsprechende Stimmen. Die Energieexpertin der Grünen im Europäischen Parlament, Jutta Paulus, forderte schon im Mai, die EU müsse „ein schnellstmögliches Embargo für Uranimporte aus Russland beschließen und die eng verflochtene Zusammenarbeit zwischen europäischen und russischen Unternehmen im Nuklearbereich beenden“. Es werde „keine europäische Energiesouveränität geben, solange Atomkraftwerke in Europa am Netz bleiben, die von russischen Ersatzteilen und russischen Brennstäben abhängig sind“.

Doch weder die EU-Kommission noch die Mitgliedstaaten haben das Thema bisher aufgegriffen. Russland spielt für die hiesige Atomkraft eine existenzielle Rolle. Eine aktuelle Studie des österreichischen Umweltbundesamts zeigt: Russland liefert Natururan, Uranprodukte und Brennelemente. Das russische Staatsunternehmen Rosatom beherrsche etwa 15 Prozent der globalen Uranproduktion, weil es neben den Minen in Russland auch 22 Prozent des kasachischen Uranabbaus kontrolliere. Damit sei Rosatom der zweitgrößte Uranproduzent der Welt. Zudem biete Russland „Dienstleistungen im Bereich Bau, Betrieb, Rückbau und Modernisierung von Kernkraftwerken“ an.

Zahlen für die EU publiziert auch die Euratom Supply Agency (ESA). Danach kamen 2020 gut 20 Prozent des in der EU eingesetzten Natururans aus Russland, weitere 19 Prozent aus Kasachstan, das lange zu den engsten Verbündeten Russlands gehörte. Nur zu 0,5 Prozent wurde der europäische Uranbedarf aus heimischen Quellen gedeckt – aus einer zwischenzeitlich stillgelegten Mine in Rumänien. Heute nutzt die EU überhaupt kein eigenes Uran mehr.

In den Händen von Rosatom

Aber Russland liefert nicht nur Uran. Rund 26 Prozent des Urans der EU-Reaktoren wurde von Rosatom angereichert. Die Exporte gingen laut österreichischem Umweltbundesamt unter anderem an Frankreich, Deutschland, Spanien, Belgien, Schweden, Finnland, und Tschechien.

Manche Reaktoren der EU sind russischer Bauart und deshalb besonders von Russland abhängig

Manche Reaktoren in der EU sind von russischer Bauart und deshalb besonders von Russland abhängig. 15 Reaktoren sind vom russischen Typ WWER – in der Slowakei, in Bulgarien, Tschechien, Finnland und Ungarn. Sie benötigen spezielle Brennelemente, die lange grundsätzlich aus Russland kamen.

Inzwischen werden solche Brennelemente zwar auch von der US-Firma Westinghouse produziert. Zusammen mit acht europäischen Partnern erhielt sie von der EU 2015 zwei Millionen Euro an Fördermitteln, um die Brennstoffversorgung für Reaktoren russischer Bauart in der EU zu sichern. Allerdings reichen die Kapazitäten bei weitem nicht aus, um alle europäischen Reaktoren zu versorgen.

Und noch ein weiterer Teil der hiesigen Atomwirtschaft ist längst in russischen Händen: Die Firma Nukem im bayerischen Alzenau – durch Atomskandale in den 80er Jahren bekannt – gehört komplett zum Rosatom-Konzern. Sie ist heute auf den Rückbau kerntechnischer Anlagen spezialisiert sowie auf „Ingenieurdienstleistungen und Consulting“ – das Unternehmen ist in der Branche also vielfach involviert.

Etikettenschwindel ist möglich

Somit kann Europas Atomwirtschaft also ohne Russland kaum agieren. Aber wie sieht es aus, wenn man nur die deutschen Reaktoren betrachtet? Der Kerntechnik Deutschland e. V. hält im Falle einer erneuten Beschaffung von Brennelementen die bisherigen Lieferwege schlicht für „irrelevant“. „Sollte eine politische Entscheidung über einen längeren Weiterbetrieb von Kernkraftwerken getroffen werden, würde bei einer Beschaffung wohl schon aus Gründen der Liefersicherheit auf russische Lieferanten verzichtet werden“, sagt ein Verbandssprecher.

Das Uran könne auch unabhängig von Russland beschafft und verarbeitet werden, versichert der Atomverband. Schließlich gebe es in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und den USA Anreicherungsanlagen. Die Herstellung der Brennelemente könne in Lingen oder bei Westinghouse im schwedischen Västerås erfolgen.

Zwar will auch die Organisation.ausgestrahlt nicht grundsätzlich ausschließen, dass Deutschland Brennelemente ohne russischen Bezug würde auftreiben beziehungsweise herstellen können. Doch angesichts der vielfältigen Verflechtungen in der europäischen Atomwirtschaft sei bei solchem Ansinnen ein Etikettenschwindel möglich – jedenfalls so lange, wie die EU die Atomgeschäfte mit Russland nicht grundsätzlich unter Embargo stellt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.