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Atomkraft in der UkraineKyjiw kauft Reaktoren aus zweiter Hand

Im Chmelnizki soll das größte Atomkraftwerk Europas entstehen – mit zwei Reaktoren aus Bulgarien. Experten warnen vor technischen Herausforderungen.

Pressekonferrez von und mit Wolodymyr Selenskyj auf dem Gelände des Atomkraftwerks Chmelnyzkyj Anfang Februar 2025 Foto: Alex Babenko/ap/dpa

Kiew taz | Im ukrainischen Chmelnizki soll künftig das größte Atomkraftwerk Europas stehen. Ende vergangener Woche kündigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an, dort vier weitere Blöcke am Kernkraftwerk in Betrieb zu nehmen. Chmelnizki liegt etwa auf halber Strecke zwischen Kyjiw und Lwiw. Sollte dieses Vorhaben umgesetzt werden, wäre das Kraftwerk mit insgesamt sechs Reaktoren das größte in Europa.

Bereits am Dienstag genehmigte das ukrainische Parlament den Kauf von zwei Reaktoren sowjetischer Bauart aus Bulgarien für insgesamt 600 Millionen Euro. Selenskyj betonte auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Samstag, dass der Ausbau des Kernkraftwerks nicht nur die Energiesicherheit der Ukraine, sondern der gesamten europäischen Region stärken werde. „Wir bereiten derzeit ein Erweiterungsprojekt für unser Kernkraftwerk Chmelnizki vor, das unter Einbindung amerikanischer Unternehmen, insbesondere der Firma Westinghouse, realisiert wird. Dieses Projekt wird die Energiesicherheit nicht nur der Ukraine, sondern der gesamten europäischen Region erheblich stärken“, erklärte er laut Interfax-Ukraine und Censor.net.

Derzeit sind im AKW Chmelnizki zwei Reaktoren am Netz, der erste seit 1987, der zweite seit 2004. Nach der Katastrophe von Tschernobyl wurde der geplante Bau von zwei weiteren Reaktoren zunächst auf Eis gelegt. Dabei war der Bau von Block 3 zu 80 Prozent fertig, der von Block 4 zu 25 Prozent. Nun will man Block 3 und 4 zu Ende bauen und dabei die beiden bulgarischen Reaktoren einsetzen. Beide Blöcke sind mit WWER-1000-Reaktoren ausgestattet, also Druckwasserreaktoren sowjetischer beziehungsweise russischer Bauart, und haben eine Gesamtkapazität von 2.000 Megawatt.

Doch ihr Einsatz ist umstritten. Es mache keinen Sinn, sie während des Krieges fertigzustellen, zitiert das Portal espreso.tv die ukrainische Atomwissenschaftlerin Olga Koscharna. Auch bei Ecodia, der größten ukrainischen Umweltorganisation, hat man Bedenken gegen die „Second-Hand“-Reaktoren. „Die Reaktoren aus Belene vom Typ WWER-1000/B-466B weichen technisch von den ursprünglich vorgesehenen Parametern der Reaktoren 3 und 4 des Kernkraftwerks Chmelnizki vom Typ WWER-1000/B-320 ab“, sagt Artem Kolesnyk von Ecodia. „Diese Unterschiede erfordern möglicherweise umfassende Modifikationen, um die Reaktoren in die bereits in den 1980er Jahren geplante Infrastruktur zu integrieren“, so Kolesnyk.

Schwieriger Bau in Zeiten des Krieges

Der bulgarische Atomwissenschaftler Gueorgui Kastchiev äußerte im Gespräch mit der taz ebenfalls Bedenken angesichts dieses Deals. Der Physiker arbeitete lange Jahre für bulgarische Atomkraftwerke und -behörden und kennt die Reaktoren gut. Die Konstruktion des AKW Belene, in dem diese beiden Reaktoren hätten eingesetzt werden sollen, unterscheide sich von der Konstruktion der Bauten in Chmelnizki, sagt Kastchiev. Dies bedeute, dass schwierige Anpassungsarbeiten an die aus Bulgarien zu liefernden Reaktoren bevorstünden. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man unter den Bedingungen eines Krieges ein AKW bauen und ans Netz anschließen kann“, so Kastchiev.

Die dabei drohenden Gefahren wurden in der Nacht vor der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich, als eine laut ukrainischen Medien russische Drohne den Sarkophag von Tschernobyl traf. Laut Präsident Selenskyj trug sie 50 Kilogramm Sprengstoff mit sich.

Inzwischen wurden drei Brandherde festgestellt, die dringend gelöscht werden müssen, berichtet das Portal tsn.ua. Laut der Behörde für die Verwaltung der Sperrzone arbeiten zwei Teams aus jeweils vier Personen an der Brandbekämpfung. Ein weiteres Team versucht, Teile der Schutzkonstruktionen zu öffnen, um die Glutnester zu löschen.

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8 Kommentare

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  • Die Atomlobby wird bis zum bitteren Ende kämpfen.



    Dabei können wir uns wichtig machen, indem wir rumposaunen, dass wir das gut oder schlecht finden.

    Nur, solange wir uns gegenseitig anschreien, werden die Lobbyisten ungerührt alternative Expertisen verbreiten.



    "Fakten" schaffen.



    Weiter machen.



    Ungerührt "Tschernobil 2" möglich machen.

    Schamlos behaupten, sie tun das für uns.



    Für dich und für mich.

  • Auf Selensky wurde ja schon alles mögliche projiziert. So wurde er als Verteidiger der westlichen Demokratie gefeiert, obwohl die Demokratie in seinem Land fern von westlichen Standards ist.



    Die Grünen sahen die regenerativen Energien in der Ukraine entstehen.



    Die Realität ist eine Andere. Selensky ist offenbar so grün wie Friedrich Merz, der ebenfalls abgewrackte AKWs reaktivieren will.



    Das ist schon eine interessante Weichenstellung in einem Land, das die Tschernobyl Katastrophe erlebt hat.



    Es kann sein, dass Selensky gerade Präsident eines Landes ist, das völkerrechtswidrig überfallen wurde. Es kann aber auch sein, dass er kein besonders guter Präsident ist.

  • Eine schlechte Idee, geboren vermutlich aus Verzweifelung.



    Nicht nur, das die Reaktoren abenteuerlich sind, die meisten Brennstäbe auf dem europäischen Markt kommen auch aus Russland. Ich kann mich erinnern, das die Ukraine noch vor einem Jahr davon gesprochen hat, in regenerative Energie zu invvestieren. Das war aber kurz nach der Einnahme des Kernkraftwerks S. durch die Russen.

  • Zum Glück ist "Experte" kein geschützter Begriff. Jeder darf sich so nennen bzw. genannt werden.

  • Die bulgarischen Reaktoren sind doch durch 30 Jahre rumstehen nicht besser geworden. Wie kann man nur so abenteuerlich handeln?

  • EU Länder und alle, die es werden wollen, sollten Atomkraftwerke nur mit Einverständnis aller Nachbarländer im Umkreis von 500km errichten dürfen. Für Windräder haben wir Sicherheitsabstände zu Wohngebieten, aber AKW kann jeder bauen, wohin er will. Finde den Fehler.

    • @Karl Schmidt:

      500 km? Das wären dann aber ziemlich lange Leitungen, die benötigt werden würden, damit Deutschland weiterhin Atomstrom importieren kann.



      Sicherheitstechnisch wäre es wahrscheinlich besser gewesen, wenn wir unsere AKW hätten weiterlaufen lassen und jedem Ostblockland, das ein "Schrott-AKW" abschaltet, diese Strommenge dann geschenkt hätten.

      • @Desdur Nahe:

        Wir importieren Strom genau dann, wenn er billiger ist als unseren eigenen Kraftwerke anzuschalten. Ob das auf AKW, die heute neu geplant werden, jemals zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Aus Frankreich, darauf spielen Sie an, beziehen wir gelegentlich sehr kleine Mengen Atomstrom.

        Da sich die Dinger nun mal nicht sinnvoll abregeln lassen, verkaufen ihn uns die Franzosen unter ihren hoch subventionierten Gestehungskosten. Win-Win für alle.

        Die AKW, die heute in der Ukraine stehen, sind eine ständige Gefahr, obwohl sie selten am Netz sind. Dort noch welche dazu zu stellen, ist komplett irre und sollten wir schlichtweg unterbinden.